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Maß und Ziel theologischer Reflexion
ОглавлениеWas die Theologie inhaltlich zu leisten hat, bestimmt auch Format und Status, Maß und Ziel ihrer Reflexionen: Ihr Gegenstand ist die Rede von der in Jesus Christus Gestalt und Ereignis gewordenen Übersetzung von Gottes Selbstverhältnis unbedingter Zuwendung in zwischenmenschliche Entsprechungsverhältnisse. Als „Übersetzungswissenschaft“ sieht sich die Theologie somit vor die Aufgabe gestellt, Kriterien und Verfahren zu entwickeln, wie das zu Übersetzende prägnant erfasst und authentisch vergegenwärtigt werden kann. Ihre Kernfrage lautet: Was ist maßgeblich für eine angemessene Vergegenwärtigung von Inhalt und Geltungsanspruch des christlichen Glaubens?
Traditionell erfolgt die Bewältigung dieser Aufgabe mit dem Rückgriff auf eine „Topologie des Glaubens“, die es übernimmt, Orte der Antreffbarkeit40 des christlichen Kerygmas auszumachen und Kriterien authentischer Aussagen über den geschichtlichen Grund, den Geltungsanspruch und die existenzielle Verlässlichkeit dieses Kerygmas zu identifizieren. Dabei verweist sie auf die drei Größen „Schrift – Tradition – Lehramt“ als den primären Bezeugungsinstanzen der christlichen Verkündigung.41
Bemerkenswert an diesem Vorgehen ist der Umstand, dass hierbei die spezifischen Umstände und Formate der Glaubenspraxis, vor allem das diakonische Handeln der Christen und ihre liturgische Praxis,42 völlig übergangen werden. Offenkundig steht dahinter die Vorstellung, dass die Glaubenspraxis dem Glaubenswissen untergeordnet ist und lediglich dessen Anwendung oder Umsetzung darstellt. Den Größen „Schrift – Tradition – Lehramt“ wird eine theologische Dignität zugesprochen, die weitgehend unabhängig von der Praxis des Glaubens besteht. Dass für diese Dignität die Koinzidenz von Vollzug und Gehalt des christlichen Kerygmas mitkonstitutiv ist, kommt nicht in den Blick. Ebenso wenig wird bedacht, dass die Gehalte des christlichen Glaubens nur dort unverkürzt antreffbar sind, wo sie zugleich praktiziert werden.
Aber auch abgesehen von diesem Manko stellen sich bei der traditionellen Betonung der Trias „Schrift – Tradition – Lehramt“ umgehend Folgeprobleme von erheblicher Tragweite ein. Zum einen droht ein logisch-formaler Kurzschluss, wenn aus der Eigenschaft, de facto Ort der Antreffbarkeit des Kerygmas zu sein, bereits eine besondere Autorität und Normativität dieser Orte abgeleitet wird. Zum anderen wirkt es sich problemverstärkend aus, wenn diese drei Größen nicht bloß formal als Übersetzer des christlichen Kerygmas fungieren, sondern selbst material Übersetzungen vornehmen bzw. darstellen, die im Laufe der Zeit ihrerseits übersetzungsbedürftig werden. Woran lassen sich Authentizität, Normativität und Autorität dieser Übersetzungsleistungen messen? Und schließlich ist ein positivistisches Missverständnis kaum zu vermeiden, wenn den Größen Schrift, Tradition und Lehramt eine Autorität in Glaubensfragen zugeschrieben wird, ohne dass zureichend klar ist, in welchem Bedingungsverhältnis sie zueinander stehen.
Traditionell hat man diesen Verlegenheiten dadurch entkommen wollen, dass man auf Beweismittel verwies, die unabhängig von den Inhalten des Glaubens die Autorität der Quellen des Glaubens und der Instanzen seiner Vermittlung belegen sollten: Was als Offenbarungsereignis in Frage kam, sollte durch äußere, wundersame Begleitumstände (z. B. Durchbrechung von Naturgesetzen und Erfüllung von Prophezeiungen) ausgewiesen werden. Und ebenso sollte die Autorität bestimmter Größen bei der Bezeugung und Weitergabe authentischer Offenbarungsinhalte durch gleichfalls „übernatürliche“ Einflüsse und Umstände legitimiert werden (z. B. Verbalinspiration der Hl. Schrift oder die Ausstattung der Inhaber des kirchlichen Lehramtes mit einem spezifischen Beistand des Hl. Geistes, der sie vor Fehlentscheidungen bewahrt).43
Eine historisch-kritisch arbeitende Exegese und Dogmengeschichte hat dieses Vorgehen weitgehend als obsolet erwiesen. Die Versuche seiner Wiederbelebung sind müßig. Aber dies legitimiert nicht den Abbruch der Suche nach möglichen Alternativen. Im Folgenden geht es um die Erörterung des Verhältnisses von Schrift, Tradition und Lehramt, das ohne prekäre „supranaturalistische“ Hilfskonstruktionen auskommt. Auf welcher Basis den Größen „Schrift – Tradition – Lehramt“ Autorität zukommt und unter welchen Voraussetzungen ihr Zusammenspiel für eine zeit- und sachgemäße Übersetzung des Zeugnisses von Jesu Gottes- und Menschenverhältnis in jeweils neue Entsprechungsverhältnisse relevant ist, soll stattdessen auf einem anderen Weg gezeigt werden. Dabei kommt es entscheidend darauf an, die Korrelation zwischen den Inhalten des christlichen Glaubens und den Strukturen seiner Vermittlung zu beachten.
Bei der Besinnung auf die normative Bedeutung von Schrift, Tradition und Lehramt ist in diesem Kontext zu beachten: Formalen Strukturen der Bezeugung des Glaubens kann nicht unabhängig von den materialen Inhalten des Glaubens eine normative Funktion zugesprochen werden.44 Die Strukturen der Erschließung und die Normen der Weitergabe des christlichen Glaubens müssen in Korrespondenz stehen zu den Inhalten des Glaubens. Erst dann kann – wiederum in Entsprechung zu dieser Relation – gezeigt werden, inwiefern es dem Inhalt des christlichen Glaubens entspricht, dass die Begegnung mit ihm durch Schrift, Tradition und Dogma (bzw. Lehramt) normiert werden kann. Vor allem aber ist zunächst die Basis zu rekonstruieren, auf der überhaupt erst eine solche Reflexion stattfinden kann.