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ОглавлениеKAPITEL 2 · WADI NATRUN – ÄGYPTEN
„Man kann es aus den Gesichtern lesen“
Wie koptische Mönche mit ihren muslimischen Nachbarn leben
Je weiter weg von der Welt, desto so näher bei Gott. Dieser Glaube hat vor 1.700 Jahren junge Christen scharenweise in die ägyptischen Wüsten getrieben. Allein im Wadi Natrun sind es mindestens 5.000 gewesen, die seit dem 4. Jahrhundert als Eremiten leben wollten. Sie zogen sich in eine Gegenwelt aus Höhlen und Zellen zurück. Obwohl sie rein gar nichts besitzen durften, hatten sie offensichtlich eine große Anziehungskraft auf benachbarte Stämme. In den Klöstern, die da aus dem Boden schossen, gab es Wasser und Brot, kostbare Güter in der Wüste. Es gab wärmende Kutten, die Nomaden sich gern überstreiften, wenn die Nächte besonders kalt wurden. Es gab Brennholz und Essensvorräte, gestapelt in Kellerräumen. Es gab kunstvolle Ikonen, die sich als Raubgut an reisende Händler verkaufen ließen. Ein Kloster war eine lohnende Beute für Berber und Beduinen, die als Nomaden durch die nördliche Sahara zogen.
Den ersten Überfall im Wadi Natrun gab es im Jahr 407, ein halbes Dutzend ist schriftlich dokumentiert. Die wehrlosen Mönche wurden ihrer Kleider beraubt, niedergemacht oder auf Kamelen verschleppt und danach als Sklaven gehalten. Erst im 9. Jahrhundert begannen die Gottesdiener, ihre Klöster mit schützenden Mauern zu umgeben. Jeder Konvent hatte von nun an einen Fluchtturm mit einer Zugbrücke. In ihn zogen sich die Mönche zurück, wenn feindliche Horden heranrückten. Dort hatten sie so viele Nahrungsmittel gehortet, dass sie wochenlang ausharren konnten – so retteten sie wenigstens ihr Leben.
Heute stehen vier Klöster im Wadi Natrun, eineinhalb Autostunden westlich der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Die Türme ihrer Kirchen ragen wie mächtige Pfeiler in die Landschaft. Die Mönche haben die Wüste rundum in fruchtbares Land verwandelt, mit Feigen- und Olivenbäumen, Obst- und Gemüsegärten, Schaf- und Hühnerfarmen, Kuh- und Büffelherden. Freitags und samstags streben Tausende von Kairoern, Christen wie Muslime, diesen Bastionen zu. Viele Besucher kommen aus keinem anderen Grund, als einen Gesprächspartner zu finden, bei dem sie ihre Sorgen ausschütten können. Die Nachbarn aber, die nahe den Klöstern siedeln, sind offenbar ein etwas anderer Menschenschlag.
Ich sitze vor Pater Bertie, sein Name ist eine Kurzform von „Bartholomäus“. Er ist Jahrgang 1952 und lebt seit 40 Jahren im Kloster St. Makarios. „Hier war Wüste, nichts als Wüste“, erzählt er, „ich bin selber barfuß durch sie hindurchgegangen. Als wir Mitte der 1970er-Jahre mit der Bewässerung begannen, war noch kein Mensch hier auf diese Idee gekommen.“ Dann erzählt er, was die Mönche so alles auf ihrem neu kultivierten Land erlebten.
Es begann im Jahr 1976. Da kamen Leute und warfen plötzlich Stroh auf ein Grundstück, um es auf diese Weise in Besitz zu nehmen. „Es waren Beduinen vom Westrand des Wadi Natrun, sie wollten dort Wassermelonen pflanzen.“ Ein Abgesandter des Klosters suchte in der Hauptstadt den Innenminister auf, bald darauf wurden die Landbesetzer von der Polizei vertrieben. Der zweite Versuch war 1980. Die Bevölkerung wuchs, Nahrung wurde knapp, wieder ging es um Wassermelonen. Die Leute, die sich ein Stück Klosterland genommen hatten, brachten immerhin eine Ernte ein. Dann mussten auch sie auf behördliche Anordnung hin wieder abziehen. Der dritte Versuch war 1985. Ein Beduine namens Abdel Kader Latif Qadallah fuhr mit Begleitern im Kloster vor. „Das ist das Land meiner Vorväter“, eröffnete er den Mönchen, und das wolle er nun umgehend zurückhaben. „Er war von einem Anwalt geschickt worden, der für eine Firma arbeitete“, hat Pater Bertie damals recherchiert. „Dieser Anwalt gehörte der Muslimbruderschaft an.“
DIE ORTHODOXEN KOPTEN
Der Name rührt von „kubti“, der arabischen Bezeichnung für Ägypter, her. Mit schätzungsweise elf Millionen Mitgliedern ist die Koptisch-Orthodoxe Kirche die mit Abstand größte aller christlichen Glaubensgemeinschaften im Nahen Osten. Beim Konzil von Chalcedon 451 wurde die Zwei-Naturen-Lehre verkündet, wonach in Christus sowohl das Göttliche als auch das Menschliche vorhanden sei. Die orientalischen Kirchen spalteten sich daraufhin ab, weil sie Christus nur als Gott, seine menschliche Natur hingegen als eine Art „Verkleidung“ ansahen. Das Oberhaupt der Kopten trägt seither den Titel „Papst“. Das christliche Klosterleben erfährt in seinem Stammland Ägypten, anders als in Europa, eine Renaissance – trotz oder gerade wegen des islamischen Drucks.
