Читать книгу Frequenzwechsel - Hans Patschke - Herausgeber Jürgen Ruszkowski - Страница 7
Kriegsende durch Novemberrevolution 1918 – Weimarer Republik
ОглавлениеBei Kriegsende sah ich jedenfalls nach aller Ersatz- und Schmalkost wie ein bloßer Strich in der Gegend aus. Ansonsten empfanden die Eltern und ein Großteil der erwachsenen Deutschen die durchgestandenen Ernährungsmängel der Kriegsjahre wahrscheinlich weniger gravierend und schmerzlich, als den ihnen unverständlichen politischen Umschwung in ihrem Vaterland. Die Kinder und Jugendlichen stiegen dagegen trotz aller ererbten politischen „Vorbelastung“ und einstweilen noch immer leerer Mägen nach Verlust von „Kaiser und Reich“ und abklingender Revolutionswirren ziemlich rasch und nahtlos - und vielleicht auch mit einiger Neugierde - in die neuen historischen Verhältnisse ein. Dem Trend der Zeit verhaftet, stellte selbstverständlich auch jede Schulklasse einen keineswegs irgendwie geforderten „Schülerrat“ zusammen. Letzterer war zwar vollkommen bedeutungslos, er hatte bei den Lehrern absolut nichts zu melden - sie hielten sich nach wie vor an den Klassensprecher - aber es tat uns Knaben zumindest wohl, einen „Rat“ zu haben bzw. als sich bekennender Neubürger der deutschen Republik ein möglichst breites schwarz-rot-goldenes Band - analog den getragenen Couleurbändern der Studentenverbindungen - auf der schmalen Brust prangen zu lassen. Wie die Erwachsenen dies aufnahmen, weiß ich nicht, gewiss mit einiger Skepsis oder auch stiller Ablehnung, aber ihr Kaiser kehrte darum trotzdem nicht wieder nach Deutschland zurück, um die ihrer Meinung nach verfahrenen Verhältnisse ins Lot zu bringen oder die erlittene Niederlage nachträglich in einen Sieg zu verwandeln. Wenn ich nun in der Folge den während meiner Jugendzeit vielfarbigen politischen Entwicklungen und Geschehnissen relativ viel Betrachtung und Raum widme, so geschieht es darum, weil die bewusst durchlebten jungen Jahre mit ihren vielschichtigen Einflüssen für die charakterliche Formung eines Heranwachsenden eine überaus wichtige und entscheidende Epoche in seinem Leben darstellen. Der politische Umbruch machte sich also für uns Schüler im eher konservativ gebliebenen Ostpreußen während der ersten Jahre der Weimarer Republik - in Weimar 1919 erste Regierungsbildung und die Verfassungsgebung der demokratischen Republik Deutschland - tatsächlich nur irgendwie in Randzeilen bemerkbar, eines wurde aber für uns recht bald ersichtlich: Wer in Zukunft einmal im Leben weiterkommen wollte, der musste in der „Penne“ genau so büffeln und pauken oder sogar noch intensiver „strebend sich bemühen“, wie im ehemals kaiserlichen Reich. Eines wurde allerdings allmählich besser: die Ernährung. Da ich an sich von allem Anfang an ein leichtgewichtiges, schwächliches und vielleicht auch sehr sensibles Kind gewesen war, bedurfte es nach der Hungerkur im Krieg Jahre, bis ein leidlich stabiler Junge aus mir wurde. Wie bereits erwähnt, an Lerneifer fehlte es bei mir nicht, und ich zählte auch nach der inzwischen erfolgten Verabschiedung der Klassenrangordnung weiterhin zum ersten Garnitur-Ensemble meiner Klasse, aber die Antipathie gegen die Schule wuchs von Stufe zu Stufe mehr an. Die Gründe dafür suche ich noch heute. Meine Vorliebe für die so genannten germanistischen Fächer wurde auf Untertertia noch durch das neu hinzugekommene Latein bereichert. Dem Genre meiner Lieblingsfächer nach ließe sich möglicherweise folgern, dass vielleicht das Realgymnasium für mich nicht die richtige Schulform gewesen war, mir also der Unterrichtsinhalt eines humanistischen Gymnasiums mehr zugesagt hätte. Zum anderen könnten gut und gerne die gestrengen Erziehungsmethoden, mit denen ich mich in Elternhaus und Schule konfrontiert glaubte, meinen stillen Widerstand und Widerspruch gegen diese meiner Meinung nach unmotivierte Unterdrückung ausgelöst haben. Folglich sollte dafür, wenn schon nicht der Vater, so zumindest die Schule mit wachsender Abneigung meinerseits gestraft werden. Erst in den beiden letzten Schuljahren war ich zu einer Art von Kompromissbereitschaft fähig. Heute im Rückblick kommt mir zum anderen zum rechten