Читать книгу Frequenzwechsel - Hans Patschke - Herausgeber Jürgen Ruszkowski - Страница 10
Der erste Dampfer unter britischer Flagge – „GABOON“
ОглавлениеGlauben und Hoffen darauf wurden dann auch tatsächlich nach nur 24 Tagen Krankspielen irgendwie unverhofft belohnt. In meinem Hamburger Quartier bei Vossens wohnte seit Jahren zeitweilig ein Schiffskoch, der nur auf „Engländern“ fuhr und bei der englischen Mannschaftsannahme am Schaarsteinweg als Arbeitsuchender wartete. Der Koch, Herr T. und ich harmonierten miteinander ein wenig, er war auch gebürtiger Ostpreuße. Eines Tages wurden also vom Heuerbaas der Engländer zwei befahrene deckboys mit Kenntnis des Englischen gesucht und momentan nicht gefunden, und da holte mich mein „Nachbar“ ohne Verzug zur genannten Heuerstelle. Man befand mich nach pro forma Austausch von ein paar englischen Brocken als Decksjunge für die „GABOON“ - Reederei, Elder Dempster & Co / Liverpool - geeignet, und ab ging es nach dem britischen Generalkonsulat zur amtlichen Musterung. Dort gab es nach Erledigung der Formalitäten für jeden gemusterten Mann von einem Reederei-Vertreter eine “advance-note“ (Vorschuss-Bescheinigung) in halber Höhe der Heuer des betreffenden als irgendwer angemusterten Seemannes. Bei den Engländern war diese Art Bevorschussung irgendwie gesetzliche Vorschrift. Die Note war ein bedrucktes Stück Papier – Schiffsname, Reederei, Name und Vorname des gemusterten Schiffsmannes, Dienstgrad und Vorschussbetrag - und sozusagen ein zu beleihender Berechtigungsschein des vorzeigenden Seemannes, den der Eigner bzw. Reeder oder dessen Agent ab drittem Tag nach Verlassen des Schiffes aus dem letzten europäischen Festlandhafen dem Beleiher in bezeichneter Höhe der Vorschusssumme in englischer Währung auszahlte. So weit, so gut, die Sache hatte nur den einen Haken, jemand zu finden, der den Gutschein einzulösen bereit war, bzw. den Angemusterten gut und zuverlässig für die Einwechslung des Vorschussbetrages erachtete. Das war bei vielen oder zumindest manchen der gemusterten Seeleute ein schwieriger Punkt, sie waren als Verschwender zwar überaus beliebt, aber als Garanten für geschäftliche Vereinbarungen z. T. unzuverlässige Partner, daher im schlimmsten Fall für den Einlöser nur dankbare Ausbeutungsobjekte. Verheiratete Seeleute waren gut dran, sie gaben den Vorschussschein den Ihren, andere vertranken ihn unterpari oder lösten ihn mehr schlecht als recht beim „Juden“ (Seemannsausrüster) gegen Ware oder bei leichten Mädchen gegen billige Liebe ein. Das Risiko einer finanziellen Bauchlandung bei diesem Wechselgeschäft konnte unter widrigen Umständen jeden, nur niemals den neuen Arbeitgeber selber treffen. Wer zum anderen noch Geld auf der „hohen Kante“ hatte, der verzichtete besser auf seinen Vorschuss und gab seine „advance note“ nach Einschiffung dem Zahlmeister an Bord zurück. Für englische Schiffe war es im Übrigen damals typisch, dass zumindest für die Mannschaftsdienstgrade Heuerabschlüsse für nur eine Reise - z. B. von Hamburg bis Hamburg oder bis erstem Europahafen - getätigt wurden. Man musste also beispielsweise in Hamburg bei Rückkehr wieder abmustern und, falls einem das Schiff gefiel, doch vor Antritt der nächsten Reise neu anmustern. Während der Liegezeit seines „Potts“ in Hamburg war man ohne Verdienst, eventuell wochenlang. Die englischen Heuern waren an sich damals höher als die deutschen. Überstunden wurden jedoch beim Engländer nicht bezahlt, man musste sie je nach Maßgabe der Schiffsleitung abbummeln, selten im Hafen, meistens auf See. Das Entgelt „unterm Strich“ war also, im Grunde