Die Mönche von St. Makarios wurden nun doch von Unruhe gepackt. Sie suchten die zuständigen Behörden auf und legten ihre Besitzurkunden vor. Sie schrieben einen langen Bericht für die Polizei. Sie gingen vor Gericht, und das gab ihnen recht. Aber was ist so ein Urteil in Ägypten auf Dauer wert? Sie begannen eine zweite Mauer zu bauen, nach 14 Monaten war sie fertig. Drei Meter hoch und 16 Kilometer lang, umgab sie das gesamte Land, das dem Kloster St. Pischoi gehörte. So leben die Brüder wie in einer Festung und fast alle koptischen Klöster in Ägypten haben es ihnen mittlerweile gleichgetan.
2011 war in Ägypten das Jahr der Revolution. Nach dem Sturz von Staatschef Mubarak, erzählt Pater Bertie, sei weit und breit keine Polizei mehr zu sehen gewesen, und die Islamisten hätten mehr und mehr Oberwasser bekommen. Eines Tages zertrümmerte ein Bulldozer die größte und schönste von insgesamt 33 kartierten Höhlen, in denen einst Mönche ihr asketisches Leben geführt hatten. Sie lag vier Kilometer vor der Außenmauer von St. Makarios und war reich mit Wandmalereien verziert gewesen. Wieder schrieben die Mönche einen Bericht, doch nie wurde ein Täter gefunden, nie einer bestraft.
„Was sollte denn die Attacke auf die Höhle?“, frage ich.
„Es ging halt gegen die Christen, gegen das Kreuz.“ Pater Bertie sagt es in einem Ton, als sei das doch irgendwie logisch.
Die Mönche haben lange versucht, ein halbwegs freundschaftliches Verhältnis zu den Nachbardörfern zu entwickeln. 1996 schickten sie eine Delegation nach Beni Salema, das am nächsten gelegene Dorf. Sie fragten die Bewohner, was sie am dringendsten bräuchten. Eine gute Schule, lautete die Antwort, man habe derzeit nur zwei elende Klassenräume. Die Klosterbrüder hatten einen Architekten und zwei Ingenieure in ihren Reihen, so bauten sie gratis neue Unterrichtszimmer, richteten eine Bibliothek ein und statteten sie gleich mit Büchern aus. Dann kamen sie auf die Idee, an Weihnachten und Ostern bis zu hundert Familienoberhäupter einzuladen. Sie servierten ihnen ein festliches Essen und gaben ihnen am Ende noch ein wenig Geld mit auf den Heimweg.
„Goodwill-Aktionen um des lieben Friedens willen“, meine ich, „Diplomatie mit christlichem Touch.“
„Das ist die Interpretation eines westlichen Autors“, sagt Pater Bertie lächelnd. „Für uns war es schlicht ein Gebot der Nächstenliebe.“ Der Kontakt habe lange ganz gut funktioniert, meint er abschließend. Aber seit einigen Jahren würden immer weniger Menschen den Einladungen Folge leisten. Bei all der Hitze, die ein Großteil des Jahres im Wadi Natrun herrscht – das Klima um die Klöster herum scheint frostiger zu werden. Es ist, als braue sich wieder etwas zusammen.
