Читать книгу Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens - Hans-Joachim Höhn - Страница 16
2. Wort Gottes – maßgeblicher Maßstab:
Schöpfung und Offenbarung als Sprachereignis
ОглавлениеWenn Gottes Wille zur Gemeinschaft mit dem Menschen tatsächlich voraussetzungslos und bedingungslos ist, wenn er am Menschen nicht Maß nimmt, sondern unbedingt ist, dann kann er am Endlichen, Bedingten und Weltimmanenten nicht einfach abgelesen werden, sondern muss im Endlichen, Bedingten und Weltimmanenten derart offenbar werden, dass er dem Menschen zugesagt wird. Im Endlichen und Bedingten spricht nichts für ein Moment an Unbedingtheit, das ihm zukommen könnte. Wofür Endliches und Bedingtes selbst nicht sprechen kann, was aber für es zutreffen soll, wird ihm nur zugänglich, wenn es ihm von einer unbedingten Wirklichkeit zugesprochen werden kann. Dabei muss es sich um eine Zusage handeln, die realisiert, was sie besagt, denn anders kommt das innerweltlich Unableitbare nicht „zur“ Welt. Was die Offenbarung von Gottes Verhältnis zum Menschen inhaltlich und formal ausmacht, wird nur im Modus der Offenlegung eines unbedingten Zugewandtseins wahrnehmbar. Diese Offenlegung geschieht in der Weise eines Zuspruchs, der für das Zugesprochene zugleich die Augen öffnet: Der Mensch darf sich verstehen als Adressat einer Zuwendung Gottes, auf die er sich im Leben und Sterben verlassen kann.
Wenn Offenbarung als Geschehen der Übersetzung von Gottes Selbst- und Weltverhältnis in innerweltliche Entsprechungsverhältnisse gedacht werden kann, dann markiert die Kategorie „Übersetzung“ in methodischer Hinsicht die Schnittstelle zwischen einer relational-ontologischen Redeweise von der Wirklichkeit Gottes und der Welt auf der einen Seite sowie einer Auslegung des Gott / Welt-Verhältnisses bzw. seiner geschichtlichen Vergegenwärtigung als „Sprachereignis“ auf der anderen Seite. Dass zwischen beiden Paradigmen wiederum ein Entsprechungsverhältnis besteht, macht die Korrelation der relational-ontologischen Kategorie „Zuwendung“ und der Metapher „Zusage“ deutlich.
Konkretisieren lässt sich diese Entsprechung in Rekurs und in Fortschreibung einer „Theologie des Wortes Gottes“, auf die auch in der Vergangenheit im Kontext einer theologischen Erkenntnis- und Prinzipienlehre immer wieder Bezug genommen wurde.51 Eine theologische Beschreibung von Ereignissen, in denen ein „Wort Gottes“ ergeht, und eine theologische Ermittlung, inwieweit dieses Wort als Gotteswort ergeht, setzt jedoch viel zu spät ein, wenn sie nach Zeugnissen eines „Sprechens“ Gottes in der Geschichte oder nach seinem Widerhall im Menschenwort sucht. Weder der Einsatz bei einem geoffenbarten „Gesetz“ Gottes noch beim Auftreten von Propheten als den Kündern seiner Weisungen an das Volk Gottes und auch nicht die Sammlung von Jesusworten über das „Reich Gottes“ bieten einen angemessenen Ausgangspunkt. Vielmehr ist dort zu beginnen, worauf alle diese Einstiege zurückverweisen: Bereits die Erschaffung der Welt ist Ereignis von Gottes Wort bzw. ein von Gottes Geist inspiriertes Wortgeschehen.
