Читать книгу Der meergrüne Tod - Hans-Jürgen Setzer - Страница 12
Ein Unglück kommt selten allein
ОглавлениеLeon fuhr zurück in die Redaktion. Es wurde langsam Zeit, weiter über Infantocalm und den Hersteller Provita zu recherchieren. Er wollte versuchen, die persönlichen Erfahrungen von Jennifer Koch und Julian in einen Gesamtzusammenhang einzubetten. Wichtig wäre es vor allem, Erfahrungen anderer Kinder, Jugendlicher und deren Eltern mit dem Medikament und der Erkrankung kennenzulernen. Hierfür boten sich Internetforen geradezu an, dachte sich Leon.
„Kriegt man von dir eigentlich einmal etwas in unserer Zeitung zu lesen?“, kritisierte der Kollege vom Sport.
„Gute Artikel in meiner Kolumne brauchen halt ein wenig mehr Arbeit und Grips wie ein 0:2 der Koblenzer Fußballer“, antwortete Leon ein wenig verärgert. So langsam wurde der Kollege unverschämt und Leon fand ihn alles andere als lustig mit diesen bissigen Kommentaren. Ein weiterer Grund, weshalb er mittlerweile seine Zeit lieber außerhalb des Büros verbrachte. Wie sollte er sich hier konzentrieren, umgeben von diesen Pappnasen. Er wollte versuchen, wenigstens ein paar Stunden in der Woche präsent zu sein, um nicht allzu unangenehm aufzufallen. Der alte Paffrath passte schließlich auf wie ein Schießhund.
„Sei mir nicht böse, Kollege, manche sind tatsächlich hier, um zu arbeiten. Ich muss mich auf einen schwierigen Artikel konzentrieren, muss hier leider noch ein paar Recherchen machen, bevor ich mich wieder in den Außendienst stürzen kann. Plaudern können wir gerne bei deiner Arbeit auf dem Fußballplatz am Wochenende.“ Er schmunzelte und ging davon aus, jetzt Ruhe zu haben.
„Schon gut, Walters, ich muss selbst gleich los. Interview mit dem neuen Koblenzer Teamchef. Hast also jetzt deine Ruhe vor mir.“
Leon suchte über verschiedene Suchbegriffe im Internet nach Patienten-Selbsthilfe-Seiten und Diskussionsforen zum Thema Infantocalm, Provita und ADHS. Das meiste war negativ. Berichte über Nebenwirkungen, Spätfolgen und so weiter. Jedoch kamen dann immer direkt hinterher schlichtende Kommentare, die Infantocalm wieder positiver und als Segen der Menschheit erscheinen ließen. „Klar, die Pharmafirmen posteten mit. Wie soll es auch anders sein. Sicher gibt es eine ganze Abteilung im Marketingbereich des Konzerns, die nichts anderes als Aufgabe hat. Objektiv ist das hier in den Foren wohl eher nicht“, bemerkte er. Plötzlich hatte er die zündende Idee, die weitere Recherchen vereinfachen könnten. Er postete eine Frage mit hinterlegter Email-Adresse im System: Betroffene mit ADHS für Gründung einer Interessengegemeinschaft im Bereich Koblenz gesucht.
Nun würden die Betroffenen ihn suchen, nicht mehr umgekehrt und letztendlich könnte man daraus vielleicht wirklich eine Gruppe formen, die für alle nutzbringend sein könnte.
Leon stieß in einem recht regen Forum auf die Nachrichten einer selbst von ADHS Betroffenen, außerdem noch mit einem ebenfalls betroffenen Kind. Folgendes war zu lesen:
Mein Sohn bekommt immer mehr Probleme durch sein Medikament, neben denen, die er durch ADHS sowieso schon hat. Die Klassenkameraden nennen ihn einen Junkie oder einen Drogensüchtigen. Leider merkt er nun auch noch, dass seine ihn umgebenden vertrauten Personen, wie Großeltern, Tanten, Eltern von Freunden ebenfalls gegen die Medikamente sind. Sie zeigen ihm das bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Das tut echt weh, es mit anzusehen. Sie nennen ihn manchmal auch Zombie oder sagen, er wäre ja nur unter Dope lebensfähig. Er fühlt sich behindert, bleibt natürlich von den ganzen Sprüchen aus seiner Umgebung nicht unbeeindruckt. Wir als Familie fühlen uns inzwischen einfach alle zwischen den Stühlen sitzend und wissen keinen Rat mehr.
