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ОглавлениеVorwort
Hinterlässt die elf Jahre dauernde Volksschule tatsächlich Spuren?
Während sich die Mehrheit der SchülerInnen gerne an die gemeinsam verbrachte Schulzeit erinnert, gibt es einige, deren Schulerinnerungen ein Leben lang mit gemischten Gefühlen verbunden sind.
Wie kam ich dazu, mich näher mit dem Thema »Schule hinterlässt Spuren« zu befassen?
Nach meiner Pensionierung vor fünfzehn Jahren erhielt ich Einblicke in unser Bildungssystem, die für mich neu waren.
Im Rahmen der Erwachsenenbildung lernte ich den »Verein Lesen und Schreiben für Erwachsene Kanton Bern« kennen. Ein Verein mit dem Auftrag, Kurse anzubieten für Menschen, die Probleme haben mit Lesen und Schreiben.
In einem anderen Projekt, organisiert von Pro Senectute, erteilte ich individuelle Lernförderung (ILF) an der Oberstufe einer Volksschule und an einem 10./12. Schuljahr.
Beim Verein Lesen und Schreiben für Erwachsene, den ich sieben Jahre lang präsidierte, musste ich akzeptieren, dass die Schulzeit bei einzelnen Personen enorme Lernwiderstände, Lernblockaden und eigentliche Lernphobien zurückliess, die nur mit viel Geduld, Zuwendung und Ermutigungen überwindbar sind – wenn überhaupt. (Teil 2, Gespräche 8 und 9 mit ehemaliger Schülerin und ehemaligem Schüler).
Eindrückliche Beispiele dazu findet man im Videofilm »www.boggsen.ch« von Jürg Neuenschwander: https://vimeo.com/288254784, der in Zusammenarbeit mit dem Verein Lesen und Schreiben gedreht wurde.
Bei meiner Arbeit mit einzelnen Jugendlichen auf der Oberstufe (7. – 9. Schuljahr) konnte ich mit ansehen, welche bleibenden Prägungen die selektive, diskriminierende Zuteilung »Real« oder »Sek« auf Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und Selbstbild bei Jugendlichen auslösen kann. Von den Erwachsenen gut gemeinte Zuweisungen, mit negativen Auswirkungen auf die Jugendlichen. (Teil 2, Gespräch 8: Ich habe Diktate zu Tode geübt.)
Nur schwer erträglich war meine mehrjährige Arbeit mit Lernenden im 12. Schuljahr (früher 10. Schuljahr).
Mehrheitlich Lernende aus bildungsfernen Schichten, welche das Schulsystem im besten Fall in Ruhe liess, im schlimmsten Fall stigmatisierte und entmutigte.
Beeindruckt hat mich immer wieder das LehrerInnenteam im 10. respektive 12. Schuljahr, das mit klaren Standortbestimmungen und Strukturen und optimaler individueller Förderung die Jugendlichen einzeln abholte und diese zu erstaunlichen Leistungen befähigte, sodass die Mehrheit der jeweiligen Klasse eine Lehrstelle oder sonst eine angemessene Anschlusslösung finden konnte (Teil 1, Gespräch 5: »Und plötzlich bekomme ich Freude am Lernen«).
Zu Wort kommen neben SchülerInnen auch Lehrpersonen, Schulleitungen und weitere Berufsleute aus dem schulischen Umfeld, welche interessante, manchmal auch irritierende Einblicke in das aktuelle Schulsystem und seine inoffiziellen Spielregeln ermöglichen (Teil 4, Gespräche mit Lehrpersonen, Teil 5, Gespräche mit Schulleitungen, Teil 6, Gespräch mit einem Schulsozialarbeiter, einem Erziehungsberater und einem Schulkommissionspräsidenten).
An wen richten sich die dokumentierten Video-Gespräche? Verstanden als Einzelfallbeispiele eines Pilotprojekts?
An kritisch denkende Menschen, die an Bildung interessiert sind, an den vielfältigen Spuren, welche die elf Jahre dauernde Schulzeit hinterlassen kann.
Als ethischen Leuchtturm wählen wir Artikel 11 aus der Schweizerischen Bundesverfassung:
»Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung« (Art 11 BV).
Ein hochgesteckter Anspruch aus der Schweizerischen Bundesverfassung, dessen Umsetzung auf das bestehende Schulsystem noch einige Zeit dauern wird. Vorausgesetzt, der Lehrplan wird verfassungskonform.
»Besonderer Schutz ihrer Unversehrtheit«: Ein Qualitätskriterium von Unterricht, das weitgehend unbekannt ist in der pädagogischen und didaktischen Literatur.
Warum? Zu widersprüchlich sind die Erwartungen an das System. Beispiel: Fördern und gleichzeitig Auslesen.
Wie verbindlich ist dieser rechtliche Anspruch von Kindern und Jugendlichen während der Volksschule? Wer trägt die Verantwortung für dessen Umsetzung und für die entsprechende Qualitätsüberprüfung? Ungewohnte Fragestellungen zu einem praktisch nicht existenten Forschungsbereich.
Was geschieht mit Jugendlichen, welche die Volksschule mit Versehrungen und elementaren Wissenslücken (Illettrismus, Teil 2, Berichte 8 und 9) verlassen?
Sind ähnliche Lösungen wie bei den ehemaligen Verdingkindern denkbar? Im Sinne von finanziellen Entschädigungen?
Die Texte sprechen für sich, sie lösen unterschiedliche Reaktionen aus, je nach persönlichen Erfahrungen mit der Institution Schule.
Erfreulicher Ausblick: Auf Bundesebene sind rechtliche Rahmenbedingungen vorhanden, welche kindgerechte Weiterentwicklungen des Schulsystems zulassen und einfordern.
Dr. H. Joss