Die priesterschriftliche Schöpfungserzählung Gen 1,1–2,4a erinnert mit Nachdruck daran, dass alles, was ist, als „creatura verbi“ anzusehen ist. Nach Gen 1,1–2,4a ist die einzige Wirkursache des Daseins das Wort Gottes, welche eine unförmige, nichtige und lebensfeindliche Wirrnis in einen Lebensraum überführt, der sich durch lebensermöglichende, wohltuende Unterschiede auszeichnet.52 Gen 1,1–2,4a zeigt einen Gott, dessen Geist über den Wassern schwebt (Gen 1,2) und dessen Wort ein Chaos zu einem Kosmos, d. h. zu einem wohlgeordneten Ganzen macht, das daseins-, identitäts- und bedeutungsermöglichende Unterschiede aufweist. „In der Kraft des Lebensatems Gottes, in dem das schöpferische Wort Gottes über die Welt ertönt und den Gott seiner Welt einhaucht, entsteht aus dem Chaos der wohlgeordnete Kosmos der Schöpfung.“53 Durch Gottes Geist und Wort wird ein Unterschied von Sein und Nichts zugunsten des Seienden konstituiert, der wiederum weitere wohltuende Unterscheidungen ermöglicht. Schöpfung ist Überwindung chaotischer, nichtiger Unbestimmtheit und Ungeschiedenheit. Das „Tohuwabohu“ vermag von sich aus diesem heillosen Durcheinander keine Umrisse zu geben, durch die es zu etwas wird, das als etwas da ist. Übersetzt man diesen Sachverhalt in die Sprache der Ontologie, so ergibt sich: Das diffuse Chaos enthält alles der Möglichkeit nach. Darin liegt seine ungeheure Mächtigkeit, seine Potenz – aber auch seine bloße Potentialität, d. h., in ihm ist alles bloß möglich, aber nichts wirklich. Etwas zum Dasein bringen heißt aber, es aus der Möglichkeit ins Wirkliche überführen. Dasein besteht darin, das Mögliche auf das Wirkliche hin zu überschreiten. Zu einer solchen Selbstüberschreitung ist aber im Chaos nichts von sich aus fähig. Und auch das Chaos selbst kann nicht von sich aus den Unterschied vom Möglichen zum Wirklichen überschreiten. Daher kommt ihm auch nicht die Funktion eines Seinsprinzips zu.54
Hingegen wird in Gen 1–2,4a Gott als derjenige bestimmt, der den Unterschied zwischen dem Bestimmten und dem Unbestimmten konstituiert. Allein Gott ist es, der von dem Unförmigen, Formlosen und Lebensfeindlichen dasjenige unterscheidet, das durch diese Unterscheidung Gestalt und Form annimmt und dergestalt am Leben ist. Ohne Gottes Wort gäbe es nicht den Unterschied von Sein und Nichts, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit.
Wenn solchermaßen geschöpfliches Dasein nicht als Resultat eines Machens oder Herstellens, nicht als Resultat eines In-Form-Bringens einer göttlichen Urmaterie oder eines evolutiven Gestaltwerdens kraft einer Emanation des Seins verstanden wird, sondern als „Schöpfung durch das Wort“ bestimmt wird, dann ist die „Verfassung“ der Welt in der Dimension der Sprachlichkeit zu sehen.
Der Prolog des Johannesevangeliums verknüpft diese Sichtweise mit einer Logos-Theologie (Joh 1,1–18). Dabei dient die Kategorie „Logos“ zunächst dazu, das Selbstverhältnis Gottes zu bestimmen („Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott“). Mit ihr lässt sich ebenso das Gottesverhältnis der Welt und das Weltverhältnis Gottes kennzeichnen.55 Aus theologischer Sicht hat das Geschaffensein der Welt die Eigentümlichkeit eines „Sprachereignisses“: „Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist“ (Joh 1,3). Wenn alles, was es gibt, durch das Wort Gottes hervorgerufen ist, dann existiert es „im Wort“. Aber auch Gott ist bei seiner Schöpfung „im Wort“. Sie ist durch das Wort geschaffen – Ergebnis seines Zuspruchs von Dasein, Identität und Freiheit. Hierbei handelt es sich um ein Wort, das, indem es ergeht, jene Wirklichkeit vergegenwärtigt, auf die sich das Wort bezieht. Unter dieser Rücksicht ist es kennzeichnend für das „Wort Gottes“, dass es performativ und nicht bloß signifikativ bedeutsam ist: Es bezeichnet nicht einen Sachverhalt, der unabhängig vom Akt der Bezeichnung besteht. Vielmehr wird dieser Sachverhalt hervorgebracht, indem das ihm geltende Wort ergeht.56
