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Uff der scheel Seit

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Sie wollten gerade aufbrechen, als Leon auf seinem Smartphone eine Textnachricht erhielt. Sie stammte von einem Kontaktmann im Polizeiumfeld. Leon rief ihn direkt zurück. Die Information schien wirklich Gold wert zu sein. Ein Förster meldete am frühen Morgen völlig aufgelöst einen Vorfall bei der Polizei. Bei der Auswertung seiner ausgelösten Wildkamera in der Nähe von Gintgens Galgen, an der Dreispitz in Koblenz-Arenberg, musste er eine Hinrichtung als bewegungsgesteuerten Kurzfilm mitverfolgen. Eigentlich war die Kamera an einem Zufahrtsweg zum Wald aufgehängt, um Zeitgenossen dingfest zu machen, die eher üble Dinge im Schilde führten, wie z. B. illegal ihren Müll im Wald zu entsorgen, wenn sie nicht gerade zu anderen Zwecken mit ihrer Süßen in den Waldweg abgebogen sind. Sie reagierte sowohl bei Tag als auch bei Nacht per Bewegungssensor, machte dabei einzelne besser auflösende Fotos und etwas schlechtere Kurzfilmchen von ein bis zwei Minuten Dauer. Die Kamera hing, für die meisten Passanten unbemerkt, in einem Haselnussstrauch. Bisher erhielt der Förster damit eigentlich nur wunderschöne Tieraufnahmen, kleine Sexfilmchen, nichts ahnende Spaziergänger und andere langweiligere Inhalte.

Dieses Ereignis fand bereits vor Sonnenaufgang statt und wurde somit automatisch im Infrarotmodus der Kamera aufgezeichnet. Entsprechend gewöhnungsbedürftig war die Ansicht in schwarz-weiß. Drei vermummte Personen hängten mit Hilfe einer Trittleiter eine bewegungslose Person an einem Baum mit diversen starken Seitenästen auf. Es folgte ein seltsames Ritual. Später wurde der Körper wieder vom Baum entfernt und in einem VW-Bus verstaut. Der Bus stand leider seitlich zur Kamera. Die Autokennzeichen waren im gesamten Film nicht erkennbar.

Es fand sich somit natürlich keine Leiche vor Ort, wie auch, sie war ja mit diesem Bus hingebracht und wieder abgefahren worden. Er meldete den Vorfall der Polizei, ging aber eher von einer Challenge, einem satanistischen Ritual oder einem üblen Scherz aus. Es sah vom Gewicht und der Beweglichkeit her schon wie ein echter menschlicher Körper aus, nicht wie eine Schaufensterpuppe. Die Chipkarte aus der Kamera war sofort von der Polizei beschlagnahmt worden.

Leon teilte Vanessa die Umstände mit und sie beratschlagten das weitere Vorgehen.

„Was heißt denn Gintgens Galgen an der Dreispitz?“, fragte sie. „Das habe ich noch niemals zuvor gehört.“

„Es ist einer der alten Hinrichtungsplätze aus der Zeit der Hexenverfolgung im Mittelalter. Er liegt außerhalb von Koblenz-Arenberg. Dort steht auch eine Schautafel für Besucher zur Erinnerung an die schreckliche Vergangenheit des Ortes. Ich war schon einmal dort“, erläuterte er.

„Wir wollten doch sowieso gleich nach Arzheim. Der alte Richtplatz liegt also hinter Arenberg in Richtung Montabaur, wenn ich das auf meinem Tablet richtig sehe. Lass uns einmal dort hinfahren. Wir könnten schauen, was vor Ort abläuft und zumindest einige neue Fotos machen. Zengler sollten wir meiner Meinung nach trotzdem hinterher interviewen“, sagte Vanessa.

„Klingt so, als könnte es mein Plan sein. Ich versuche später über meine Kontakte mehr über diesen Film des Försters herauszufinden. Vielleicht kommen wir ja irgendwie sogar da dran. Das klingt mir doch alles sehr nach Tobis Hinrichtung“, antwortete Leon. „Zeitlich könnte es von den Tatabläufen her genau passen, jedenfalls nach allem, was wir bisher wissen. Mehrere junge Männer werden wohl kaum in so kurzer Zeit in Koblenz erhängt worden sein. Wir müssen der Sache dringend weiter nachgehen.“

„Hm, was heißt eigentlich müssen? Du klingst wirklich, als wärst du bei der Polizei in Lohn und Brot“, gab Vanessa zu bedenken. „Werden die von der Polizei hier eigentlich nie sauer, wenn wir denen ständig ins Handwerk pfuschen?“, gab sie zu Bedenken.

