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Herkunft, Kindheit, Jugend – 1006 - 1926

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Kindheit im Kaiserreich

Wie auch immer die Konstellation der Gestirne ausgesehen haben mag, sie muss, hätte man sich die Mühe einer Nachprüfung seinerzeit oder späterhin gemacht, für den Neubürger des damals kaiserlichen Deutschlands am 29. November anno 1906 jedenfalls nicht ungünstig gewesen sein. An besagtem Tage wurde ich um 4:15 Uhr laut entsprechenden amtlichen Dokuments als zweiter Sohn des damaligen Oberpostassistenten Heinrich Patschke und seiner Ehefrau Elisabeth in Tilsit / Ostpreußen geboren und mit den Zunamen Hans, Paul, Theodor aktenkundig gemacht.


Da die Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges zumindest für die deutschen Mittelstandsbürger eine irgendwie — jedenfalls äußerlich betrachtet - geruhsame und glückliche war, zum anderen der genannte Neubürger als Kleinkind und Kind kaum an und von den Weltgeschehnissen und jeweiligen Zeittendenzen interessiert oder beeindruckt sein konnte, verliefen seine ersten Lebensjahre ohne nennenswerte markante Erinnerungen, außer seinem noch unbewussten Fühlen, in stets liebevoller elterlicher Obhut zu sein. Natürlich steht einem heute rückblickend noch manches Bild oder Ereignis vor Augen, manche Kleinigkeit sogar so klar, als hätte sie sich erst kürzlich zugetragen‚ wenn dabei die Dimensionen Alter, Raum und Zeit außer Betracht bleiben. Ich denke da z.B. an die Weihnachtsbescherungen in den frühen Kinderjahren, meine Aufregung vor dem Gedichtaufsagen, dass der Opa mütterlicherseits — Großvater wohnte bei den Eltern — meines Bruders und meine Erwartungen vor dem Eintritt ins Festzimmer, unser beider Erregung durch Erzählen von kleinen Geschichten zu mildern versuchte, wie feierlich mich die Weihnachtsmelodien der Töne pustenden Stadtkapelle berührten. Diese Stadtmusikanten, von uns Kindern „Posauniers“ benannt, bliesen als emsige Musikamateure sicher mehr laut als schön, aber ihr Durchzug durch etliche Straßen der Stadt unter Abspielen von Weihnachtsklängen gehörte für uns eben zum Heiligabend, etwa, wie die Butter aufs Brot. Unerklärlich ist es mir heute, weshalb mich in früher Jugendzeit das Tuten dieser „musici“ mehr beeindrucken konnte, als im Gegensatz dazu die flotten und zweifellos gekonnt gespielten Märsche unserer zwei Tilsiter Militärkapellen, wenn letztere die von Felddienstübungen heimkehrenden Soldaten vom Stadtrand zu den Kasernen mit melodisch vernehmlichem Tschinderassa-Bum reinholten. Wahrscheinlich störte mich damals das Zackige der Uniformierten. Schließlich aber - Ostpreußen war ja eine Soldaten-Provinz - fand auch alles Soldatische, das speziell zu des Kaisers Geburtstag am 27. Januar jedes Jahres seinen besonderen Niederschlag auf Tilsits Bürger hinterließ, bei ihrer Teilnahme am Militär-Feldgottesdienst und dem daran anschließenden irgendwie farbenträchtigen Schauspiel vom Paradeaufmarsch der Tilsiter Garnisonstruppen (1. Dragoner-, 41. Infanterie-Regiment), meinen uneingeschränkten Beifall. In lebhafter Erinnerung sind mir außerdem aus jener Zeit drei in zweijährigem Abstand gemachte Sommerfrische-Reisen der Familie an die Ostsee, zweimal nach Neukuhren / Samlandküste, einmal - kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs - nach Försterei bei Memel. War ich als dreijähriger Bub‘ beim Seebad an sich und angesichts der uferlosen Weite des Meeres vor mir noch ein ängstlich schreiender, wasserscheuer Bursche, so scheint die riesige Wasserfläche zumindest vom ersten Anblick an auf mich bewusst oder unbewusst überaus beeindruckend gewirkt zu haben. Diese kindliche Faszination hat sich dann wohl allmählich in stille Zuneigung und schließlich Liebe zur mysteriösen Salzflut verwandelt und ist später in den Wunsch zu einem Leben auf See gemündet. Zweifellos haben zur Verwirklichung dieses Wunsches auch eine Masse anderer Faktoren beigetragen, beispielsweise gute See-Literatur und schulisch gewecktes Interesse für Entdeckungs- und Forschungsreisen auf unserem Erdball und alle Erkenntnisse der Geographie schlechthin.


