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Der nächste Fall

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Die nette Kellnerin brachte für beide das gleiche Frühstück. Während sie ihre Brötchen schmierten, belegten und aßen, begann Jennifer Koch ein wenig zu erzählen.

„Wissen Sie, ich habe mich immer bemüht, eine gute Mutter zu sein. Nach dem Tod von Julians Papa sicher noch mehr. Ich habe versucht, ihm Vater und Mutter gleichzeitig zu sein. Natürlich geht das nicht, wie mir im Laufe der Zeit immer klarer wurde. Doch das jetzt …“ Sie weinte.

Leon reichte ihr ein Taschentuch.

„Entschuldigen Sie.“

„Ach was, das ist völlig in Ordnung.“ Er nahm tröstend ihre Hand und sie schaute ihn freundlich an. „Was ist denn nun eigentlich passiert?“, nahm er das Gespräch wieder auf.

Ihr Gesicht wechselte wieder ins Sorgenvolle.

„Gegen Ende der Grundschulzeit ging das alles los. Als Julian in der dritten Klasse war, hatte sein Vater einen Unfall. Er war ja nie viel zu Hause. Für einen Maschinenbaukonzern war er in der ganzen Welt auf Montage. Alle paar Wochen war er mal für eine knappe Woche auf Heimaturlaub. Manchmal sind wir auf Firmenkosten für einige Tage ins jeweilige Einsatzland geflogen und haben ihn dort besucht. Julian war diesbezüglich also gar nicht übermäßig verwöhnt. Eines Tages kam jedoch tatsächlich die immer wieder befürchtete Nachricht.

Ein Vorgesetzter von Achim kam und klingelte. Da wusste ich schon, dass etwas nicht stimmte. Achim war unter einen großen Stahlträger geraten. Mit den Sicherheitsvorschriften haben die es am Ende der Welt oft nicht so genau genommen. Das hatte Achim häufig erzählt und bescherte mir natürlich die eine oder andere Sorge. Anfangs regte es ihn sogar selbst noch auf, doch irgendwann kapitulierte er und arbeitete nach deren lockeren Regeln. Heute muss ich sagen: Leider gab er dort seine Zwänge auf, die mich sonst gewaltig an ihm nervten. Einige Tage konnte ich es Julian einfach nicht sagen. Doch die Beerdigung rückte näher und ich musste dann …“ Sie weinte erneut. Leon strich ihr ein wenig über den Rücken. Es schien ihr nicht unangenehm zu sein.

„Ich verstehe. Sie haben schwere Zeiten hinter sich“, sagte Leon.

„Oh ja. Wir haben das alles gemeinsam miteinander durchgestanden und ich weiß manchmal nicht, wer wem mehr Stütze war. Irgendwie konnte Julian hierdurch nie so richtig Kind sein, glaube ich heute. Er war mehr ein Ersatzpartner. Auch wenn ich oft versucht habe, dies unter allen Umständen zu verhindern. Automatisch lief es immer wieder ein wenig darauf hinaus.“

„Sie sprachen vorhin von Drogenproblemen.“ Leon versuchte, wieder auf das eigentliche Thema zurückzulenken.

„Lassen Sie mich erst einmal weitererzählen“, sagte sie und verdeutlichte hiermit ihr Bedürfnis, mit irgendjemandem einmal darüber reden zu müssen.

„Klar.“ Leon nickte dabei verständnisvoll.

„Julian wurde gegen Ende der Grundschulzeit ständig zappeliger und unkonzentrierter. Die Lehrer bestellten mich immer häufiger in die Schule oder riefen zwischendurch an und baten mich, mit Julian zu einem Kinderpsychologen oder einem Psychiater zu gehen. Glauben Sie mir, das war ein Schock für mich. Mein einziger Halt, weshalb ich überhaupt noch das Leben ertragen konnte, sollte krank sein, gestört oder wie auch immer Sie das nennen wollen. Und natürlich machte ich mir sofort Vorwürfe. War ich das? Habe ich ihn überfordert?“

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Leon.

