Читать книгу Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens - Hans-Joachim Höhn - Страница 11

2. Das Unterste zuoberst:
Die wohltuende AnArchie des Evangeliums

Оглавление

So plausibel und attraktiv spirituelle Aufstiegs- und Versenkungsofferten auch sein mögen, gegen eine theologische Kennzeichnung als originär oder entscheidend christlicher Weg der Gotteserkenntnis spricht das Zeugnis des Evangeliums. Es bestreitet, dass in einer vertikalen Verlängerung oder Überbietung des innerweltlich Erhabenen und Eindrucksvollen die Wirklichkeit Gottes erreichbar ist. Es erhebt Einspruch dagegen, dass Macht, Pracht und Herrlichkeit, die in der Welt den Menschen beeindrucken und anziehen, auch gleichnisfähig sind für Größe, Glanz und Hoheit Gottes. Es schlägt die Vorstellung aus, dass das Welt- und Menschenverhältnis Gottes sich nach jenen Kriterien richtet, nach denen üblicherweise in der Welt Respekt und Anerkennung, Wert und Würde verteilt werden. Die dort praktizierte Überbietungslogik, die vom Kleinen zum Großen und von unten nach oben verläuft, macht es sich nicht zu eigen.

– Bereits die „Kontaktaufnahme“ zwischen Gott und Mensch wird im „Magnificat“ (Lk 1,46–55) als Aufhebung dieses Weges beschrieben. In gänzlich anderen Umständen, als es zu erwarten war, realisiert sich dieses Verhältnis zwischen Gott und Mensch und es ist höchst folgenreich für die etablierten Ordnungs- und Herrschaftsverhältnisse, in denen sich der Mensch eingerichtet hat: „Auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut“ (V. 48). – „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und läßt die Reichen leer ausgehen“ (V. 52 f.).26 Durchkreuzt wird die Erwartungs- und Entsprechungslogik, dass auch vor Gott kein Ansehen findet, wer vor der Welt mit leeren Händen dasteht.

– Der Auftakt von Jesu öffentlichem Wirken besteht in der Proklamation seiner Sendung, „damit ich den Armen eine gute Botschaft bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht: damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,18–19). Dass es hierbei um die in jeder Hinsicht Verarmten und Erblindeten, Gedemütigten und Vergewaltigten handelt, kehrt wieder in den Seligpreisungen der Bergpredigt (Lk 6,20–26; Mt 5,3–12). Dieses Leitmotiv der Verkündigung Jesu steht gegen jeden Versuch, seine Botschaft zu spiritualisieren und ihr damit jede soziale Sprengkraft zu nehmen.27 Wer im sozialen Abseits steht und wer den dorthin Abgedrängten beisteht, steht in der Fluchtlinie der Zuwendung Gottes.

– Das Gottesbild Jesu von Nazareth widerstreitet allen Momenten des Macht- und Herrschaftsförmigen. Die Erzählung von der Versuchung Jesu durch den Teufel (Mt 4,1–11) gipfelt in einem Dementi der Vorstellung, dass das Gottsein Gottes in der Verlängerung einer Demonstration menschlicher Größe und Stärke bzw. des Vermögens zur Beherrschung von Mensch und Natur(gesetzen) gedacht werden kann. Der Versucher operiert mit einer Überbietungslogik, die von Jesus nicht überboten, sondern aufgehoben wird. Wer meint, in einer aufsteigenden Linie auf einen mit unüberbietbarer Machtfülle ausgestatteten Potentaten zu treffen, wird ganz oben nichts entdecken, was in Wahrheit verdient „Gott“ genannt zu werden. Von Gottes Gottsein muss vielmehr abseits solcher Macht- und Herrschaftslogik gesprochen werden.28

Das Evangelium greift die Theo-Logik der Vertikale auf und kehrt sie um. Es redet von einer „Transzendenz nach unten“, nicht von einer „Transzendenz nach innen“. Jesus von Nazareth interessiert sich nicht für etwas Unzerstörbares, das im Innersten des Menschen entdeckt werden kann. Die Verkürzung des Abstandes zwischen dem faktischen Ich und dem wahren Selbst eines Individuums steht nicht auf seinem Programm. Er verlangt auch nicht die Überwindung des Zeitlichen als Bedingung für den Kontakt mit dem Ewigen. Es geht ihm um eine andere Praxis und um eine andere Sphäre, in der man sich buchstäblich „einhandeln“ kann, worauf im Leben und Sterben Verlass ist. Diese Praxis demonstriert er selbst. Es ist die Praxis unbedingter Zuwendung zum Menschen und ihr Ort ist die Sphäre der Interpersonalität. Hier lässt sich Gottes Weltverhältnis in die Lebensverhältnisse des Mitmenschen übersetzen. Jesu Praxis steht quer zu religiösen Suchbewegungen, die das Göttliche, Unbedingte und Unüberbietbare nicht in der Sphäre der Interpersonalität, sondern über deren Relativierung durch ein metaphysisch Transzendentes oder mystisch All-Eines finden wollen.29 Christliche Glaubenspraxis steht daher unter der Prämisse, dass keine größere Offenheit des Menschen für Gott außerhalb seiner Offenheit für seine Mitmenschen entdeckt werden kann.