Und dazu kam noch die Memel, dieses Prunkstück Tilsits und aller Tilsiter, und sie war natürlich auch mein Fluss. Er gab mir vielleicht die stärksten Impulse, mich schon als kleiner Mann nach Überwindung aller Wasserscheu eingehend mit dem Wasser als solchem, als interessantestem Spielrequisit an seinen Ufern anfänglich zu beschäftigen, nur wenig später dann, dazu recht rasch, ein guter Schwimmer zu werden. Die Memel, in ihrem Oberlauf der russisch-litauische Njemen, war im Übrigen in meinen Augen etwas, was man lieben und unter diesen und jenen Umständen hassen konnte, besser gesagt, dem man mit stiller Ehrfurcht begegnen musste. Lieben konnte man diesen Strom, weil er dem Beschauer mit seinem auf respektabler Breite majestätisch-ruhigen Dahinfließen zwischen Stadt und Wiesenlandschaft hüben und drüben einen — auch für einen Fremden - prächtigen Anblick bot, besonders nachhaltig, wenn Sonnenstrahlen das Flusswasser gleißen und glitzern ließen. Schier fürchten konnte man diese Memel zum anderen, wenn sie im Winter und Vorfrühling imposante und schier unerschöpfliche Eismassen mit bizarren Schollengebirgen an ihren Rändern mit sich führte und ihr Hochwasser, aus dem fernen russischen Hinterland anlaufend, flache Wiesenniederungen auf dem rechten nördlichen Flussufer kilometerweit überflutete. Nur die wenigen hoch angelegten Chausseen und verstreut auf Wurten erbaute Gehöfte und Häuser überragten dann die in einen See verwandelte, der Stadt Tilsit gegenüberliegende Landschaft. Im Sommer waren Ausflugsfahrten auf kleinen Schaufelrad-Passagierdampfern besonders nach den stromauf auf hügligen Ufern gelegenen Lokalitäten für uns Kinder begehrte sonntägliche Anlaufziele. Wir schätzten sie mehr als etwaige Sonntagstouren “per pedes“ in die stadtnahen Waldgebiete, wo Pilze und Beeren zum nachträglich billigen Verzehr zwar in rauen Mengen wuchsen, zuvor jedoch eben mühsam gesucht werden mussten, was Kindern bekanntlich den Spaß an der Freude zu verderben pflegt. Was besagte Memel für das Werden und Wachsen von Stadt und Region Tilsit beinhaltete, wurde mir natürlich erst in reiferem Alter bewusst, als ich mir über Art und Nutzen des Zusammenwirkens von Industrie und Fluss-Schifffahrt Gedanken zu machen begann, zumal via Memel auch eine direkte Wasserverbindung zu den Seehäfen Königsberg und Stadt Memel bestand. Dem Umfang der in Tilsit angesiedelten Industrien und Versorgungsbetriebe entsprechend war der rege Schiffsverkehr von und nach meiner Geburtsstadt. Dessen Beobachtung bei An- und Abfahrt und Ladungsumschlag faszinierte mich schon irgendwie als Knaben und nährte in Verbindung mit meiner Person mancherlei abenteuerliche Träume. Die an sich wegen des meist niedrigen Wasserstandes der Memel nur kleinen Flussfahrzeuge - Schlepper und Lastkähne mit Besegelung und teilweise Motoren in ihrem Inneren, letztere dortzuland „Boydacks“ genannt - und die mehr oder weniger dürftigen Hafenbecken und Umschlagsanlagen Tilsits wuchsen dann in meiner Vorstellung zu Erscheinungsformen von beachtlicher Größe und Bedeutung. Kurzum, die Memel mit allem Drin, Dran und Drauf war schon eine tolle Sache! Auch hinsichtlich der Holzdriften auf ihrem breiten Rücken. Im Sommer und Herbst trieben in schier ununterbrochener Folge unterschiedlich lange