genommen, um nichts besser als die Entlohnung auf deutschen Schiffen. Im Gegenteil, es gab auf Ausländern eher Nachteile, weil man ohne Entrichtung der deutschen Sozialabgaben natürlich - z. B. im Krankheitsfall - keinen Anspruch auf deutsche Sozialleistungen hatte. Dem Neuling werden solche Unterschiede meistenteils erst dann klar, wenn die Einsicht zu spät kommt. Zum Glück blieben mir derlei Erkenntnisse erspart. Mein neuer Arbeitgeber war jetzt also die britische Elder Dempeter & Co mit Hauptkontoren in London und Liverpool und einer großen Agentur in Hamburg, eine große und seriöse Reederei, die ihre vielen Schiffe, meist Dampfschiffe, fast ausschließlich in der großen Küstenfahrt nach der Westküste Afrikas beschäftigte. Ihre GABOON, Heimathafen Liverpool, jetzt für wenigstens eine Reise mein „Brotschiff“, war ein handiger Kasten von etwa rund 2.500 BRT, als Stückgutschiff ein so genannter Shelterdecker (durchgehendes Zwischendeck vorn und achtern). Im Vergleich zu HF49 kam mir dieser mein zweiter „Schlitten“ einfach imposant vor, als ob ich eine Hütte verlassen und nun in einem Schloss wohnte - trotz Massenlogis für 12 deckshands. Mein Untersatz gefiel mir auf Anhieb - eine für ein greenhorn verständliche und verzeihliche Einschätzung. Tatsächlich war GABOON eben ein Abklatsch und Erzeugnis ihrer Zeit und keineswegs luxuriös. An Bord unter dem Kommando von Master Small - er war auch figürlich klein - standen über 30 Mann Besatzung aus mindestens einem halben Dutzend Nationen. Die Maschinen-Mannschaftsgrade, Heizer und Trimmer (Kohlenzieher) waren ausschließlich Schwarze, Neger aus den britischen Kolonien Westafrikas. Dieses Sammelsurium von Nationalitäten gab dem Schiff in meinen Augen das Flair des Exotischen und den besonderen „Duft der weiten Welt“. Als angemusterter Decksjunge war ich zwar nur sozusagen der Geringste der Geringen, ich fühlte mich trotzdem als kleiner König und eben auch dazu berufen und ausersehen, mit diesem „Renner“ (das hielt sich in Grenzen) die ferne fremde Welt zu entdecken und zu erobern. Die angesichts der Schiffsgröße relativ starke Decksmannschaft von 6 Matrosen, 2 Leichtmatrosen, 2 Jungmännern und 2 Decksjungen, dazu Boots- und Zimmermann setzte sich bei den „AB‘s“ (Vollgraden) aus älteren, lang befahrenen, in ihrem Fach sehr beschlagenen Leuten zusammen, aus deren Arbeitsweise und seemännischer Tätigkeit ein Neuling praktisch auf Schritt und Tritt etwas lernen konnte. Ich habe daher gleich mit Anbeginn meiner Decksfahrt viel Möglichkeit zum Aufnehmen der damals nötigen seemännischen Handarbeits-Kenntnisse gehabt und auch tatsächlich weitaus mehr auf meinen drei Engländern (es folgten noch zwei weitere) gelernt, als das auf meinen deutschen Schiffen - nach späterer Vergleichsmöglichkeit - der Fall gewesen wäre. Woran das lag? Wahrscheinlich an den verschiedenen Ansichten über Einsatz und Tätigkeit von Junggraden rein äußerlich, inhaltlich war es zum anderen zweifellos begründet durch die, zumindest derzeit andere, eben gemäß deutscher Mentalität gebildete Meinung über die Arbeitsteilung an Bord je nach Rangunterschied und Würde. Auch auf ausländischen Schiffen kannte und kennt man Klassen und Ränge, aber auf ihnen fehlten deutscher Drill und deutsche Arroganz - eine leider typische Eigenart deutscher Menschen, auch wenn sie sich oft nur in absoluter Besserwisserei kundtat und tut. Auf den Engländern jedenfalls waren tatsächliche Leistung und ohne Augendienerei gezeigter Diensteifer wichtig. Aber sei dem, wie es sei, meine ersten knapp drei Monate währende Reise nach der Westküste des mittleren Afrikas