Das Evangelium Jesu überführt die Logik der Über- und Unterordnung in eine wohltuende „AnArchie“. Es setzt das Unterste zuoberst. Kein Aufstieg zum Göttlichen ist der Heilsweg des Evangeliums. Für eine Legitimation menschlicher Ordnung, die nach dem Muster der Unterordnung und Fremdbestimmung funktioniert, ist es nicht zu gebrauchen. In seinem Zentrum steht die Rede von einem „heruntergekommenen Gott“ (vgl. Phil 2,6–8).30 Das Gottesverhältnis des Menschen muss fortan Maß nehmen am Menschenverhältnis Gottes, d. h. an seiner Zuwendung zu denen, die „ganz unten“ sind. In Jesus von Nazareth ist diese Bewegung Gestalt geworden. In ihm begegnen Gott und Mensch einander als ihresgleichen. Es gibt fortan kein wahres Gottesverhältnis neben oder außerhalb oder getrennt von einem Menschenverhältnis im Modus der Zuwendung zu den „Geringsten“. Als genuin und originär christlicher Heilsweg kommt nur die Nachfolge Jesu im Format dieser Praxis in Betracht. In dieser Nachfolge haben Christen Anteil am Menschen- und Gottesverhältnis Jesu.

Eben davon handelt die „Endgerichtsrede“ Jesu im Matthäus-Evangelium (Mt 25,31–46): „Ich war hungrig, und ihr gabt mir zu essen; ich war fremd und obdachlos, und ihr nahmt mich auf; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.“ Allerdings ereignet sich in diesen Umständen ein Gottesverhältnis im Menschenverhältnis nur „inkognito“. Denn es ist unter diesen Umständen weder zu erkennen noch zu erwarten, mit wem man es zu tun bekommt, wenn man den Asylanten, Wohnsitzlosen und ihrer Freiheit beraubten Nächsten beisteht. Erst im Nachhinein geschieht eine Aufklärung: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Diese späte Offenbarung hat ihren guten Grund. Es soll verhindert werden, dass die Frommen ihren Nächsten nur um Gottes willen beistehen. Es ist aber Gottes Wille, ihnen um ihrer selbst willen beizustehen. Darum ist es gut, den Geringsten es nicht anzusehen, dass man es mit Gott zu tun bekommt, wenn man sich ihnen zuwendet. Und eben darum sind die Frommen zwischenzeitlich so ungläubig verwundert: „Wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben?“

In den Geringsten begegnen Christen dem Größten. Dies widerstreitet einer Logik, die nur das Große als gleichnisfähig für den Größten erachtet, die Großen der Welt über alles achtet und das von ihnen für großartig Gehaltene ebenfalls über alles setzt. Die von Gott mit dem Evangelium praktizierte Bestreitung dieser Logik ist in den Augen der Großen dieser Welt eher eine Torheit und ein Ärgernis (vgl. 1 Kor 1,23). „Das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen“ (1 Kor 1,27). Eine solche „göttliche Torheit“ praktiziert eine andere Weisheit als „menschliche Klugheit“ (1 Kor 1,25). Gott ist nicht dort zu finden, wo er vermeintlich als Gott hingehört – nämlich „ganz oben“. Mit Gott lassen sich nicht mehr gängige religiöse und soziale Unterscheidungen von „oben“ und „unten“ rechtfertigen. Und wer vom Gott Jesu her ein Verständnis dessen gewinnen will, was des Menschen höchstes Gut sein kann, muss umlernen: Hier wird das Oberste zuunterst gekehrt. Die Armseligkeit der Erniedrigten und gering Geschätzten ist es nun, die zur Gleichnisgestalt für die Logik der größtmöglichen und unüberbietbaren Zuwendung Gottes zum Menschen wird. Wer in der eigenen Stärke, im eigenen Reichtum, in der eigenen Klugheit dasjenige wähnt, das dem Leben Wert, Bestand und Sinn gibt, übersieht bei solchen Größen, dass auf sie nur sehr begrenzt Verlass ist. Der Sinn, den sie stiften, überlebt den Besitzer von Macht, Reichtum und Klugheit nicht. Auf ihn kann man sich nicht im Leben und Sterben verlassen. Dagegen steht, dass gerade am macht- und mittellosen Menschen als Adressaten einer unbedingten Bejahung Gottes jene Wirklichkeit offenbar wird, gegen die auch der Tod letztlich nicht ankommt.