Auf dieses schöpferische Wort Gottes sind alle Ereignisse in Welt und Geschichte zu beziehen, wenn von ihnen behauptet wird, dass darin Gott zur Sprache kommt. Diesen Anspruch können sie nur erheben und einlösen, wenn sie verstehbar sind als Übersetzung von Gottes Schöpferwort in die Lebensverhältnisse des Menschen. Dass der Mensch ein solches Wort aufnehmen und weitersagen kann, ist in seiner Geschöpflichkeit begründet. Das „Im-Wort(Gottes)-Sein“ macht die Verfassung seines Daseins aus und präzisiert, was unter der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen zu verstehen ist: In seiner Sprachlichkeit findet sich auf Seiten des Menschen eine Entsprechung zu jener Hinsicht, wodurch sich Gott als Gott erweist und was sein Weltverhältnis konstituiert. Das „Ebenbild“ Gottes ist der Mensch, wenn er in seinen Lebensverhältnissen Gottes unbedingtes Ja zum Menschen mitspricht, umsetzt und übersetzt. Der Mensch ist das Wesen, das im Hören-Sagen des Wortes Gottes existiert, d. h., er vermag dem Dasein und Freiheit zusprechenden Wort Gottes in seiner eigenen Existenz zu antworten. Ein Mensch kann Gott und seinem Wort „entsprechen“, wenn er derart im Modus des Hören-Sagens existiert, dass er sein Menschsein selbst im Modus des Freispruchs und Zuspruchs, des Setzens wohltuender Unterschiede verwirklicht und auf diese Weise „fruchtbar“ (vgl. Gen 1,28) werden lässt.57 Wenn für das Wort Gottes gilt, dass es daseins-, identitäts- und freiheitskonstitutiv ist, dann muss dementsprechend für jede Berufung auf ein solches Wort ihrerseits gelten:
Ob eine von Menschen verkündete Botschaft als „Wort Gottes“ ergehen kann, bemisst sich danach, inwieweit sich diese Botschaft so verstehen lässt, dass sie realisiert, wovon sie spricht, d. h., in dieser Botschaft darf nicht bloß „von“ oder „über“ Gott gesprochen werden. Vielmehr muss in ihrer Verkündigung das Schöpfungsversprechen Gottes Realität werden: das Ja-Wort unbedingter Anerkennung von Existenz, Identität und Freiheit.
Auf dieser Basis lässt sich nun auch ein angemessenes Verständnis der Rede von der Selbstvergegenwärtigung Gottes in der „Inkarnation“ des Wortes Gottes gewinnen. Bereits im Schöpferwort spricht sich Gott aus, d. h., sein Schöpferwort legt aus und übersetzt, wie Gott auch „für sich“ ist: unbedingte Zuwendung. Jede weitere Rede von einem „Wort Gottes“ in der Geschichte wird darum nichts anderes meinen können als eine Auslegung und Übersetzung dieses Wortes in die Lebensverhältnisse des Menschen. Wenn das Christentum auf eine „Inkarnation“ des Wortes Gottes verweist und dies mit Person und Schicksal Jesu von Nazareth in Beziehung setzt, dann ist damit zunächst gemeint, dass Jesus dem Selbst- und Menschenverhältnis Gottes in der Sprachform seiner Existenz entspricht. Auch er existiert im Hören-Sagen des Wortes Gottes, dessen Vollzug seinen Inhalt realisiert: voraussetzungslose Zuwendung. In und mit seinem Dasein wird das Schöpferwort Gottes interpersonal formatiert im Modus der Zusage von Freiheit und Identität – im Setzen wohltuender Unterschiede zwischen Leben und Tod, im Freisprechen des Menschen von Schuld und Versagen. Was die Besonderheit Jesu ausmacht, ist der Umstand, dass er das Wort Gottes „in Person“ ist.58 Eben dies zeichnet ihn als Gott entsprechenden Menschen in besonderer Weise aus, dass durch ihn offenbar wurde, wie jeder Mensch Gott entsprechen kann.