Holzflöße aus Litauen und Russland her den Fluss stromab zu den zahlreichen Sägemühlen dies- und jenseits der Stadt. Auf jeder mitunter an 100 Meter langen Drift hatten sich etliche Männer, die mit langen Puderstangen und Bootshaken die langsam schwimmende Plattform von Holzstämmen stromrecht zu halten bemüht waren, etliche kleine Strohhütten als zeitweilige Bleibe errichtet. Vor diesen Hütten wurde gebrutzelt und gekocht, und wenn ein „Künstler“ unter den paar Männern auf einer Drift war, dann spielte er auf einer Quetschkommode seinen Leidensgenossen „an Bord“ lustige und wehmütige Weisen vor. Wir standen als Kinder oftmals auf einer der beiden die Memel überspannenden Brücken Tilsits und bestaunten das Treiben der meist recht stabilen Männergestalten auf der Drift - sie wurden im Volksmund “Dschzimkes“ genannt -, wenn diese ihre Flöße kunstgerecht zwischen den Brückenpfeilern hindurchzirkelten. Bei günstigem Wind kam mitunter auch eines der oben erwähnten großen Boydacks per Segelkraft stromauf angetrudelt, um am Stadtkai seinen Liegeplatz einzunehmen, ein malerisches Bild war das, man musste nur Zeit mitbringen, wenn man das Ereignis in allen Einzelheiten verfolgen wollte. Alles war jedenfalls für meine Person interessanter, als das alljährlich im Herbst zwei oder drei Wochen lange Jahrmarktsgeschehen mit Zuckerbuden, Karussells, Kinomatograph und Sensationsschwindel. Eine Wucht waren im Übrigen die Pferdemärkte auf dem Anger - größte Freifläche im Stadtinnern -‚ wo Bauern, Juden und Zigeuner einander wortreich im Handel um oft armselige Zossen von Gaul zu übervorteilen versuchten. Wir Kinder waren zweifellos an Eindrücken und Reizwirkungen natürlicher und realer Art just so ausgelastet, wie die heutige junge Generation vor dem Fernseher oder bei künstlich gestalteten, oft nostalgisch motivierten „Spektakeln“. Noch einmal kurz zurück zur Memel: Sie war Tilsits Tor zur „weiten Welt“ schlechthin. Sie teilte sich weit stromab hinter Tilsit in zwei Arme, die beide in das Kurische Haff mündeten. Auf dem Haff erreichte man direkt mit nördlichem Kurs die Seehafenstadt Memel, mit südlichem via Kanal einen Nebenfluss des Pregels und den oder die Pregel selbst, die Provinzhauptstadt Königsberg, das wiederum selbst per Seekanal durch das Frische Haff Ostseehafen war. Beide Fahrtwege waren landschaftlich sehr reizvoll und mit ihren zum Teil menschenleeren Ufern und der eigenartig schönen weiträumigen Landschaft dahinter eine wahre Perle für aufmerksame Wanderer, enthusiastische Naturforscher und Kunstmaler. Als Schüler auf den oberen Klassen lernte ich die genannten Gewässer und deren Umgebung — incl. Kurischer und Frischer Nehrung sowie die Samland-Küste dazwischen, also die gesamte ostpreußische Seeküste — kennen und irgendwie innig lieben. Diese auf Schul- und Ferienfahrten erfolgte frühzeitige Berührung mit allen möglichen maritimen Dingen in stetem Verein mit behutsam erweckter Wanderlust, stiller Begeisterung über die Vielfalt der Umwelt und allmählich geschultem Weitblick mag vielleicht neben den ersten gegenständlich noch vagen Kindheitseindrücken meine spätere Hinneigung zur Seefahrt umso mehr bestärkt haben. Bezogen auf das Endresultat der Berufswahl hat sich vergleichsweise das „Häkchen“ schon frühzeitig „gekrümmt“.