Sucht man vor diesem Hintergrund nach einem Ansatz für die Rede von einer spezifischen „via christiana“, die ein Mensch einschlagen kann, um in seinen Lebensverhältnissen ein Gottesverhältnis zu entdecken, so muss die erste Einsicht lauten: Wer Gott sucht, muss dies auf dem Wege versuchen, auf dem Gott den Menschen aufsucht. Der vermeintliche Aufstieg des Menschen zu Gott verläuft zunächst seitwärts und abwärts. In den geringsten seiner Brüder und Schwestern, in den Erniedrigten begegnet er dem „Allerhöchsten“. Mit dieser Einsicht ist erneut die wohltuende AnArchie des Evangeliums verbunden: Es gibt keine Unterschiede zwischen Menschen, die vor Gott nicht durch eine je größere Gleichheit und Gemeinsamkeit übertroffen werden. Jeder Mensch ist ausnahmslos Adressat einer unüberbietbaren und ungeteilten Zuwendung Gottes. Und eben dies gilt es in allen Formen christlicher Glaubenspraxis zu bezeugen.31

An diese Praxis bleibt auch jede Glaubensreflexion rückgebunden. Es ist eine Praxis, die auch deswegen das Denken herausfordert, weil sie angesichts anderer religiöser Erkenntniswege mit dem Anspruch der Klarstellung auftritt und für klare Verhältnisse sorgen will. Sie vollzieht bereits selbst eine Aktion religiöser Aufklärung. Sie macht klar, wo und wie man mit Gott zu tun bekommt. Von diesem spezifischen Theorie / Praxis-Verhältnis wird die christliche Theologie grundlegend bestimmt. Sie hat sich derart für den Glauben einzusetzen, dass nicht bloß die Reflexion aufklärend wirkt. Was der Glaube klarstellt, muss als etwas gedacht werden, das praktiziert werden will. Allein dies entspricht der Verfassung des Glaubens: Glaube ist Praxis dessen, das wirklich wahr ist, und nicht das Für-wahr-Halten von Dingen, über deren Wirklichkeit man wenig weiß. Die Wahrheit, um die es im Christentum geht, ist die Wirklichkeit der Zuwendung Gottes, die den Menschen zum Adressaten einer unbedingten Anerkennung und Wertschätzung macht.

Das Evangelium von Gottes Verhältnis zum Menschen als Verhältnis unbedingter Zuwendung gibt zu tun und nicht bloß zu denken. Denn die Wahrnehmbarkeit dieses Verhältnisses bedarf der Übersetzung in Entsprechungsverhältnisse zwischenmenschlicher Zuwendung. Und glaubwürdig ist nur das Zeugnis der Entsprechung einer Zuwendung zu Gott und zum Menschen: die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe.32

Diese Prämissen sind heute keineswegs unstrittig. Denn sie lösen immer wieder Relativierungsversuche aus. Diese orientieren sich an vermeintlich christlichen Mystikkonzepten, welche die weltabgewandte Kontemplation, die „stille Anbetung“ und das Schweigen nicht als kritisches Regulativ, sondern als Hochform des Christseins proklamieren. Wenn allerdings die Grundbegriffe des Christentums allesamt „praktische“ Begriffe, d. h. nicht Substantive, sondern Tätigkeitsworte („Tut dies zu meinem Gedächtnis …!“) sind, dann wird ihr eine Mystik der privaten Selbstversenkung oder des individuellen Selbstüberstiegs (als Ausstieg aus der Alltagswelt) nicht gerecht. Zu Gott kommt man nach christlicher Überzeugung, wenn man sich mit Gott den Geschöpfen Gottes zuwendet. Diese Praxis verwirklicht eine „Mystik der offenen Augen“ (J. B. Metz), die sich nicht abwendet von den Nöten der Zeit, nicht die spirituelle Selbstbefriedigung sucht, sondern sich den Notleidenden solidarisch zuwendet.33 Aber es wäre keine genuin religiöse Praxis, wenn sie nicht auch kritische Nachfragen auslösen würde.

Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens

Подняться наверх