nahm also zwei Tage nach meiner Anmusterung ihren Anfang, und auf Aus- und Heimreise wurden in ihrem Ablauf insgesamt 22 Häfen angelaufen, davon 15 an der Küste des schwarzen Erdteils selber. Hin ging es via Rotterdam - Antwerpen - Madeira - Las Palmas, zurück via Las Palmas - Amsterdam - Hamburg. Als GABOON nach Ablegen vom Kai in Hamburg elbabwärts dampfte, durchrieselte mich beim Rückblick auf „meine“ in immer weitere Ferne entschwindende Stadt zum ersten Mal das seltsame Gefühl eines Abschieds mit später oder möglicherweise gar ohne Wiederkehr. Dass es einer von in der Folge unendlich vielen gleichen Abschiedsmomenten war, konnte ich derzeit höchstens ahnen, dass ein solches Valet-Sagen aber ein fester Bestandteil des Seemannseins, ein Teil Seemannslos war, wurde mir jedenfalls in diesem Moment klar und deutlich bewusst. Vielleicht muss bei Verlassen des Heimathafens zum Antritt einer langen Reise jeder Fahrensmann immer wieder so etwas wie seinen „inneren Schweinehund“, die in ihm aufkommenden vagen Zweifel mehr oder weniger erfolgreich besiegen können, wenn er dem erwählten Beruf, seiner Mission, für viele Jahre die Treue halten soll und will. Ein Abschiednehmen gleich welcher Art ist immer schwer, und mag es auch hinterher meistenteils mit einer glücklichen Wiederkehr enden und im Seemannsleben eben das übliche sein, so fordert es im Verein mit anderen ähnlich gelagerten Gefühlssituationen jedem Fahrensmann mindest eine Portion Selbstzucht, gegebenenfalls auch eine gute Prise von gesundem Fatalismus ab. Wahrscheinlich langten aber meine damaligen ersten Erkenntnisse noch nicht für Philosophistereien solcher Art, und das war sicher gut so. SS GABOON dampfte also elbabwärts und legte sich dann wegen starken NW-Sturms nach Passieren Cuxhavens vor Anker. Dort lagen bereits einige andere Schiffe in Ruhestellung, und alle hofften wohl auf eine baldige Wetterbesserung. Neue Erkenntnis für mich: auch Schiffe vom Format der GABOON sind anscheinend verwundbar oder, was noch schlimmer sein dürfte, mit einem zu ängstlichen Capitano besetzt. Was wusste ich damals schon vom Mordbuben Nordsee bzw. von den gefährlichen Sänden links und rechts des Fahrwassers der Elbmündung. Das heißt, viel Zeit zum Nachdenken hatte ich nicht, auf einem auslaufenden Schiff gibt es genügend Arbeit, dazwischen die betuliche Bedienung von Boots- und Zimmermann und der Herren Matrosen bei den Mahlzeiten, und die scheuchten derzeit einen „Moses“ recht kräftig durch die Gegend. Immerhin gelangten wir nach langem Abwarten, viel Regen und Sturm schließlich trotzdem erst nach Rotterdam, dann Antwerpen, ohne dass ich der Schiffsleitung eine Weg-Belehrung zu geben brauchte. Die genannten beiden Hafenstädte fand ich im Übrigen sehr schön und sah sie mir auf meinen mehrstündigen abendlichen Spaziergängen auch wirklich gründlich an, eben weil ich kein „Kleingeld“ für abenteuerliche Exkursionen zur Verfügung hatte. Auch eine erste Erfahrung für später: Allein und mit leeren Taschen unterwegs, du siehst mehr als die Reichen unter deinen Kollegen, die Reichen kommen meist arm heim, die Armen - ausgleichende Gerechtigkeit - kehren reich an Bord zurück, auch wenn der Reichtum nur innere Werte beinhaltet, Erfahrungswerte, die man auf Wunsch weiterreichen kann. Auch späterhin nach reichlicherer Bekanntschaft mit Rotterdam und Antwerpen haben beide großen Handelsmetropolen meine ersten positiven Eindrücke niemals verwischen können, diese eher noch verstärkt. In Antwerpen am letzten Hafenabend bei Rückkehr an Bord – GABOON lag am Scheldekai richtig passend für weite Spaziergänge – fand