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Lützel – Sportgelände des Sportvereins rot-weiß

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„Ach du dickes Ei, heute mache ich besser die Fotos“, sagte Leon als sie an der Turnhalle vorfuhren. Seine Stimmung wechselte schlagartig ins Unterirdische.

„Was ist denn mit dir plötzlich los?“, fragte Vanessa, entdeckte außerhalb des Wagens jedoch schon die Antwort. „Oh nein, das ist bestimmt Sophie, nicht wahr?“

„Ja“, sagte er kurz angebunden. Leon nahm ihr die Kamera aus der Hand und hielt sie vors Gesicht, als könnte man nur hierdurch den rechten Weg erkennen. Dabei rannte er wie ein geölter Blitz in einem großen Bogen, vorbei an erstaunt blickenden Polizeibeamten in Richtung Turnhalle. Doch niemand versuchte ihn aufzuhalten.

Vanessa folgte ihm mit etwas Abstand und im Laufschritt, wählte aber eine Abkürzung. „Hey, jetzt warte doch mal auf mich, Leon“, rief sie noch, wurde aber bereits mit ausgestreckten Armen von Sophie und einem Kollegen am Weiterlaufen gehindert.

„Halt Stopp, das hier ist ein Tatort, auch wenn es wie ein Sportgelände aussieht. Sehen Sie das rot-weiß gestreifte Band? Hier ist im Moment alles abgesperrt“, sagte der Polizeibeamte mit fester Stimme und unverkennbar sauer.

„Entschuldigung! Presse. Ich komme vom Koblenzer Tageskurier und soll auf Anordnung meines Verlegers einen Artikel …“, versuchte sie zu erklären und zückte noch etwas unbeholfen ihren Presseausweis.

„Und wenn Sie der Papst persönlich wären, könnten sie jetzt nicht hier durch. Sie versauen dahinten sonst alle Spuren“, konterte er. „Sorry, das ist wirklich nicht persönlich gemeint“, stammelte er noch hinterher als er die Enttäuschung in ihrem Gesicht sah.

Vanessa setzte ihren Hundeblick auf und sagte: „Sehen Sie mal, ich bin ganz neu bei dieser Zeitung und eigentlich für die Sportredaktion zuständig. Wenn ich heute mit leeren Händen zurückkomme, bin ich vielleicht das nächste Opfer. Man erzählt sich, der Chef verstehe da überhaupt keinen Spaß und mache den jungen Mitarbeitern sowieso die Rübe runter und das Leben zur Hölle“, versuchte sie ihr Glück.

„Komm lass sie doch“, sagte Sophie leise zu ihrem Kollegen. „Die Spurensicherung ist im Außenbereich doch ohnehin durch.“

„Na gut, machen wir mal eine kleine Ausnahme für die nette junge Dame. Ihr Kollege Walters rennt dahinten sowieso schon überall herum mit seinen riesigen Quadratlatschen. Aber bleiben sie auf jeden Fall außerhalb der Turnhalle. Ich habe nämlich auch einen bissigen Chef, der gerne Köpfe rollen sieht. Dagegen ist ihr Paffrath vermutlich ein frommes Lamm. Drumherum können sie meinetwegen ein wenig herumschnüffeln und Fragen stellen“, sagte er und signalisierte mit einer Kopfbewegung seine Zustimmung.

„Wo ist Leon nur hin?“, fragte sich Vanessa. Der musste irgendwie an den beiden Polizeibeamten vorbeigekommen sein, ohne dass sie es mitbekommen hatten. Hinter einer Ecke der Turnhalle winkte er hektisch und bedeutete ihr, schnell dorthin zu kommen.

„Vanessa, wo bleibst du denn? Ich habe alles an Bildmaterial, was wir brauchen schon im Kasten. Sieh mal dahinten am Turnhalleneingang – siehst du die junge Frau mit den langen dunklen Haaren? Nicht hinschauen“, flüsterte er ihr zu.

„Ja, klar. Wieso?“

„Das ist eine Vereinskameradin und wie es scheint vielleicht engere Bekannte des Toten. Versuch mal etwas herauszufinden. Das ist jetzt deine große Chance. Beeil dich, ich komme in ein paar Minuten hinzu“, erklärte er und ging schon wieder um die Ecke zur Turnhallenrückseite.

Völlig verwirrt von diesem mysteriösen Verhalten ging Vanessa auf die große, mindestens 1,80 m große schlanke und überaus hübsche Frau zu. Die Wimperntusche war über das ganze Gesicht verteilt und sie wirkte völlig fertig.

„Entschuldigen Sie, mein Name ist Vanessa Herzsprung vom Koblenzer Tageskurier. Es tut mir sehr leid, mein herzliches Beileid. Waren sie verwandt oder enger bekannt mit dem Opfer?“, versuchte sie ihr Glück.

„Wir haben vor einigen Wochen unsere fast dreijährige Beziehung beendet. Na ja, genauer gesagt, ich habe …“. Die junge Frau weinte.