„Haben Sie Kinder, Herr Walters?“

„Nein.“

„Glauben Sie mir, dann fällt es schwer, das in der ganzen Tragweite nachzuvollziehen. Wenn mit Ihrem Kind etwas ist, das tut viel mehr weh, als wenn Sie selber etwas Schlimmes hätten. Na, jedenfalls kam dann natürlich raus, Julian hätte ADHS. Sie wissen, was das ist?“

„Ja, ich denke schon: Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom.“

„Genau, so nannte man das lange Zeit. Mir wurde dann auch sehr schnell ein Medikament empfohlen. Der Kinderpsychiater sagte, niemand hätte Schuld an diesem Problem. Es sei eine Stoffwechselstörung, wie zum Beispiel Diabetes. Mit dem Medikament würde alles besser. Ich sollte mir keine Sorgen machen. Also bekam Julian ein Medikament, das ganz neu auf dem Markt war und genau das Stoffwechselproblem beseitigen sollte: Infantocalm. Tatsächlich merkte ich, wie er ruhiger wurde und die Lehrer sagten ebenfalls, es wäre eine deutliche Besserung eingetreten. Er sei konzentrierter und störe nicht mehr den Unterricht.“

„Ja, das wurde viele Jahre lang immer häufiger diagnostiziert und genau so behandelt, wie bei Ihrem Sohn, soweit ich das mitbekommen habe.“

„Doch ganz geheuer war mir das nicht, meinem Kind ständig ein Medikament, nahe verwandt mit drogenähnlichen Substanzen, zu verabreichen. Ich wurde immer wieder unsicher. Als es dann in der Schule einigermaßen zu laufen schien, und er 15 Jahre war, beschloss ich: Jetzt reicht es. Wir versuchen es ohne Medikamente.“

„Und hat es funktioniert?“, fragte Leon.

„Es schien jedenfalls zunächst so. Wir gingen ganz langsam mit dem Infantocalm in der Dosis runter und setzten es dann ab. Julian blieb genauso, wie vorher. Bis ich dann vor Kurzem entdeckte, dass Julian …“ Wieder musste Jennifer Koch weinen und stockte. „Julian probierte alle möglichen Drogen aus und ich bekomme ihn nicht mehr davon weg. Wir haben seither riesigen Ärger miteinander. Er hängt immer mit denselben Kumpels ab und die hängen natürlich genauso in den Drogenproblemen drin. Er bräuchte einfach einen anderen Umgang. Ich habe mit seiner Klassenlehrerin gesprochen. Sie sagte mir, ihr sei aufgefallen, dass er in seiner Gefühlswelt für sein Alter viel zu kindlich geblieben sei. Konflikte mit den Klassenkameraden halte er kaum aus und er könne sich einfach nicht altersgemäß wehren, wirke dann hilflos, habe sogar häufiger geweint. Seine Lösungen sind offensichtlich die Drogen und seine Kumpels machen es genauso. Andere männliche Vorbilder hat er leider keine. Zu den Psychiatern habe ich inzwischen natürlich ebenfalls kein Vertrauen mehr. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.“

„Okay, das ist ein ganz schöner Brocken, den Sie da zu schlucken hatten und haben.“

„Das können Sie laut sagen.“

„Was ich bisher nicht verstehe, ist, wie ich Ihnen helfen könnte.“ Leon schaute sie fragend an.

„Die Drogen kriegen sie sogar in der Schule auf dem Pausenhof. Damit wird natürlich ein riesiges Geschäft gemacht. Niemand unternimmt etwas. Alle schauen nur hilflos zu. Ich habe eine Scheißwut und könnte kotzen, entschuldigen Sie den Ausdruck. Wenn Sie einen Artikel über die Drogen an den Schulen in Koblenz verfassen würden, dann müsste die Schule langsam aufwachen und etwas unternehmen oder die Polizei oder egal wer. Hauptsache die Drogen kommen weg. Wenigstens die nachfolgenden, jüngeren Kinder sollen nicht dasselbe durchmachen müssen.“

„Alles klar, dann verstehe ich, was Sie meinen. Natürlich muss ich mir in der Sache erst einmal weitere Informationen beschaffen, recherchieren und kann nichts versprechen. Das scheint mir ein sehr heißes Eisen zu sein.“

„Bitte, Herr Walters, glauben Sie mir, ich weiß nicht mehr weiter, sonst würde ich nicht die Presse um Hilfe bitten.“

„Ich sehe, was ich machen kann. Sie hören von mir.“

Sie tranken die letzten Reste ihres Kaffees aus und verabschiedeten sich.

„Arme Socke“, dachte Leon. „Sie hat ganz schön was hinter sich.“

Der meergrüne Tod

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