ich unsere Herren Matrosen in ziemlich aufgeschreckter Stimmung. Sie waren kurz zuvor in trauter Gemeinschaft in einen bereits abgedeckten Laderaum eingestiegen und hatten daraus etliche Ballen feinen englischen Tuches entwendet. Bei dieser unfeinen Handlung, gedacht für privaten Handel an der afrikanischen Küste, hatte sie der „erste Leutnant“ erwischt, und den Übeltätern drohten nun möglicherweise strenge Strafen wegen Einbruchs und Diebstahls. Die Schiffsleitung entschied schließlich recht gnädig: Der Initiator der üblen Angelegenheit, mir persönlich ein höchst unsympathischer Bursche, wurde stante pede gefeuert, die restlichen Beteiligten kamen mit Geldbußen an die Schiffskasse davon. „By Jove“, diesmal war ich nun wirklich, zumindest umstandsbedingt, unbeteiligt gewesen, zum anderen lernt man aus solchen Vorfällen, dass das unerlaubte öffnen einer verschalkten Ladeluke ein Einbruch, dass eventuelle Hinterher des Klauens je nach Sachlage ein weiterer Einbruch oder ein Diebstahl ist. Solches Wissen ist wertvoll, auch wenn man es selber niemals praktisch durchexerzieren möchte. Und dann war GABOON endlich auf der Reise nach dem Süden mit anfänglich ruppiger See im Englischen Kanal und Golf von Biskaya. Rasch erfolgte dann der Übergang in Zonen ruhiger See und milden Klimas. Etwa querab auf Höhe Gibraltar der erste unvergessliche Anblick einer riesigen, aus dem Wasser springenden und elegant wieder eintauchenden Delphin-Herde (Fachausdruck: Schule) unter zartblauer, fast wolkenloser Himmelskuppel. Dann Madeira und die Kanaren, Ansteuern von Inseln, die bei Annäherung des Schiffes von Etappe zu Etappe förmlich aus dem Meer aufzutauchen scheinen und von Minute zu Minute greifbarer werden. In den Häfen von Funchal / Madeira und Las Palmas / Gran Canaria liegt GABOON vor Anker, längsseits Leichter für Ladungsabgabe oder -aufnahme und Händlerboote mit Frucht und billigen Souvenirs für Tauschhandel zwischen Janmaat und „Jude“, ein Geschäft meist ohne Vorteile für den Seemann. Jan Daddel liebt dieses „change for change“ bis auf den heutigen Tag, derzeit ganz besonders, weil es für ihn ja in vielen kleinen Hafen keinen „Bordvorschuss“ gab, seine Taschen also meist leer waren. Alles in allem jedenfalls auch beim Ankerliegen viel Betrieb und Unterhaltung, für mich, den Neuling, eine stetig rotierende andere Szenerie. Auf Freetown-Reede, dem ersten Westafrika-Port kommt dann eine zusätzliche schwarze crew an Bord, es sind 60 bis 70 leicht bekleidete schwarze Männer mit einer kargen Reiseausrüstung. Sie verteilen sich an Deck, überall hin in die entferntesten Ecken schleppen sie ihren Kram, richten sich dort häuslich ein. Sie sind nun während der Lösch- und Ladezeit an der Küste diejenigen „welche“ an Bord: Schauerleute, Schiffsverschönerer, Außenbordanstreicher, Messingblänker, Wäscher, außerdienstlich Burschen und Diener für die weißen „Herren“ (vom Matrosen aufwärts), Kaffeeträger und, und, und. Immerhin bleibt für die weiße crew auch noch genügend Arbeit nach, zur Hauptsache seemännischer Umgang mit Tauwerk, Drähten, Booten und deren Überholung. Außer drei Quartermeistern (Steurer) ist jede „deckshand“ während der Küstenfahrt Tagelöhner. So geht das je nach Ladungsanfall in den zahlreich unten angesteuerten Häfen vier bis sechs Wochen lang bis Freetown (Sierra Leone) auf Heimreise, wo die „crewboys“ (richtiger: cru-boys – Männer vom Stamm der Cru) die GABOON wieder verlassen. Letztere sind der weißen Decksmannschaft wegen der Tropenhitze eine wertvolle, Kräfte schonende Hilfe. Im Gegensatz zu späteren Jahren ist für die weißen Besatzungsmitglieder