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DIE ARMENIER

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Die Armenier, eines der ältesten christlichen Völker, siedelten seit 2.700 Jahren bis Anfang des 20. Jahrhunderts im ostanatolischen Teil des Osmanischen Reiches. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden sie wegen angeblicher Kollaboration mit Russland massenweise massakriert oder in Wüstenregionen deportiert. Schätzungen zufolge kam dadurch mehr als eine Million Menschen ums Leben. Der heutige Staat Armenien am Südrand des Kaukasus ging 1991 aus der Erbmasse der Sowjetunion hervor und hat drei Millionen Einwohner. Ein Großteil der Armenier aber lebt in der ganzen Welt verstreut. Die Armenisch-Apostolische Kirche zählt neun Millionen Mitglieder. Der Armenisch-Katholischen Kirche, die mit Rom uniert ist, gehören gut 500.000 Gläubige an.

Ich versuche das Schweigen zu durchbrechen, das sich über dieses Bergdorf gelegt hat. Panuş Çapar, Jahrgang 1932, gilt als jemand, der viel über die Geschichte weiß. Doch was er mir berichtet, liegt 200, 500, 1.000 Jahre zurück. Kein Wort darüber, was vor hundert Jahren geschah. Er habe zwar selber ein Buch geschrieben, lässt er mich wissen, das habe er aber noch niemandem gezeigt, denn er wolle es seinen Enkeln vererben, sozusagen als Vermächtnis seines Lebens. Eine Gruppe von Amerikanern, die mit ihrem Führer zu Besuch kommt, befreit ihn von meinen bohrenden Fragen. Wie mit der Reiseagentur besprochen, spielt er Flöte und singt alte armenische Lieder, die Gäste machen davon Videoclips und sind stolz, für ein paar Minuten ein lebendiges Stück „history“ in ihren Reihen zu haben.

Ich mache einen zweiten Versuch. Da ist Harabet Doğan, 1941 in Vakıflı geboren. Er war fünf Jahre Import-Export-Händler im Libanon und ging 1973 nach Deutschland. In Kirchenlamitz bei Hof arbeitete er in einer Porzellanfabrik, in Osnabrück in einer Margarinefabrik, dann machte er sich mit einem Lederwarengeschäft in Bad Essen selbstständig. Seit 2008, als er sich pensionieren ließ, verbringt er jedes Jahr sieben bis acht Monate in seinem Geburtsort. Es zieht ihn zurück zu seinen Wurzeln – doch was vor hundert Jahren geschah, darüber will auch er sich lieber nicht zu ausführlich unterhalten. „Es ist besser, die alten Wunden nicht wieder aufzureißen.“

Immerhin beschließt er, ein Foto sprechen zu lassen: Er bringt von zu Hause ein Bild mit, das schon vom Alter gezeichnet ist. Ein seltsames Monument aus Stein ist darauf zu erkennen, der linke Teil sieht aus wie ein Schiff, der rechte wie eine Kirche. Das Foto trägt eine Inschrift in armenischen Buchstaben, die Doğan aber gar nicht lesen kann, weil er in der Schule nie diese Zeichen gelernt hat. Wir holen Pater Housig herbei, nur er als Priester ist der armenischen Schriftsprache kundig, und der Kirchenmann liest uns feierlich vor: „Wir müssen uns den Mut unserer gefallenen Helden erhalten – wo immer wir auch leben.“

Dieses Foto bricht für kurze Zeit den Bann. Es zeige ein vier Meter hohes Monument, sagen Dorfbewohner, die mich jetzt neugierig umringen, Anfang der 1920er-Jahre hätten es Armenier errichtet und die Bausteine dafür auf Pferden hinaufgeschleppt. Es sei auf dem berühmten Höhenzug gestanden, an dessen Flanke Vakıflı liegt. 1982 hätten türkische Soldaten das Denkmal demoliert, weil es angeblich in der Türkei keine Armenier mehr gäbe, also auch kein armenisches Denkmal mehr nötig sei. Die verbliebenen Reste seien mittlerweile restauriert – aber es sei ein weiter, schwerer Weg dorthin, man brauche einen Esel dafür und einen ortskundigen Führer. Dann ist es aber auch genug mit diesem Thema und die Alten kehren zu ihren Brettspielen zurück.

