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Pizza Funghi

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Leon tauchte heute ausnahmsweise einmal mit relativ guter Laune in der Redaktion auf. Dennoch ließen ihn vorsichtshalber alle in Ruhe, denn sie wussten ja nie, wie schnell Leons Stimmung wieder kippen würde, am frühen Morgen. Er verschaffte sich einen Überblick über seine Emails. Danach fertigte er einen kurzen Fragenkatalog an, für das Interview mit Jennifer Koch, beim Italiener. In Gedanken ließ er noch einmal die Begegnung mit Julian, dem Sohn von Jennifer, Revue passieren. Welchen Julian mochte er da wohl kennengelernt haben, den mit oder den ohne Drogen? Hierüber galt es mehr herauszufinden.

„Na, Herr Kollege, waren wir heute nicht so lange im Bett?“, klang es vom Nachbarschreibtisch.

„Oh nein, die Sportredaktion ist schon wieder auf Nervtour“, antwortete Leon.

„Hast du deinen Geheimauftrag bis in die Nacht ausgeführt? Du siehst aus, als hättest du gar nicht geschlafen“, sagte der Sportreporter.

„Volltreffer. Ich habe nach langer Zeit mal wieder Koblenz unsicher gemacht. Zudem hat ein echter Reporter niemals frei, ausgenommen vielleicht der Sportredakteur, der hat außer samstags immer Feierabend.“ Er lächelte bei diesen Worten, denn sie weckten erneut die Erinnerungen an Sophie und die herrliche Nacht. Und von dem Geheimauftrag musste erst einmal gar niemand etwas mitkriegen.

„So, ich muss noch mal los. Außendienst.“ Leon war froh, sich wieder aus diesem Großraumbüro verkrümeln zu können. Büroarbeit war einfach nicht sein Ding.

Er wollte sich die schriftlichen Unterlagen der Polizei ein wenig näher anschauen und dafür könnte er sich ja auch ein schöneres Plätzchen aussuchen. Er fuhr in ein Café in der Altstadt und blätterte die Aufklärungsmaterialien durch. Sie enthielten für ihn leider nichts wesentlich Neues. Es schien allerdings langsam an der Zeit, die Pizzeria aufzusuchen, in der er mit Jennifer Koch um 12:00 Uhr verabredet war.

„Hallo, Herr Walters, schön, Sie wiederzusehen.“

„Oh, Frau Koch, Sie sind bereits da. Die Freude ist ganz meinerseits. Warten Sie schon länger?“

„Nein, ich bin vor zwei Minuten gekommen. Sie müssen bitte entschuldigen, wie sich mein Sohn beim letzten Mal benommen hat. Das ist mir nach wie vor wirklich sehr unangenehm.“

„Machen Sie sich darüber nicht zu viele Gedanken. Jeder hat einmal einen schlechten Tag.“

„Ja, wenn es nur das wäre …“ Jennifer Koch brach in Tränen aus. Leon suchte nach einem Taschentuch.

„Lassen Sie mal, ich habe eines. Danke.“

Sie bestellten etwas zu essen und zu trinken und Leon begann mit den ersten Fragen.

„Stehen geblieben waren wir beim letzten Mal an dem Punkt, ob es Julian mit dem Medikament spürbar besser gegangen war.“ Leon schaute fragend zu Jennifer.

„Ja, genau. Also, die Lehrer waren schon zufriedener mit seinem Verhalten in der Schule, quasi der Handhabbarkeit von Julian und gaben mir das einige Male als Rückmeldung zu verstehen. Julian wirkte konzentrierter und ausgeglichener, die Schulleistungen wurden allerdings höchstens minimal besser. Einige aus einer Selbsthilfeorganisation sagten zu mir, man könne mit dem Medikament aus einem Volkswagen auch keinen Porsche machen. Es sei schließlich keine Intelligenzpille.“

„Okay, aber gewisse positive Veränderungen waren für Sie wahrnehmbar?“, fragte Leon.