in den Tropen ein Herumlaufen an Deck mit bloßem Oberkörper verboten, obligatorisch muss zum anderen an Deck während der Tagesstunden ein von der Reederei verpasster Tropenhelm getragen werden. Wer ohne „toppy“ während der hellen Tageszeit angetroffen wird, zahlt eine Geldstrafe an die Bordkasse, in Wiederholungsfällen jeweils die doppelte Summe des vorangegangenen Betrags. Kurz vor dem Mittagessen versammelt sich zum anderen die gesamte weiße crew mittschiffs an Deck, wo jeder Mann ein Schnapsglas voll Chininwassers (in Wasser bereits aufgelöste Chinin-Tabletten) und dahinter zum Nachspülen des bitteren Chinin ein halbes Wasserglas voll Rum zum Austrinken vor den Augen der Obrigkeit erhält. Da mancher den Rum nicht trinken mochte, waren ihm andere trinkfeste Kameraden gern dabei behilflich, zumal sonst damals auf englischen Schiffen für die gewöhnlichen Dienstgrade der Besitz von Alkoholika strikt verboten war. In der Kantine gab es nur allgemein Tabakwaren und für Vollgrade geringe Mengen Flaschenbier. Irgendwelche Limonaden oder ähnliche Erfrischungsgetränke führte die Kantine nicht, stattdessen bekam jede Messegemeinschaft kostenlos zum Wochenproviant eine Liter-Buddel „lime juice“ (Limonen-Syrup), welcher Wortbegriff derzeit im Seemannsjargon für jedes britische Schiff und jeden englischen Seemann schlechtweg als Identifikation Gültigkeit hatte. Dem „lime juice“ sagt man zum anderen gewisse, die menschliche Gesundheit schädigende Auswirkungen bei länger anhaltender Verwendung als Limonaden-Verdünnungsmittel nach, z. B. nachlassende Manneskraft bis zu geschlechtlicher Impotenz. Die englischen Seemannsgesetze und ausgestellten Proviantrollen waren, derzeit wenigstens, alles in allem wie jedes Ding im britischen Empire althergebracht konservativ und teilweise ausgefallen und streng. Sie waren abgeleitet aus dem traditionell gepflegten Brauchtum und aus gerecht empfundenen Dienstvorschriften der englischen Kriegsmarine etwa seit Nelsons Zeiten oder noch früheren Epochen. Rückblickend auf meine englische Seefahrerzeit möchte ich sagen, es war vieles auf meinen englischen Schiffen mit mehrhundertjährigem Staub bedeckt, die Bordgepflogenheiten und Ansichten hinsichtlich Disziplin und Moral waren im Übrigen einerseits altväterlich, andererseits bei genauem Hinsehen oft reichlich zwielichtig. Aber vorzugsweise unter steter Einhaltung des Althergebrachten, und mit ihren selbst gefertigten und selbstgefälligen Tugenden hatten die Briten schließlich ein Weltreich mit Hunderten von Millionen Kolonial-Untertanen erworben, sie mussten demnach an sich als die begnadeten Vertreter eines Herrenvolkes glauben und in der Kontinuität ihres Tuns und Lassens die beste Garantie für ihren Fortbestand als Volk und den ihres Weltreiches sehen. Dennoch bin ich auf meinen vier englischen Schiffen mit durchweg reinen Engländern als Bordoffizieren keiner Überheblichkeit der „Machthaber“ begegnet, genau so wenig bei meinen späteren vielen Kontakten mit Briten in ihrem Heimatland selber. Die Behandlung von uns Ausländern an Bord incl. der schwarzen Maschinenbesatzung war gerecht, objektiv und unparteiisch, vorausgesetzt natürlich, dass man selber guten Willens war. Ich wuchs jedenfalls rasch und mühelos in die Bordgemeinschaft hinein und fühlte mich auf GABOON uneingeschränkt wohl. Trotz Tropenhitze und viel vergossenen Schweißes konnte mir jede Arbeit recht sein, auch zusätzlich freiwillige Tätigkeiten, wie Erlernen des Schiff-Steuerns und guter Handfertigkeit in „Knoten und Spleißen“. Vorgesetzte und Matrosen unterstützten dabei, soweit angängig, meinen