Читать книгу Der meergrüne Tod - Hans-Jürgen Setzer - Страница 14
Zur gleichen Zeit in der Konzernzentrale von Provita, München
Оглавление„Wir müssen die nächste Welle des Projektes Zappelmaus planen. Heute um 14:00 Uhr wird in einer Vorstandssitzung darüber entschieden. Es geht um die Freigabe hoher Summen. Vorher sollten wir allerdings unsere Vorschläge für die Sitzung noch einmal abstimmen. Wollen wir uns heute beim Mittagessen kurz darüber unterhalten? Wir hatten bisher keine Gelegenheit unsere Ideen auszutauschen.“
Der 50-jährige Herr mit Glatze, Hornbrille und im dunklen Anzug mit Krawatte sprach die Worte in sein hörerloses Telefon. Es schien sich um eine Konferenzschaltung zu handeln, denn es kamen mehrere Antworten gleichzeitig. Eine jüngere Damenstimme sagte auf eine gewisse frische, fast schnippische Art zu und eine weitere Herrenstimme, im mittleren Lebensalter, tat das Gleiche, jedoch im Tonfall eher unterwürfig.
„Fein, dann sehen wir uns um 12:00 Uhr in der Kantine. Wir nehmen den Besprechungstisch am Fenster. Ich lasse ihn reservieren. Bis nachher.“
Professor Daniel Meggle machte ein zufriedenes Gesicht. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Seine Abteilung Absatzinnovationen brachte dem Unternehmen seit über zehn Jahren explodierende Umsatzzahlen, ihm damit immer weitere Vergünstigungen und weitgehend freie Hand. Er wusste jedoch, dass ein Umsatzeinbruch jederzeit sein eigenes Ende einläuten könnte. Es hieß also, wachsam zu sein und immer neue Ideen zu entwickeln.
Mit einem Grinsen und voller Genugtuung betrachtete er die Bilder von all den Urlauben, die er als Anerkennung seiner Leistungen erhalten hatte und sich hinter ihm an der Wand befanden. Für jede Absatzsteigerung, um weitere zehn Millionen Umsatzeinheiten pro Jahr, erhielt er mit seinem Team einen kostenlosen Traumurlaub von zwei Wochen. Das sollte Kreativität und Zusammengehörigkeitsgefühl fördern und die Leistungen positiv erhöhen. Somit hatten sich einige schöne Trips ergeben, erkennbar an seiner Bildergalerie. Natürlich kamen sich die Teammitglieder bei solchen ausgelassenen Events oft menschlich und nicht zuletzt auch schon mal körperlich näher. Mal mehr, mal weniger freiwillig. Jedenfalls, was die weiblichen Mitreisenden betraf. Er betrachtete ein Foto mit einer drallen Blondine, mit der er sich mehr als glänzend zu verstehen schien. Doktor Tatjana Meissner, auf dem Bild als Urlaubstrophäe in seinem Arm, hatte inzwischen andere, höherwertigere Aufgaben vom Vorstand erhalten. Sie sahen sich kaum noch. Geschadet hatte es ihr also nicht, sich Professor Meggle gegenüber nicht abweisend gezeigt zu haben, obwohl er mindestens ihr Vater hätte sein können.
„Mal sehen, wie es mit der Neuen läuft“, dachte er. Kurz schaute er noch einmal die Personalakte durch. Marie Köhler, längeres, gewelltes rötliches Haar. Auf dem Foto in der Akte zeigte sie ein gewinnendes Lächeln. Top-Abschlüsse. Sowohl einen Doktorgrad in Biochemie als auch einen Master of Business Administration von der Harvard-University. Gerade 35 Jahre alt geworden. „Schlau und bildhübsch, eine gefährliche Kombination, aber eine vielseitig nutzbare. Hoffentlich“, dachte Professor Meggle, Team- und Abteilungsleiter für Absatzinnovationen. Er brauchte frischen Wind und neue Ideen. Für ihn war es ein weiteres wichtiges Kriterium, dass sie, laut ihrer Akte, erfüllte: ledig und ohne Kind.
Doktor Marie Köhler kam fünf Minuten vor zwölf, schaute sich im Speisesaal um. Ihr Chef und ihr Kollege waren noch nicht anwesend. Sie stellte ihre Aktentasche am reservierten Besprechungstisch ab und schaute schon einmal nach, was heute auf dem Speiseplan stand. „Königsberger Klopse oder Bratwurst mit Kartoffelpüree und Rotkraut“, las Marie auf der Tafel hinter der Essensausgabe. „Hm, alles zu schwer und zu fett“, dachte sie.
„Na, schon gewählt, Frau Kollegin?“, hörte sie eine laute Stimme hinter sich sagen.
„Ah, Herr Professor Meggle, schön Sie zu sehen. Ich glaube, für mich darf es heute ein leichter, frischer Salat sein.“
„Frau Doktor Köhler, immer auf die Linie bedacht. Ich werde mir die Klopse gönnen, in der Hoffnung keine eigenen Klopse zu machen. Man gönnt sich ja sonst nichts und bei meiner Figur ist sowieso nichts mehr zu retten. Kommen Sie, wir holen schon mal unser Essen. Herrn Rathke habe ich eben gesehen. Er müsste also gleich zu uns stoßen. Sie kennen sich bereits?“
„Ja, wir haben uns auf einem Kongress kennengelernt, letztes Jahr in Oregon“, antwortete sie und bestellte sich eine kleine Salatplatte.
„Ah, fein. Dann können wir ja gleich ganz schnell zum Arbeiten übergehen. Stärken wir uns aber erst ein wenig. Apropos Kongress. Wir sehen uns ja bald schon wieder auf dem Hirnforscherkongress in Berlin, übermorgen. Da findet sich bestimmt auch nebenher Gelegenheit, uns besser kennenzulernen. Und mit Ihrem bisherigen Chef habe ich mich geeinigt, dass Sie in einer Woche endgültig hier in die Zentrale wechseln werden. Er braucht Sie noch kurz, wenigstens halbtags, für die Übergabe an Ihre Nachfolgerin“, sagte er. „Er jammert Ihnen vielleicht hinterher, kann ich Ihnen sagen. Da scheinen Sie ja einen sehr guten, bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. Glückwunsch.“
Professor Meggle zahlte an der Kasse für sie beide.
Sie setzten sich an den Tisch und machten neben dem Essen ein wenig Small Talk.
„Ah, Herr Rathke. Wir haben bereits ohne Sie angefangen. Wir fielen fast um vor Hunger“, sagte der Professor lachend. „Wie ich gehört habe, kennen Sie beide sich ja schon. Das vereinfacht unser kleines Geschäftsessen.“
Nach dem Essen tauschten sie die wichtigsten Informationen für die kommende Besprechung aus. Allerdings bedeutete dies für heute, dass Professor Meggle die beiden bat, sich ganz herauszuhalten, einfach ihn reden zu lassen. Für diese Vorstandssitzung wäre der exakt auf den Punkt getroffene richtige Tonfall wichtig, weil es um viele Millionen an Mittelzuweisungen für die Abteilung gehe, und er die Vorlieben der Vorstände seit Jahren kenne. „Sie bekommen alle Ihre Chance, um sich zu profilieren. Keine Angst“, sagte Meggle. Damit war den beiden klar, dass sie heute nur als schmückendes Beiwerk von Professor Meggle gebraucht werden würden, quasi als Tischdekoration.