„Es gibt einfach nichts Spannenderes, für die Leser und letztendlich auch für uns, als der Polizei einen oder mehrere Schritte voraus zu sein, glaube mir. Der Alte wird uns dafür ganz sicher lieben“, mutmaßte er und sah Paffraths Gesicht schon freudestrahlend vor sich. „Ja, gut, ein wenig hast du damit vielleicht schon Recht: Unterbeck wird sicher nicht amüsiert sein, wenn er die neuesten Erkenntnisse aus der Zeitung erfährt. Aber lass das mal meine Sorge sein. Außerdem hat er zu jedem Zeitpunkt mindestens die gleiche Chance, das Wettrennen zu gewinnen und uns dann über seine neuen Erkenntnisse zu informieren. Wir können immer noch entscheiden, ihn teilhaben zu lassen, wenn wir etwas Spannendes finden oder falls es für uns zu gefährlich werden sollte.“

„Eine Hand wäscht die andere“, ergänzte Vanessa.

„Genau. Du lernst schnell. Unterbeck wird uns dafür beim nächsten Fall sicher auch wieder Informationen geben, auch wenn er es genau genommen eigentlich nicht darf. So funktioniert nun mal die Welt“, sagte er mit einem Grinsen im Gesicht. „Wer sagt außerdem, dass die uns nicht längst einige Schritte voraus sind. Sie haben schließlich den Film und ermitteln mit einem ganzen Team.“

Am Richtplatz war erwartungsgemäß nicht mehr viel zu sehen. Die Spurensicherung war mit ihrer Arbeit schon durch, hatte den Ort weiträumig abgesperrt. Außer ein paar Fotos von der Anlage war heute nicht viel zu holen.

„Mist, ohne den Film führt uns das alles hier nicht weiter“, sagte Leon. Fahren wir jetzt erst zu Zengler oder versuchen wir unser Glück mit dem Film? Pass mal auf Vanessa, ich glaube du hast bei Zengler vielleicht als Frau sogar bessere Karten. Was hältst du davon, wenn ich dich an seiner Haustüre rauswerfe. In der Zwischenzeit versuche ich mal über Förster und Polizei einen Blick auf den Film zu werfen“, schlug er vor.

„Wenn du meinst. Ich bin zwar unsicher, ob ein Zeitsoldat lieber mit Frauen redet, wir kommen aber sicher schneller voran, wenn wir uns aufteilen“. Vanessa korrigierte im Spiegel ihr Makeup noch einmal kurz und stimmte mit dem Kopf nickend zu.

Leon telefonierte während der Fahrt mit dem zuständigen Förster für den Bezirk, aus dem der Film stammte, als würden sie sich schon Jahre kennen. Sie verabredeten sich sofort für ein Interview. „Wie du siehst, kann ich gleich durchstarten. Ruf mich bitte an, wenn du hier fertig bist, Vanessa.“

„Okay, dann bis gleich. Warte noch kurz, ob auch wirklich jemand aufmacht, damit ich hier nicht fest stecke ohne Wagen.“ Vanessa sprang mit sportlichen Schritten aus dem Auto und klingelte. Ein junger Mann in Bundeswehruniform öffnete und Vanessa gab Leon ein Zeichen, er könne losfahren.

Vanessa stellte sich vor, nannte ihr Anliegen und wurde glücklicherweise hereingebeten. Sebastian Zengler war gerade vom Dienst nach Hause gekommen, weshalb er noch seinen Tarnfleckenanzug trug. „Sie sind Stabsunteroffizier, nicht wahr?“, fragte Vanessa und deutete auf die Dienstgradabzeichen.

„Ja, genau. Ich besuche gerade den Feldwebel-Lehrgang, bin aber noch Stabsunteroffizier“, erklärte er.

„Sind sie Berufssoldat und was machen sie denn bei der Bundeswehr genauer?“, versuchte sie einen ersten Vorstoß.

„Nein, ich bin Zeitsoldat. Ich wurde gerade erst weiter auf 12 Jahre verpflichtet, weil ich eine Ausbildung als Rettungsassistent bekommen werde. Dafür werde ich zur Ausbildung in einer Rettungsleitstelle an einem Bundeswehrkrankenhaus eingesetzt und besuche weitere Lehrgänge. Rettungssanitäter bin ich ja schon eine Weile.“

„Sie sind hier in Koblenz am Lazarett?“

„Ja, genau. Die Lehrgänge sind teilweise in München an der Sanitätsakademie, teilweise auch im zivilen Bereich. Die Ausbildung ist sehr gut und allgemein anerkannt.“

„Sie müssen bestimmt auch in Einsätze, oder?“, fragte Vanessa.

Sebastian Zengler reagierte unangenehm berührt. „Ja, ich war schon dreimal in Afghanistan und es werden sicher nicht die letzten Einsätze gewesen sein. Mit spezialisierter Ausbildung ist man in der Regel häufiger dran. Sanitäter sind überall mit vor Ort“, führte er aus.

