Читать книгу Mit Feuer und Schwert - Hans-Joachim Löwer - Страница 7
„Fühlt ihr euch hier eigentlich wohl?“
ОглавлениеWie das letzte Armenierdorf mit seiner Geschichte umgeht
Bin ich im Garten Eden angekommen? Rote Rosen, die Toreingänge überwölben. Gelbe Ginstersträucher, die in der Sonne leuchten. Orangen- und Zitronenbäume zu beiden Seiten der Straße, die Früchte greifbar nahe und verführerisch durch das Blattwerk schimmernd. Hinter Geflechten aus Ästen und Zweigen verstecken sich schmucke Landhäuser und stille Villen – Residenzen des Rückzugs aus der lärmenden Welt. Ausflügler, die in Vakıflı landen, stoßen Rufe des Entzückens aus. Sie spähen durch die blühenden Büsche, um noch ein Stück mehr von diesem Paradies zu erhaschen. Zücken ihre Kameras, um ein paar Bilder mit nach Hause zu nehmen. Ziehen eine Schleife durch das verwunschene Dorf und spüren, dass hier irgendetwas anders ist. Vakıflı liegt an einem Hügel, 27 Kilometer südlich von Antakya, neun Kilometer vor der Mittelmeerküste. Wer hierherkommt, nimmt eine kleine Auszeit vom Leben. Ein Aquädukt, das die Gärten versorgt, zieht sich einen Steilhang entlang. Direkt an der Straße plätschern die Fluten über eine zehnstufige Treppe nach unten, ein Wasserfall als rauschender Höhepunkt des Dorfrundgangs.
An diesem Tag steigen nacheinander drei Brautpaare aus dekorierten Limousinen, um vor dieser Kaskade für Hochzeitsbilder zu posieren. Die angeheuerten Fotografen fangen die Frischvermählten in romantischen Posen ein: die Frau, von hinten zart an seine Schultern geschmiegt, der Mann, das Haupt ihr zugeneigt, dann beide lächelnd einander zugewandt, wie sie einen Blumenstrauß umfassen – Symbol des neuen, gemeinsamen Glücks. Ein Teehaus ist das Zentrum des Ortes. Hier stoppt alle zwei Stunden ein dolmuş, das türkische Sammeltaxi, das Vakıflı mit dem fünf Kilometer entfernten Städtchen Samandağ verbindet. Touristen parken ihre Autos vor der Terrasse, ehe sie ihren Bummel beginnen. Unter schattigen Bäumen sitzen alte Männer auf Plastikstühlen und verbringen den Tag mit tabla und sadranç, beliebten Brettspielen des Orients, die sie geradezu süchtig machen.
Dieses Dorf, so scheint es, ist eine pittoreske Sommerfrische, den Sorgen des Lebenskampfes enthoben. Es gibt auch keine Infotafel, die darüber aufklärt, welches Drama hier vor hundert Jahren ablief. Kein Monument, kein Museum, nichts. Es ist, als habe die laue Brise, die häufig über den Hang weht, das historische Drama in alle Winde verstreut. Oft wundern sich türkische Gäste, dass die Bewohner von Vakıflı untereinander nicht Türkisch sprechen. Es gibt hier auch keine Moschee, nur ein kleines, sorgsam gepflegtes Gotteshaus mit einem Kreuz auf dem Glockenturm. Die Grabsteine auf dem Friedhof gegenüber haben Inschriften in lateinischen, aber auch ganz andersartigen Buchstaben. Vakıflı ist ein armenisches Dorf – das einzige, das es in der Türkei noch gibt.
Es ist Sonntagmorgen und aus der Kirche dringen uralte Choräle hinaus in die Obstplantagen. Pater Avedis Tabașian kommt alle zwei Wochen aus Iskenderun, um hier eine Messe nach armenisch-apostolischem Ritus zu feiern. Pater Housig Hergelian aus Istanbul, der im Dorf seinen Urlaub verbringt, predigt allerdings lieber auf Türkisch. Die Leute hier würden ihn nur schlecht verstehen, weil das Armenisch von Vakıflı ganz anders klingt als das Armenisch, das in der Großstadtgemeinde am Bosporus gesprochen wird. Staunend lauschen die Touristen den seltsamen Lauten, Liedern und Gebeten, die da nach draußen dringen. Die Texte verhallen, ohne verstanden zu werden.