Der Gipfel, von dem sie sprachen, heißt auf Deutsch „Berg Musa“. Unter seinem türkischen Namen „Musa Dagh“ ging er in die Weltliteratur ein. Wie kein anderer steht er für den Untergang eines Volkes, obwohl er ja zur Stätte einer geradezu wundersamen Rettung wurde. 1915, ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, führte der Ex-Offizier Moses Der Kalousdian rund 4500 Armenier aus umliegenden Dörfern auf diese 1355 Meter hohe Erhebung des Nur-Gebirges. Dort wollten sie den osmanischen Truppen Widerstand leisten, die Hunderttausende von Armeniern entweder gleich massakrierten oder auf Todesmärsche in die mesopotamische Wüste schickten. So wollten die Türken ihr zerbröckelndes Reich ein für allemal von diesem christlichen Volk säubern, weil es angeblich mit dem feindlichen Russland kollaborierte. Es war, so die Mehrheit der Historiker, ein Völkermord, der gut fünfundzwanzig Jahre vor Hitler mit der Judenvernichtung begann.

Die Armenier, die sich auf dem Bergrücken verschanzt hatten, sahen die Soldaten immer näher an ihre letzte Bastion heranrücken. In ihrer Verzweiflung hissten sie zwei Fahnen, die bis auf das Mittelmeer hinaus sichtbar waren. Die eine trug ein rotes Kreuz auf weißem Grund, die andere eine Aufschrift in englischer Sprache: „Christians in distress: Rescue!“ („Christen in Not: Rettet uns!“) Um den Blick darauf zu lenken, entzündeten sie abends ein Feuer. Nach ein paar Tagen entdeckten Matrosen eines französischen Kriegsschiffes, das vor der Küste kreuzte, die Fahne mit dem Schriftzug. Drei weitere Schiffe ihres Flottenverbands wurden hinzugerufen, die Franzosen nahmen die Türken unter Beschuss, so wurden alle Armenier gerettet, die noch am Leben waren. Die vier Schiffe brachten sie nach Ägypten. 53 Tage hatte ihr Widerstand gedauert, der österreichische Schriftsteller Franz Werfel schrieb darüber den epochalen, dramaturgisch etwas gewandelten Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“.


Alte Männer beim Brettspiel in Vakıflı. Die Vergangenheit des Dorfes am Musa Dagh möchten sie lieber ruhen lassen.

Nach Kriegsende 1918 durften die Überlebenden in ihre Dörfer zurückkehren. Die Kolonialmacht Frankreich hatte diesen Teil des zerschlagenen Osmanischen Reichs unter ihre Verwaltung genommen. 1939 aber wurde die Region Hatay wieder der Türkei angeschlossen. Fast alle Armenier flüchteten in den Libanon, so leerten sich sechs von sieben christlichen Dörfern, die es damals rund um den Musa Dagh gab. Die 130 Bewohner, die heute noch in Vakıflı leben, sind so etwas wie die Letzten ihrer Art.

Unterhalb der Kirche steht eine von drei Pensionen, die die Dorfbewohner für Touristen eingerichtet haben. Im Hof verkaufen Frauen Produkte aus ökologischer Landwirtschaft: Granatapfelsirup sowie Marmeladen aus Rosen- und Orangenblüten, Grapefruit und Kirschen, Feigen, Walnüsse und Papayas. Ich streife an einem Zaun entlang, der behängt ist mit nostalgischen Fotos aus einer versunkenen Zeit. Ganz hinten hängt unter Baumzweigen tatsächlich eine kurze Chronik, die von der Rettung der Armenier berichtet. Es ist der einzige schriftliche Hinweis auf dieses Drama, den ich im Dorf gefunden habe. Kein Satz aber über den Genozid, den Hintergrund dieses Ereignisses. Jede türkische Regierung hat ihn bislang bestritten, und wer es dennoch in diesem Land behauptet, riskiert bis zu zwei Jahre Gefängnis wegen „Herabsetzung der türkischen Nation“.