Vanessa reichte ihr ein Taschentuch und legte tröstend eine Hand auf ihre Schulter.

„Entschuldigung. Das ist gerade alles einfach zu viel für mich“, entgegnete sie und putzte sich die Nase und die Tränen aus den Augen.

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, nicht jetzt und nicht heute, nicht nach so einer schlimmen Sache“, versuchte Vanessa einen Zugang zu finden. „Wie darf ich sie eigentlich nennen?“

„Milena, Milena Hofmann. Tobi und ich sind schon in der Oberstufe ein Paar gewesen. Nach dem Abi im Sommer bekam ich direkt einen Medizinstudienplatz in Heidelberg, Tobi mit seinem Abi von 2,3 hätte leider viele Jahre warten müssen, mindestens siebeneinhalb bis acht Jahre. Er hat es sogar noch über die Bundeswehr versucht, wurde aber nicht als Sanitätsoffiziersanwärter genommen, dafür war er einfach nicht der Typ. Zu Auswahlgesprächen der Universitäten haben sie ihn auch nicht eingeladen. Da spielt ebenfalls die Abiturnote eine große Rolle. Leider versuchte er von da an, auch mir meinen Studienplatz zu vermiesen. Was sollte ich also machen?“, erklärte sie kurz. „Als Arztsohn kam für ihn und vor allem seinen Vater, den renommierten Professor Haberkorn auch kein anderes Studium in Frage“, fügte sie noch an, wobei sie den Namen ein wenig verächtlich aussprach. „Ich habe ihn wirklich geliebt, aber er ließ mir am Ende keine andere Wahl mehr. Er legte es regelrecht darauf an, dass ich Schluss mache. Ich habe ihn am Ende überhaupt nicht mehr verstanden. Er war wirklich so … ganz anders geworden, versank fortan in ständigem Selbstmitleid.“

„Braucht man für Medizin nicht sogar 1,0? Hammer, haben Sie das wirklich geschafft?“, fragte Vanessa interessiert.

Die junge Frau reagierte ein wenig verunsichert und offenbar peinlich berührt. „0,9 war sogar genau genommen mein Abiturdurchschnitt. Möglich wäre theoretisch sogar 0,75. Aber glauben Sie mir, das bedeutete sehr viel harte Arbeit, manchmal Diskussionen mit den Lehrern und noch mehr Verzicht im Leben eines ansonsten ganz normalen Teenagers. Zugefallen ist es mir jedenfalls nicht“, erklärte sie die eigene Intelligenz herunterspielend.

„Was hat Tobi gemacht ohne einen Studienplatz?“, fragte die Reporterin.

„Gute Frage. Er war völlig planlos, zog anfangs abends durch die Clubs, trank Unmengen Alkohol. Er war fast immer betrunken, schlief dann lange, sah manchmal völlig verwahrlost aus. Er ließ niemanden mehr an sich ran, auch mich nicht, hatte bald mit jedem Ärger“, sagte sie traurig.

„Und die Eltern, haben die ihm nicht den Kopf gewaschen?“

„Ach die, die hatten schon lange keinen Einfluss mehr auf Tobi. Er wollte seinen Vater zwar immer stolz machen, gab ihm aber leider nach dessen Meinung wenig Anlass dazu. Der hat ihn obendrein bei jeder unpassenden Gelegenheit mit meinen Leistungen aufgezogen. Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Freundin, hat er dann gesagt. „Nach seinem Versagen gab es zu Hause nur noch Zoff.“ Tobi ging dann doch noch zur Bundeswehr, Hauptsache erst einmal von zu Hause raus und wer weiß, vielleicht würde ihm sogar irgendwie der Aufstieg gelingen mit der Option auf einen Studienplatz.

Vanessa schaute sich kurz nach Leon um und sah ihn zu ihrem Erstaunen in ein Gespräch mit Sophie vertieft. Seine Körperhaltung schien völlig verändert, wirkte unterwürfig auf sie. Die Frage drängte sich auf, ob diese Beziehung wirklich abschließend geklärt war. Jedenfalls hätte sie sich etwas mehr Unterstützung von ihm gewünscht. Doch Leon schien im Moment völlig mit sich beschäftigt.

„Wo wohnt Tobi Haberkorn eigentlich?“, fragte sie.