Lerneifer. Wie nützlich sich das für das Schiff und mich selber auswirkte, das zeigte die Heimreise, als die halbe Decksmannschaft nach Verlassen der westafrikanischen Küste trotz aller vorsorglichen Chinin-Einnahme mehr oder weniger schwer an Malaria erkrankte bzw. mein Einsatz als Wachgänger und Steurer ein Gebot der Stunde wurde. Wir konnten mit den wenigen gesunden Männern die auf Engländern übliche Zweiwachen-Einteilung sonst anders nicht einhalten, es sei denn, dass die wachhabenden „mates“ selber ihr Schiff steuerten. Solches tun britische „gentlemen“ aber nur im äußersten Notfall, also ließ die Schiffsleitung mich Decksjungen – laut Gesetz international nicht statthaft – in dieser Notsituation Wache mitgehen mit allen Funktionen eines Wachgängers, Steuern (Rudergehen), Ausguck bei Nacht auf der Back, Brücke oder im Mast(korb) und Flötentörn, was abwechselnd auf die Männer einer Wache verteilt wird. Erschwert wurde die Heimreise durch ein Sauwetter, praktisch ab Afrika-Küste bis zum Englischen Kanal hinauf. Wir hatten einen schon für jene südlichen Breiten einfach unwahrscheinlichen Seegang, stampften und rollten, je weiter GABOON nach Norden kam, wie ein Lämmerschwanz in der kochenden See. Als Rudergänger hat man in solchem Fall Mühe, den Kahn auf Kurs zu halten. Ein größeres oder großes Schiff zu steuern, ist unter normalen Bedingungen problemlos, es wird jedoch zur Gefühlssache bei schwerer See. Irgendwie ist ein Schiff so eine Art Lebewesen mit einer Seele in seinem Stahlleib. Diese Definition ist wahrscheinlich insofern zutreffend, als bauliche Qualität, möglichst maßgerechte Linienführung und maximal günstige Stabilität des Schiffskörpers im Verein mit gut durchdachter Stauung der Fracht für den „Geist“ eines Schiffes auf See ausschlaggebend sind. Speziell bei Stückgutladung mit variabler Stau-Notwendigkeit ändern sich jedoch zwangsläufig und wider alles Kalkül die Eigenschaft und das Verhalten jedes seegehenden Fahrzeuges, also ändert sich auch seine Seele, bzw. die Anpassung des Steurers an dessen „Launen“. Ein Rätsel ist es mir im Übrigen bis heute geblieben, weshalb wir auf meinen insgesamt drei Reisen nach Westküste Afrikas soviel Mannschaftsausfälle à cto Malaria hatten. Ob später die erfolgreiche Bekämpfung der Anopheles (Fiebermücken) diese Malaria-Anfälligkeit zumindest in den tropischen Küstengebieten praktisch gänzlich beseitigt hat, das mag gut möglich sein. Wahrscheinlich haben aber auch bessere Hygiene und Arzneimittel sowie Schutzimpfungen bei Seefahrern und Landmenschen, ganz abgesehen von der Modernität der heutigen Mannschaftsunterkünfte an Bord, die Geisel Malaria langsam zum Aussterben gebracht. In diesem Zusammenhang noch eine „Untat“ meinerseits auf dieser meiner ersten großen Reise. Unsere Malaria-Erkrankten wurden, wohl vorschriftsmäßig, sehr kurz in Aufnahme von Flüssigkeit gehalten. Der nächtliche Wachgänger-Flötentörn musste u. a. einmal stündlich nach den Kranken schauen, gegebenenfalls bei einer sichtbaren Verschlechterung im Zustand eines Kranken davon den Bordarzt unterrichten. Die Malaria selbst ist außer hohem Fieberbefalls des Opfers kaum ernstlich gefährlich. Aber etwaige Folgeerscheinungen, Komplikationen können es unter Umständen sein, z. B. das Schwarzwasserfieber mit seinerzeit oft oder meist tödlichem Ausgang dieses Leidens. Kurzum, ein ernstlich an Malaria erkrankter Leichtmatrose bittet mich auf einem meiner nächtlichen Inspektionsgänge um einen kühlen Schluck Wasser. Unwissend um etwaige Folgen und beseelt von kameradschaftlichem Mitgefühl bringe ich ihm das Verbotene. Am kommenden Morgen