Dass im Schöpferwort Gottes „Geist und Leben“ (Gen 6,17; 7,15) sind, gilt auch für die Übersetzung dieses Schöpferwortes im Leben und Handeln Jesu. Er redet nicht über Gottes Geist und Wort, sondern handelt in diesem Geist und bringt durch sein Tun das Weltverhältnis Gottes neu zur Sprache. Unter diesem doppelten Vorzeichen steht bereits der Beginn seines Lebens. Der Geist Gottes, der über den Wassern der „Urflut“ schwebte, „überschattet“ die Mutter Jesu (Lk 1,35), er „ruht“ auf Jesus (vgl. Lk 4,18).59
Das Leben und Wirken Jesu vor diesem Hintergrund ein vom Geist Gottes bewirktes „Sprachereignis“ zu nennen, bedeutet mehr, als darin bloß die Ankündigung einer Zusage Gottes zu sehen. Vielmehr sind sein Leben und Sterben zugleich Realisierung des Zugesagten. Für das Christentum liegt das Besondere der Existenz Jesu darin, dass sein Leben darin aufging, die (inter)personale Vergegenwärtigung und Einlösung der Zusage Gottes zu sein, dass er dem Menschen in guten wie in schlechten Tagen voraussetzungs- und bedingungslos zugewandt ist und ihn nicht dem Tod überlässt. Nur im Kontext des Zwischen- und Mitmenschlichen kann sich unverkürzt ereignen, was „unbedingte Zuwendung“ meint, wie auch nur die personale Zuwendung zum Menschen die originäre Erschließung von Gottes Zusage leisten kann.60 Hier besteht eine Koinzidenz des Vollzuges einer Zusage und der Realität des Zugesagten. Der zentrale Maßstab, an dem eine christlich-theologische Epistemologie Maß nehmen muss, um weitere Maßstäbe des Redens über Grund und Bedeutung des christlichen Glaubens zu entwickeln, ist diese Koinzidenz. Ihre geschichtliche Realität ist unablösbar verbunden mit der Person Jesu von Nazareth.
Allerdings ist mit dieser Festlegung ein beträchtliches Folgeproblem verknüpft: Wie kann man den Anspruch heute einlösen, dass mit dem Leben und Sterben Jesu von Nazareth das Ereignis der Offenbarung von Gottes Zuwendung zum Menschen in der Geschichte verbunden ist? Wie kann man aufzeigen, dass dieses Ereignis geschichtlich unüberholbar ist?
Die erste Teilfrage ist nicht mit einer historischen Retrospektive beantwortbar. Denn selbst wenn es gelingen sollte, auf historisch-kritischem Weg die Besonderheit Jesu z. B. an seinen Wundern festzumachen, ihm übermenschliche Fähigkeiten zu attestieren oder ihm ein göttliches Sendungsbewusstsein nachzuweisen, was seinen Zeitgenossen Grund genug gewesen sein mag, ihn als Mittler einer Offenbarung Gottes zu erkennen, wäre damit wenig gewonnen. Gründe, die nur den Zeitgenossen Jesu zugänglich und verifizierbar waren, um eine solche Annahme zu stützen, können nicht hinreichend sein, um heute zu demselben Schluss zu kommen. Mit der Berufung auf eine heute nicht mehr zugängliche Erfahrung der Zeitgenossen Jesu, die ihn als „Wort Gottes in Person“ legitimierte, lässt sich auch die zweite Teilfrage nicht beantworten. Dies gilt erst recht, wenn für die Selbstvergegenwärtigung Gottes in Jesus von Nazareth materiale und formale Unüberbietbarkeit behauptet wird. Formal unüberbietbar soll dieses Geschehen sein, weil anders oder besser als im Format unbedingter Zuwendung das Menschenverhältnis Gottes nicht offenbar werden kann. Material unüberbietbar soll es sein, weil dem Menschen von Gott nicht mehr zuteilwerden kann als eine Zuwendung, die ihn im Leben und im Sterben trägt.
Mit dieser doppelten Problemanzeige rückt die Kernfrage einer Topologie des christlichen Glaubens ins Blickfeld: Wie ist es möglich, einem Ereignis der Vergangenheit zu einer Realpräsenz in der Gegenwart zu verhelfen, so dass es heute (und auch in Zukunft) bei jenen ankommt, die nicht zu den ursprünglichen Augen- und Ohrenzeugen der Verkündigung Jesu zählen? An der Lösbarkeit dieser Frage hängt die Möglichkeit, über die Zeit hinweg die Antreffbarkeit und Authentizität einer als „Wort Gottes“ behaupteten Botschaft wahren zu können. Aber bereits als Problemanzeige ist diese Frage von erheblicher kriteriologischer Bedeutung:
Damit eine Botschaft als „Wort Gottes“ verstanden werden kann, muss sie von sich aus die Möglichkeit einer „zeitversetzten Gleichzeitigkeit“ mit dem geschichtlichen Ereignis der Offenbarung dieses Wortes Gottes eröffnen.