„Die Eltern leben in einer schönen Villa in erster Rheinlage in Oberwerth. Versuchen Sie mal dort ein Haus zu erwerben. Das ist unbezahlbar. Tobi sagte immer, man könne eigentlich so etwas heutzutage auf dem Immobilienmarkt überhaupt nicht mehr kaufen, das werde entweder vererbt oder gehe direkt unter der Hand weg. Finanziell fehlte es jedenfalls an nichts. Der Vater Professor und Chefarzt seiner eigenen Privatklinik aus Familienbesitz, die Mutter Rechtsanwältin in eigener Kanzlei und dazu noch Einzelkind. Allerdings definierte sich die Liebe der Eltern für meinen Geschmack ein wenig zu viel über seine Leistung. Und die konnte Tobi offensichtlich nicht so liefern, dass er sich wirklich geliebt fühlen konnte“, erklärte sie. „Wissen Sie, es fiel ihm schwer für gute Noten zu büffeln oder Lernstrategien zu entwickeln. Es war eine einzige Quälerei für ihn. Für schlechte Noten gab es schließlich auch Aufmerksamkeit. Sportlich war Tobi allerdings ein As. Leichtathletik und Basketball waren eindeutig sein Ding. Da lagen eher seine Talente. Für eine gewisse Anerkennung in der Armee reichte das. Doch dafür hatte der Vater nur wenig Verständnis“, berichtete Milena. „Er hatte andere Pläne für ihn, in denen ein Offiziersdasein nur einen netten Nebeneffekt darstellte zum gewünschten Arztdasein.“

„Erstaunlich, dass ihr vor dem Hintergrund in der Schulzeit noch Zeit und Nerven für eure Beziehung gefunden habt. Ihr musstet ja schließlich beide sehr gute Noten mit nach Hause bringen“, schob Vanessa nach, da es gerade gut zu laufen schien.

„Ich wollte, Tobi aber musste … Aber Sie haben natürlich recht. Viel Zeit blieb uns wirklich nicht. Zusammen zu lernen, das haben wir nur ein, vielleicht zwei Mal versucht. Das brachte aber überhaupt nichts. Wir waren auf dem Gebiet einfach zu unterschiedlich und Tobi ließ sich sehr leicht ablenken. In den Ferien waren wir zusammen in der Türkei in Urlaub. All inclusive-Urlaub: Faulenzen, sonnen, baden im Meer, essen und trinken, bis der Arzt kommt.“

Vanessa wurde es fast übel. Sie spürte ihren vollen Bauch vom Frühstück und fühlte sich unendlich dick. „Was die immer alle nur mit ihrer Fresserei haben? Ekelhaft. Als gäbe es sonst nichts Schöneres im Leben.“

„Es war wunderschön einfach mal zu leben, das Leben in vollen Zügen zu genießen und sich bedienen zu lassen.“ Die junge Frau begann erneut zu weinen. Vanessa versuchte sie tröstend in den Arm zu nehmen, doch Milena flüchtete aus der Umarmung.

„Es geht schon, danke. Ich muss jetzt aber wirklich dringend nach Hause. Meine Eltern warten bestimmt schon auf mich. Sie wissen ja bisher von nichts und machen sich bestimmt sonst Sorgen. Und nächste Woche habe ich zu allem Übel eine Klausur. Leider muss ich noch eine Menge dafür tun.“

„Kann ich dich nach Hause fahren? Oder sollen wir deine Eltern vorher anrufen und Bescheid geben?“, bot Vanessa an, um die Zeit noch etwas auszudehnen.

„Danke, das ist lieb. Aber ich habe mein Fahrrad da hinten. Tschüss“, verabschiedete sie sich prompt und lief auch schon in Richtung Fahrradständer.

Fast im gleichen Moment kam Leon kreidebleich auf Vanessa zu. „Mensch, du solltest doch warten, bis ich …“, reagierte er sauer.

„Ich habe schon ganz viel herausgefunden. Länger konnte ich sie jetzt wirklich nicht mehr hinhalten. Sie musste dringend weg und du hattest ja anscheinend gerade Wichtigeres zu tun“, erklärte sie ein wenig verärgert.

Milena fuhr mit dem Rad vorbei und winkte noch einmal zum Abschied.

„Hübsches Mädchen“, sagte Leon. „Was hat die Kleine eigentlich hier gemacht?“, fragte er Vanessa.

Vanessa wurde rot. „Scheiße!“, rutschte es ihr raus. „Das habe ich echt total vergessen. Berechtigte Frage. Ich glaube, sie hatte überhaupt keine Sportsachen dabei“, bemerkte sie.

„Komm wir hocken uns ins Auto und schauen, was wir bisher so alles haben. Dann überlegen wir, wie es weitergeht“. Leon blieb ganz ruhig.

„Ist bei dir wirklich alles klar? Ich habe gesehen, du hast mit Sophie geredet“, fragte Vanessa interessiert. Doch Leon ging auf die Frage gar nicht ein, als hätte er sie nicht gehört und lief zum Wagen.

Vanessa berichtete, was sie von Milena erfahren hatte, während sie gleichzeitig die Fotos auf der Kamera durchschaute, die Leon gemacht hatte.

„Tobias Haberkorn sagtest du? Der alte Haberkorn hat schon vor vielen Jahren eine Privatklinik in Boppard gegründet und kurz vor seinem Tod an seinen Sohn übergeben. Komm wir fahren mal zu dieser Villa nach Oberwerth. Sie ist ganz in der Nähe von meinem Haus. Vom Sehen kennen wir uns sogar. Manchmal führen sie ihre zwei Windhunde abends spazieren, während ich jogge. Prächtige Tiere“, erklärte Leon.

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