Ich treffe Kuhar Kartun, die Frauenbeauftragte der Kooperative von Vakıflı. Sie ist Jahrgang 1962 und lebt seit gut 25 Jahren im Ort. Ihr Großvater gehörte zu den Helden des Musa Dagh, so sieht sie es eigentlich als Aufgabe an, Besuchern von der Geschichte des Dorfes zu erzählen. Doch auch sie tut es eher zögerlich und stockend, als wir uns dem Thema „Völkermord“ nähern. „Wir wollen in Frieden leben“, sagt sie. „Wir kämpfen hart genug darum, dass unsere Kinder hier überhaupt eine Zukunft haben. Wir werden ja nur deshalb gut behandelt, weil wir so wenige sind.“ Das Geschäft mit der Ökonische funktioniere eher schlecht als recht. Die meisten jungen Leute seien daher schon nach Istanbul gegangen.

Ich fange an, ihr ein paar Ideen vorzuspinnen. Man könne das Drama am Musa Dagh touristisch richtig groß einschenken, mit Dokumentarfilmen und einer Ausstellungshalle und historischen Wanderpfaden am Berg. Aber je länger ich davon fabuliere, umso entgeisterter schaut die Frau mich an. „Wir wären wohl damit überfordert“, sagt sie schließlich, „diese ganze Geschichte hier aufarbeiten zu wollen.“ Sie weiß natürlich, dass der Teufel los wäre, wenn die Leute von Vakıflı so etwas ernsthaft versuchen wollten.

Manchmal stellen türkische Touristen Fragen, bei denen es ihr schwer fällt, nicht die Beherrschung zu verlieren. „Wie kommt es denn, dass es euch noch gibt?“, hat sie mehr als einmal gehört. „Fühlt ihr euch hier eigentlich wohl?“ – „Wir waren schon lange hier, bevor die ersten Türken kamen“, pflegt sie dann trotzig-tapfer zu entgegnen. Und erschrickt doch immer ein wenig vor ihren eigenen Worten. „Zehn Jahre früher“, meint sie, „hätte ich so etwas noch nicht zu sagen gewagt.“ Sie spürt, kein Ort kann seiner Geschichte entrinnen. So wandern die Menschen von Vakıflı, wenn Besucher danach forschen, geistig auf einem schmalen Grat. „Wir wollen uns nicht zur Schau stellen“, sagt Kartun. „Wir wollen nicht ständig um Mitleid betteln. Wir wollen nur unseren Glauben leben.“

Kaum hat sie das gesagt, hören wir aus der Ferne einen dumpfen, grollenden Knall. Ich schaue die Frau fragend an. Am Himmel wölben sich dunkle Wolken, ob das wohl ein Gewitter ist? „Nein, das war kein Donner“, erwidert sie. „Wir kennen das Geräusch schon ziemlich gut. Es war mit Sicherheit eine Bombe.“ Syrien liegt, blickt man gen Südosten, gleich hinter den Bergen. Kuhar Kartun schaut nicht lange dorthin. Sie kehrt schnell zurück in ihre kleine, Gott sei Dank noch geordnete Welt. Das Leben im Dorf ist schwer genug. Aber wenigstens haben sie hier Frieden.

Ich packe meine Sachen und strebe dem nächsten dolmuş zu. Zwei Tage lang habe ich in die Vergangenheit geblickt. Aber, so schießt es mir plötzlich durch den Kopf, vielleicht war das auch ein Blick in die Zukunft? Habe ich hier ein Modell dafür gesehen, wie die Christen im Orient überleben werden? Wird es, wenn wieder hundert Jahre vergangen sind, 20, 50 oder 100 Vakıflıs geben? Ein Szenario, das mir am Anfang meiner Reise schwer vorstellbar erschien. In den drei Monaten, die vor mir liegen, wird sich das ein wenig ändern.

Mit Feuer und Schwert

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