Im Kloster St. Pischoi ist heute ein besonderer Tag. Genau zwanzig Jahre ist es her, dass Pater Bejimi ordiniert wurde. Er sagt es ganz beiläufig, als wir durch den Hof zu dem Friedhof spazieren, auf dem auch er dereinst seine ewige Ruhe finden wird. Der heutige Tag, so eröffnet er mir, sollte eigentlich ein Wendepunkt in seinem Leben werden. Er hatte vor, seine Mitbrüder ein letztes Mal um sich zu versammeln, um sich von ihnen zu verabschieden. Er war als Seelsorger für sieben Jahre nach Kairo geschickt worden, dann hatte er – seiner Sprachkenntnisse wegen – sieben Jahre in Österreich, drei Jahre in Deutschland und ein Jahr in Tschechien als Diaspora-Priester gewirkt. Das waren 18 Jahre Pfarrdienst in der Welt, die er doch eigentlich hinter sich lassen wollte. „Es reicht nun wirklich, es reicht!“, platzt es aus ihm heraus. „Ich möchte eigentlich nichts lieber als eine Höhle ganz für mich allein.“
Der 48-Jährige hat all die Jahre stets nach einer Eremitage gesucht. Zuletzt landete er in den französischen Pyrenäen, acht Kilometer vom Benediktinerkloster Saint-Michel-de-Cuxa entfernt. Durch den Tod eines katholischen Einsiedlers war eine Felsenhöhle in Traumlage frei geworden: 200 Meter über einer Straße versteckt, mit einem rauschenden Fluss tief unten im Tal. Doch als er sich durch den Wald dorthin kämpfte, schossen Jäger auf ihn, weil sie ihn für ein Wildschwein hielten, nur mit viel Glück entkam er ihnen. Und gerade einmal einen Tag später erfuhr er von Mönchen, gleich nach seiner Besichtigungstour habe sich ein großes Stück Fels gelöst und die ganze Höhle zum Einsturz gebracht. War das ein Fingerzeig Gottes zur richtigen Zeit? War es die Warnung vor dem selbst erkorenen Weg?
Koptische Mönche beim Gebet. Viele junge ägyptische Christen suchen ein Leben in der Einsamkeit der Wüste.
Pater Bejimi gab sich noch immer nicht geschlagen. Eine Woche vor seinem 20. Jubiläum fuhr er ins Kloster St. Anton, das nahe dem Roten Meer in der Wüste liegt. Dort wollte er in dem Gebirge leben, das hinter dem Konvent aufsteigt, ganz allein mit Gott und sich selber, der Welt entzogen bis zu seinem Tod. Er brauchte dazu die Genehmigung von Bischof Yostos, dem Oberhaupt von St. Anton – doch von diesem kam ein hartes Nein. Offensichtlich fürchtete der Bischof, dass diese Art von radikaler Isolation auch andere auf den Gedanken bringen und die Klostergemeinschaft dadurch schwächen würde.
„Dies war nun wirklich mein letzter Versuch“, sagt Pater Bejimi. „Ich werde mich endlich fügen.“ Er wird vertrauen auf das, was ihm der Abt von St. Pischoi und sein spiritueller Begleiter empfehlen. Sie gestehen ihm eine Art „gemäßigte“ Isolation im Kloster zu. Dabei lebt der Mönch zwar weiterhin in einer Zelle, jedoch vom Trakt der anderen getrennt. Keine Besuche mehr, keine Teilnahme an den gemeinsamen Gebeten und Messen. Um etwas von seinem Traum zu retten, wird er den Weg gehen, den man ihm weist. „Ich habe gelernt, auf Gott zu vertrauen“, sagt Pater Bejimi, „statt meine inneren Wünsche zu erfüllen.“
Wir steigen über Treppen hoch auf das Dach der Festung, in der sich die Mönche einst vor den Räubern verschanzt haben. Von hier aus haben wir einen weiten Blick hinaus aufs Land. Meine Augen gleiten an der Mauer entlang, die sich schnurgerade durch die graubraune Wüste zieht. Wie weit kann er dieser verteufelten Welt noch entrinnen, die immer wieder nach den Mönchen greift?
Die muslimischen Nachbarn, sagt er, hätten nur mit Widerwillen gesehen, wie das Kloster sich ausgebreitet habe. Es habe Neid hervorgerufen, dass St. Pischoi, wie auch die anderen Konvente, eine leistungsfähige Oasenwirtschaft aufgebaut hatte. „Sie haben an den Enden unserer Mauer vier Moscheen gebaut, je eine in jeder Himmelsrichtung, um dadurch jede weitere Expansion zu stoppen. Ja, die Minarette wirken wie Verteidigungstürme.“
Pater Bejimi hat schon ein paar Mal versucht, außerhalb der Mauer durch die Dörfer zu spazieren. Da hätten sie ihn zur Rede gestellt und gefragt, was er hier wolle. Und sie hätten ihm klargemacht, dass er in ihrem Ort nichts zu suchen habe. „Eines Tages werden sie kommen“, sagt er, so wie damals die Berber und Beduinen. „Sie warten nur auf ein Signal. Man spürt es, wenn man durch ihre Dörfer geht. Man kann es aus ihren Gesichtern lesen.“ Sind die Mönche auch in ihrem Denken eingemauert? Oder haben sie ein Gespür, das andere nicht haben? Es gibt ja auch die Lehre, dass Angriff die beste Verteidigung sei.
„Bereiten Sie sich etwa auf einen Überfall vor?“, frage ich.
„Nein, nein“, sagt er lächelnd. „Was sollen wir denn machen?“
„Sie warten also einfach auf den Tag X?“
„Wir wissen, dass es passieren wird“, antwortet er. „Der Boden dafür ist bereitet.“
Er sagt es so kurz und schlicht, als sei es die sicherste Sache der Welt.