„Was sagt Ihre Familie dazu?“, fragte sie.

„Ach, die kennen das schon. Gut, wirklich begeistert sind sie natürlich nicht. Meine letzte Freundin hat es irgendwann nicht mehr ausgehalten. Sie sagte, sie könne nicht ständig in dieser Sorge leben und wolle auch nicht ewig hier warten. Wenn wir ein Kind bekommen würden, dann würde das vielleicht irgendwann Onkel zu mir sagen, meinte sie. Vor allem aber war wohl Schluss, weil sie meinte, die Einsätze hätten mich verändert. Sie wolle den alten Sebastian wieder zurückhaben. Der war aber vor längerer Zeit mit Überfliegen des Hindukusch Geschichte geworden“, berichtete der Soldat fast emotionslos. „So ganz kommt keiner als der Alte zurück. Im Einsatz komme ich sogar besser klar als hier bei diesen verhätschelten über alles herum jammernden deutschen Weicheiern.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen. Ein Leben als Soldat ist sicher kein Zuckerschlecken. Man lernt dabei mit Entbehrungen umzugehen. Meine Hochachtung für Menschen, die solche Strapazen auf sich nehmen, damit wir anderen es uns hier gemütlich machen können. „Aber mal ein ganz anderes Thema: Sie kennen doch Tobias Haberkorn. Ich habe gehört, sie hatten sogar eine körperliche Auseinandersetzung mit ihm vor einiger Zeit. Was war denn da genau los?“, fragte sie vorsichtig.

„Der kleine Haberkorn ist genau so ein arrogantes Arschloch, wie sein alter Herr. Tut mir leid, wenn ich das so hart ausdrücken muss“, platzte es aus ihm heraus. „Ich bin wirklich kein Schlägertyp, im Gegenteil. Da können Sie alle fragen, die mich kennen. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Tobias Haberkorn hat sich für was Besseres gehalten und es alle spüren lassen. Als er in einem Relegationsspiel den entscheidenden eigentlich todsicheren Ball vergeigt hatte und wir alle deshalb ein wenig angepisst waren, hat er mir wegen einer kleinen Bemerkung mit dem Ellbogen das Nasenbein zertrümmert“, erklärte er mit Wut in den Augen.

„Heißt das, Sie haben ihm danach eine Abreibung verpasst?“, fragte Vanessa hellwach.

„Er brauchte mal einen dezenten Hinweis, dass er nicht alles machen kann“, kam prompt die Antwort mit einem leicht süffisanten Grinsen auf dem Gesicht.

„Was heißt das genau, Herr Zengler? Was haben Sie gemacht?“

„Wir haben das unter uns Sportlern geregelt. Er hat keine Anzeige bekommen und auch keine erstattet. Das können Sie gerne überprüfen. Der Rest unterliegt dem Ehrenkodex und der besagt: Schnauze halten über die Details. Genau das werde ich ab jetzt tun. Das Gespräch ist für mich beendet.“ Sebastian Zengler war sauer. „Abgesehen davon habe ich ohnehin schon viel zu viel erzählt. Sie wissen sicher, dass Soldaten nicht aus dem Nähkästchen plaudern sollen. Dafür gibt es Presseoffiziere. An den wenden Sie sich auch besser, wenn Sie weitere Fragen haben.“

„Wir wollen Ihnen wirklich nichts anhängen, Herr Zengler. Wir haben mitbekommen, dass Herr Haberkorn insgesamt nicht sehr beliebt war und das wird ja auch seine Gründe haben. Wir versuchen nur die Hintergründe besser zu verstehen. Vielen Dank für Ihr bisheriges Vertrauen. Dürften wir noch einmal auf Sie zukommen, falls wir noch Fragen haben? Ich habe das Gefühl, sie haben mir noch nicht die ganze Geschichte erzählt“, versuchte sie noch einmal ihr Glück.

„Erst einmal nicht. Ich habe Ihnen bereits viel zu viel gesagt. Zum Rest habe ich Ihnen doch erklärt, warum ich nicht darüber reden werde.“

„Hier ist meine Karte, falls Ihnen doch noch etwas einfällt. Sie können jederzeit Kontakt aufnehmen. Oder wenn Sie es sich doch noch anders überlegen sollten.“ Vanessa übergab ihr Visitenkärtchen.

Sebastian Zengler warf einen Blick darauf. „Bestimmt nicht, Frau … Sportreporterin?“, sagte er und schüttelte mit dem Kopf.

Sie verabschiedeten sich und Vanessa rief Leon an. Sie berichtete vom überraschenden Verlauf und setzte sich nach einem kurzen Weg auf eine Bank für Spaziergänger.

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