Das Kapitel Kindheit möchte ich nun nicht abschließen, ohne vorher meiner Eltern in einigen wenigen Sätzen gedacht zu haben und ihnen nachträglich meinen tief empfundenen Dank für ihre dem Kleinkind und Kind gespendete Liebe und nach meinem Empfinden verständnisvolle Erziehung und bestmögliche charakterliche Lenkung zuteil werden zu lassen. Vermutlich war ich in Naturell und Veranlagung kein schwierigeres oder problemloseres Kind, als die Mehrzahl aller anderen Kinder damals oder heute, also mit guten und schlechten Eigenschaften wie jeder Menschensprössling zu etwa gleichen Teilen und in mehr oder weniger ausgeprägter Weise belastet. Das objektiv richtig zu beurteilen, entzieht sich für meine „Frühzeit“ einer möglichen Einschätzung. Ich möchte aber annehmen, dass dieses physisch in summa wohl gesunde, körperlich sonst schmächtige und damals für Erkältungskrankheiten sehr anfällige Kind, das sich oftmals dickköpfig, jähzornig und seinen Spielgefährten gegenüber selten ängstlich und kontaktarm zeigte, seitens seiner Eltern mit behutsamer und geschickter Hand geführt werden musste. Von welchem Elternteil mehr Erbgut übernommen wurde, mag dahingestellt bleiben, im Nachhinein betrachtet scheint es jedenfalls eine gute Mischung gewesen zu sein, was mir die Eltern für meinen Weg durchs Dasein als stete Begleitung mitgaben. Bild und Eindruck heute von meinem Vater: gütig und verständnisvoll, fleißig und getreu in aller Pflichterfüllung, honorig und korrekt in seinem Habitus, ein sorgsames Oberhaupt für seine Familie, ansonsten ein konservativer Mann in seiner Geisteshaltung, aber durchaus kein Untertan seiner Obrigkeit, kurz gesagt, der Urtyp eines kaiserlich-preußischen Beamten, der er rechteigentlich bis zu seinem mit 63 Jahren zu frühen Tod (1934) trotz Weimar und Drittem Reich allzeit blieb. Seine hohe Moral versteht sich nach geschilderten Aktiva von selbst. Alles in allem also war Vater ein braver Preuße von gutem Schrot und Korn, der einerseits den Seinen lebte, andrerseits - wie konnte es derzeit auch anders sein - dem Kaiser gab, was des Kaisers war. Seine Vorfahren rekrutierten sich laut Familien-Stammbaum aus kleinen Handwerkern, beharrlichen Landwirten, Müllern und staatlichen Bediensteten oder Beamten. Für einen Bürger seines Standes mit erreichter Obertertia-Schulreife war Vaters umfangreiches Wissen in Geschichte und Literatur irgendwie erstaunlich. Er hatte sich wohl vieles davon als Autodidakt aus Büchern, Zeitschriften oder durch Theaterbesuch ihn interessierender Aufführungen - in Königsberg / Preußen und Leipzig – angeeignet. Seine Erkenntnisse, sowohl im Schöngeistigen, als auch im Historischen und daraus ableitbaren Realen, wie er es jedenfalls sah, versuchte er, seinen beiden Söhnen schon so früh wie möglich mitzuteilen — wie ich glaube mit gutem Erfolg. Darüber hinaus hatte er im Punkte Kindererziehung oftmals eine vielleicht überflüssigerweise harte Hand und war nach heutiger Lesart in summa ein gestrenger Vater. Daher gingen wir Kinder mit unseren Sorgen mehr zur Mutter, zumal sie in ihrer Ausgeglichenheit ein überaus guter Vertreter ihres Typs war. Daneben zeichnete sie eine einzigartige Bescheidenheit und Selbstlosigkeit in ihren Ansprüchen an des Daseins Äußerlichkeiten aus. Wir zählten nicht zu den wohlhabenden Familien, es gab aber bei uns weder Mangel noch Geiz in Abwicklung des Familienunterhalts und der sonstigen Verpflichtungen, Mutter war eben auch eine gute und geschickt sparsame Hausfrau. Ihre Vorfahren waren teils Landwirte, teils Landschullehrer gewesen mit hier und da vereinzelten Vertretern des akademischen Standes dazwischen. Gegenüber ihrem prinzipientreuen und ehrempfindlichen Ehepartner mag sie es in puncto Kindererziehung nicht immer ganz leicht gehabt haben, aber trotzdem scheint sie darin mit diplomatischem Geschick letztlich dennoch viele ihrer Ansichten und Meinungen durchgesetzt zu haben. Nachträglich möchte ich jedenfalls beiden Elternteilen - Vater starb 1934, Mutter 1959 - meinen innigen Dank sagen für all das, was sie an Gutem und Schönem für mich und meine charakterliche Entwicklung getan, beziehungsweise mir für das Leben mitgegeben haben.

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