ist der Mann in bedenklicher Verfassung. Die Nachforschung der hohen Obrigkeit fördert mühelos mein unsinniges Tun zutage. Ich muss zum Kapitän, Mr. Small, um mir eine Riesenzigarre mit anschließender Gewissenswäsche und möglicher Verantwortlichkeit im hoffentlich nicht eintretenden Ernstfall abholen. Gottlob stand der Kranke sein Leiden durch, und ich war wieder einmal um eine Erfahrung reicher. Immerhin auch das wieder ein herrlicher Aspekt für meine Zukunft: Daheim fast ein zartes, wenn auch leichtes Mädchen zertrümmert, zumindest maßgeblich daran beteiligt, nun fast einem Kameraden, wenn auch in Unvernunft, den Weg in den Seemannshimmel geebnet, mein lieber Spitz, so kann es einfach nicht weitergehen. Viele Jahre später soll ich angeblich wiederum einen Mann abgesoffen haben, wenn auch nicht direkt durch Einfüllen von zuviel Flüssigkeit, aber auf meinen Wunsch hin stellte man ihm die Flaschen hin, woraus er sich selber im Übermaß bediente. Ich scheine wirklich nicht unter glücklichen Sternen ins irdische Jammertal gekommen zu sein. Meine Vorgesetzten auf GABOON haben mir im Übrigen diesen schlimmen Vorfall nicht weiter angekreidet, mir vielmehr bei Abmusterung in Hamburg gute Zeugnisnoten ausgestellt. Da mein Sampan kurz vor dem Weihnachtsfest in Hamburg eingetroffen war, fuhr ich für die Festtage zu den Eltern nach Ostpreußen. Diese wohnten jetzt nach dienstlicher Versetzung meines Vaters in Angerburg, einer Kleinstadt mit etwa 8.000 Einwohnern, etwa in der Mitte Ostpreußens gelegen. Angerburg galt im Volksmund als nördliche Eingangspforte zur Landschaft Masuren mit ihren 1.000 Seen diverser Größe, von denen der Mauersee dicht an der Stadt der zweitgrößte war. Angerburg hatte eine landschaftlich schöne Umgebung, war sonst eine wenig reizvolle Klein- und gleichzeitig Kreisstadt mit entsprechendem gesellschaftlichem Gepräge einer solchen. Wer bereits einmal einen Blick in die weite Welt getan hatte, dem konnte genannter Ort kaum imponieren, schon gar nicht jemandem ohne irgendwelche früheren Bindungen an das Städtchen und seine Bewohner. Außer der Freude des Wiedersehens mit den Meinen und gemeinsam verlebter Festtage gab es für mich also nichts, was mich zu einem längeren Verweilen in A. hätte einladen können. Vater und mein ebenfalls in Urlaub daheim weilender Bruder reichten mich wohl als weit gereisten Mann hier und da bei ihren Bekannten herum, aber mir kamen die Menschen dort unter dem bei mir nachhaltigen Eindruck der größeren, innerlich noch nicht verdauten Welt wie klein karierte Pfahlbürger vor, und die ostpreußische Landschaft schien mir trotz all ihrer Weite in ihrer nun im Winter auf den stillen Betrachter besonders intensiv ausstrahlenden melancholischen Stimmung eng und verlassen. Welche Bedeutung dieses Angerburg nebst Umwelt einmal in Zukunft für mich haben sollte, das wusste ich derzeit natürlich nicht. Mein Vater hätte es im Übrigen gern gesehen, wenn ich nach allen meinen in etwa acht Monaten „draußen“ gesammelten, eher negativen Erfahrungen mein ihm unbegreifliches Fernweh aufgesteckt und beruflich irgendetwas Handfestes in Angriff genommen hätte. Aber was konnte das bei immer höher steigender Arbeitslosenzahl im Deutschen Reich außer einem noch möglichen Studienbeginn denn sein? Alle Beamtenlaufbahnen standen fast einzig und allein den Versorgungsanwärtern von Reichswehr und Polizei offen, die damalige freie Wirtschaft der Weimarer Republik stagnierte, die Zahl der Konkurse in ihrem Bereich nahm rapide zu, die Weltwirtschaftskrise hatte ihre Geburtsstunde oder tat, anders gesagt, den sie einleitenden Paukenschlag.