Leon beeindruckten diese Zeilen sehr und er war zutiefst betroffen. So hatte er das bisher noch gar nicht gesehen. Da gab es ja wirklich die hilflosen, besorgten Eltern, die vieles, wenn nicht sogar alles was möglich war, ausprobiert hatten und für die Infantocalm der letzte, greifbare Strohhalm war. Vielleicht war die Gabe des Medikamentes ja nicht immer falsch. Leon bekam Zweifel. Er wollte sich unbedingt mit dieser Frau und ihrem Sohn treffen. Er brauchte mehr Klarheit, ob er mit seinen bisherigen Recherchen überhaupt auf der richtigen Spur war.
Er schrieb ihr eine Nachricht über die Internetseite und bat um ein Treffen, weil er einerseits einen Artikel über ADHS schreiben wollte, andererseits mit dem Aufbau einer Interessengemeinschaft beschäftigt sei. Er dachte, so leichter an die Dame, die sich Svenja nannte, heranzukommen. Prompt kam bereits einige Minuten später eine Antwort:
Bin gerne zu einem Treffen bereit. Geben Sie mir Ihre Handynummer?
Leon antwortete unter Herausgabe seiner Nummer. Etwa fünf Minuten danach klingelte sein Telefon.
„Leon Walters.“
„Hallo, hier ist Svenja. Sie wollten sich gerne mit mir treffen?“
„Wow, Sie sind ja fix. Die Mail habe ich gerade erst geschrieben. Ein Treffen, natürlich sehr gerne. Ich schreibe an einem Artikel über ADHS und Infantocalm. Ihre Worte im Forum haben mich sehr aufgewühlt.“
„Echt, wieso denn das?“, fragte die sehr jung klingende Frauenstimme.
„Sie haben mir sehr deutlich gemacht, wie hoch auch ihr Leidensdruck als Mutter ist. Außerdem wurde mir dabei klar, dass die Kinder selbst sich stigmatisiert fühlen durch ihre Umgebung, wenn sie Infantocalm oder Ähnliches nehmen.“
„Ja, das stimmt. Sie klingen sehr nett, Herr Walters. Ich denke, wir können uns bald einmal treffen.“
„Danke. Wo und wie wollen wir uns denn kennenlernen?“, fragte Leon.
„Da wir ja beide in Koblenz leben, wenn ich Ihre Mail richtig verstanden habe, sollte das kein Problem sein. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, wenn wir uns an einem neutralen Ort treffen. Wir kennen uns ja nicht und bei Bekanntschaften über das Internet bin ich lieber vorsichtig.“
„Natürlich, das ist sehr vernünftig und kein Problem für mich. Machen Sie einfach einen Vorschlag, der für Sie akzeptabel wäre“, antwortete er.
„Wie wäre es am Moselufer der Statt-Strand? Kennen Sie den?“
„Okay. Und wann?“, fragte Leon.
„Wenn es bei Ihnen gleich geht, dann gerne in einer halben Stunde. Wir treffen uns an der Cocktail-Bar.“
„Fein. Dann bis gleich. Halt, wie erkennen wir uns?“ Zum Glück hatte Leon noch nicht eingehängt.
„Ich trinke einen auffälligen Cocktail mit einem schwarz-weiß gestreiften Schirm und bleibe an der Bar.“
„Gut. Wir werden uns schon nicht verpassen.“ Leon legte auf und machte sich direkt auf den Weg.