„Ja, das kann ich bestätigen.“

„Was sagte Julian selbst zur Medikation?“, fragte er.

„Das ist schade, dass er Ihnen das nicht selbst erzählen wollte. Es ist gar nicht so leicht, das zu wiederholen. Er sagte, es fühle sich seltsam an. Er sei zwar ruhiger, konzentrierter, fühle sich dennoch im eigenen Körper wie fremd. Alles sei emotional wie gepuffert, fühle sich ein wenig stumpf an. Ein mitfühlendes Verbundensein mit anderen gelinge ihm kaum noch. So ähnlich hat er es, glaube ich, ausgedrückt.“

„Hmm, das klingt ja nicht gerade wie der Brüller. Ist ja viel Negatives dabei. Wie sehen Sie das?“ Leon schaute skeptisch.

„Ja, nach außen hin funktionieren die Kinder und Jugendlichen besser, aber sie stumpfen ab und entwickeln sich in ihren Erfahrungen und Gefühlen nicht so wie die Klassenkameraden.“ Jennifer Koch kämpfte wieder mit ihren Gefühlen und Tränen.

„Wirklich schwierig zu sagen, was da richtig und falsch ist. Da haben Sie es als Mutter wirklich nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen.“ Leon konnte jetzt wirklich mitfühlen.

„Ja, deshalb wollte ich das Zeug so schnell wie möglich wieder absetzen. Ich war hin- und hergerissen und bekam immer mehr Zweifel an der Richtigkeit der Medikation.“

„Und wie ging es weiter? Nach dem Absetzen, meine ich.“

„Er fühlte sich durch die Auffälligkeiten vorher und dann durch die Diagnose und die Behandlung sowieso immer anders als die anderen. Für sein Selbstwertgefühl pures Gift. Nach dem Absetzen wurde das dann eher schlimmer. Die anderen zogen sich immer weiter zurück. Es gab keine Freunde und später keine Freundinnen mehr, während die Klassenkameraden alle Spaß zu haben schienen. Erfolgserlebnisse blieben aus. Rückwirkend betrachtet, ist jetzt eigentlich klar, dass dies in eine Drogenproblematik führen musste. Ich würde heute sagen, er wurde nach dem Absetzen depressiv.“

„Klingt ja wirklich katastrophal. Wurde denn vorher darüber aufgeklärt?“, fragte Leon.

„Ach was. Die Pillen wurden völlig verharmlost, fast wie Bonbons und es hieß, es gäbe sowieso keine Alternative.“

„Schlimm. So kann man nicht mit Menschen und erst recht nicht mit Kindern umgehen.“ Leon war fassungslos.

„Tja, und dann hatte mein lieber Julian herausgefunden, dass die Medikamente in Drogenkreisen als Speed verkauft werden. Dreimal dürfen Sie raten, was er gemacht hatte. Und als es mir auffiel, war es zu spät. Ich mache mir solche Vorwürfe.“

Die Nudeln und die Pizza kamen. Doch irgendwie war ihnen der Appetit vergangen. Sie stocherten ein wenig lustlos in ihrem Essen herum, sodass der freundliche Italiener ganz besorgt mit dem typisch italienischen Akzent fragte: „Ist alles in Ordnung? Schmeckt es Ihnen nicht?“

„Doch, doch, alles in Ordnung. Wir hatten nur das falsche Thema und uns ist ein wenig der Appetit vergangen“, erwiderte Leon.

„Soll ich es einpacken?“

„Nein, der Hunger kommt sicher gleich wieder“, sagte Leon mit einem Lächeln.

Der Ober ging ein wenig irritiert von dannen.

„Hat Julian eigentlich gekauft oder verkauft?“

„Gekauft und natürlich wurde ihm früher oder später gesagt, es gäbe da noch viel bessere Leckerlis.“ Jennifer Koch wurde wütend.

„Wo hatte Julian das Zeug überhaupt her?“, fragte Leon nach einer kleinen Pause.

„Wie gesagt, es wird als Speed oder Billig-Koks verkauft. Es sind sogar oft die jüngeren Schüler, die es auf Rezept bekommen und an die älteren auf dem Schulhof verkaufen. Und die härteren Sachen, die bringen die eigentlichen Dealer über Schülerboten an die Schulen.“

„Auweia, das hätte ich genau anders herum erwartet“, sagte Leon. „Die Kleinen verkaufen also an die Großen. Wahnsinn.“

„Wissen Sie, was auch ein Hammer ist? Inzwischen bin ich ja für das Thema sensibilisiert. Es gibt haufenweise Kinder, die von ihren Kindergärtnerinnen oder Lehrern über die Eltern gezwungen werden, Infantocalm zu nehmen, weil die Kinder so leichter zu handhaben sind. Infantocalm oder Rauswurf ist die Devise. Die Eltern werden also unter Druck gesetzt und die sehen sich genötigt, um nicht als Rabeneltern dazustehen, ihren Kindern Drogen zu verabreichen.“

„Das gibt’s doch nicht.“ Leon schüttelte heftig seinen Kopf.

„Leider, wir Erwachsenen machen es uns bequem, befriedigen unser Bedürfnis und stellen unsere Kinder ruhig. Deshalb hat es bei mir ja auch gewirkt. Erst heute sehe ich, dass es Alternativen gibt, über die niemand aufklärt.“

„Und die wären?“, fragte Leon gespannt und gleichermaßen erwartungsvoll.

„Es gibt Ansätze über eine gesunde Ernährung und Nahrungsergänzungen, die Wirkungen zeigen. Und natürlich auch Zuwendung, Spiele und Gespräche mit den Kindern. Andersherum gibt es keine vernünftigen Nachweise, dass schulische Leistungen unter Infantocalm wirklich besser oder die Ursachen der Reizüberflutung beseitigt werden. Sie werden nur unterdrückt.“

„Wir müssen unbedingt in der Öffentlichkeit mehr Wirbel um das Thema machen. Eltern sollten das wissen, um ihre Kinder schützen zu können.“ Leon war erstaunt, über dieses Thema kaum etwas gehört oder gelesen zu haben.

„Ja, in anderen Ländern wurde es verboten oder es gibt Protestbewegungen gegen Infantocalm. Deutschland schläft auf diesem Gebiet. Leider.“ Jennifer Koch redete sich in Rage.

„Meinen Sie nicht, wir kriegen Julian doch noch einmal dazu, über seine persönlichen Eindrücke zu reden?“, fragte Leon.

„Ich werde es versuchen, aber Sie haben ihn ja erlebt. Im richtigen Moment erwischt, geht es vielleicht. Er ist eigentlich ein ganz Lieber.“

„Das glaube ich Ihnen. Rufen Sie mich einfach an, wenn er es sich vorstellen könnte. Hier ist noch mal mein Kärtchen.“

„So, jetzt haben wir doch noch brav aufgegessen“, sagte Jennifer. Ihr schien es nach diesem Gespräch ein wenig besser zu gehen.

Leon zahlte und sie gingen beide gemeinsam nach draußen.

„Danke, Herr Walters, dass Sie sich des Themas annehmen werden und für das Essen. Das Gespräch mit Ihnen hat mir wirklich gutgetan. Wissen Sie, ich kann ja mit niemandem sonst darüber reden.“

„Ich danke Ihnen für die Informationen. Wir werden jetzt sehen, was wir daraus machen können. Ich muss noch ein wenig weiter recherchieren. Ein paar Tage müssen Sie Geduld haben. Bei diesem Thema sollten wir gut aufpassen. Die Pharmaindustrie wird es sicher nicht mit Begeisterung aufnehmen, wenn wir versuchen werden, die Gegner von Infantocalm zusammenzubringen.“

„Sie haben recht, Herr Walters. Danke nochmals. Einen schönen Tag noch.“

„Den wünsche ich Ihnen ebenfalls.“ Er verabschiedete sich und sie gingen in entgegengesetzte Richtungen.

Der meergrüne Tod

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