Bewusstsein, dass mein damaliges Weltbild, das sich Jugendliche im allgemeinen neben einer Menge Phantasie aus erworbenen eigenen Realerkenntnissen zu machen pflegen, anderes war, als das meiner Schulkameraden. Die Kriegs- und Nachkriegs-Wehen waren eben doch nicht so spurlos an den Kindern damals vorübergegangen. Auch sie versuchten sich wie ihre Eltern und alle Erwachsenen nach Abklingen der ersten „Begeisterung“, mehr unbewusst als bewusst, mit der Demokratisierung im enger und kleiner gewordenen Vaterland und den im Friedensvertrag von den Alliierten auferlegten Einschränkungen und den von den meisten Deutschen als ungerecht empfundenen Reparationen und Repressalien auseinanderzusetzen. Mindestens die Hälfte aller Deutschen hatte von vornherein schon der durch die Revolution erfolgten staatlichen Umwandlung ablehnend gegenübergestanden. Sie ließen es die nach mancherlei Geburtswehen und Schwierigkeiten - etliche dilettantische Putschversuche Rechter, kommunistische Aufruhraktionen, Generalstreiks usw. - ehrlich um die deutsche Selbstbehauptung und internationale Anerkennung bemühte Weimarer Republik (bzw. deren politisch Verantwortliche) zeit ihres Bestandes mit Lieblosigkeit ihr gegenüber entgelten. Je nach diesbezüglicher Einstellung im Elternhaus und in der Lehrerschaft und gemäß etwaiger eigener Motivation empfanden auch wir Schuljugend die neue Zeit, waren ihr verständlicher Weise eher und mehr verhaftet, als die bedächtigeren Alten und Älteren und schufen uns, eben soweit wir es verstanden, ein eigenes modernes oder neues Weltbild, zum Teil mit starker Betonung und Einschluss persönlicher Ambitionen. Wenn ich selber derzeit in puncto Historie und Geographie bei beiderseitigem Zusammenspiel auch eine Menge unklarer, verschwommener Begriffe gehabt haben mag, so empfand ich zumindest die laut Friedensvertrag erfolgte Isolierung Ostpreußens vom Reich, den polnischen Korridor also, als widersinnigen Trennfaktor, den Verlust sämtlichen ehemaligen Kolonialbesitzes in Afrika, Fernost und Südsee und den Schwund der früheren deutschen Seegeltung geradezu als persönlichen Schmerz. Meine Welt hatte plötzlich eng gezogene, unüberschreitbare Grenzen bekommen, nicht nur räumlich gesehen, sondern auch hinsichtlich meines Denkens. Es war zum anderen schwer, unter den eigenen Kameraden in der Schule Gesprächspartner mit in jeder Beziehung gleich lautender Problematik in ihrer Gedankenwelt zu finden. Die interessierten sich zumindest kaum für das Maritime, für das Abenteuer in der Ferne, sie waren als größtenteils Kinder vom Land innerlich weitaus mehr und enger als ich mit der heimatlichen Scholle und deren „Mikrokosmos“ verbunden. Meine Spaziergänge am Memelufer und durch die Wiesen-Niederung nördlich des Stromes - letztere den weiten Marschländereien Schleswig-Holsteins vergleichbar - fanden vielleicht ein- oder zweimal einen Begleiter, ich erwanderte sie meistens ganz allein. Umgekehrt waren oder bedeuteten mir ihre Interessengebiete, Sport und Sportplätze, nicht sonderlich viel, aber vielleicht gab es eben darum zahlreiche großartige Turner und Leichtathleten unter meinen Mitschülern. Gemeinsam hatten wir allerdings fast alle ein gesteigertes Interesse am politischen Tagesgeschehen, auch wenn dabei nicht alle in die gleiche Richtung zogen. Die Schule mit ihren Belangen einte uns selbstverständlich allesamt - schließlich waren ja die Lehrer unsere eigentlichen Kontrahenten, und die Kameradschaft untereinander, zumindest im schulischen Bereich, war trotz unterschiedlicher Neigungen gut. Mit dem Erreichen jeder höheren Klasse rutschte ich im übrigen à cto dazugekommener neuer Fächer langsam aber stetig in die Mittelmäßigkeit ab. Bei anderen ehemals guten Mitschülern war es ähnlich, sie wurden genau wie ich in ihren Leistungen von Spätentwicklern und Strebern überholt. Allround-Genies gab es unter uns nicht, gesteigerte Anforderungen und private Ambitionen forderten eben auch derzeit ihre Opfer. Ganz allmählich und mehr oder weniger gerieten nach einigen Nachkriegsjahren meine Jahrgänge außerdem in den anfänglich sanften und noch wenig bemerkbaren Strudel der so genannten nationalen Selbstbesinnung des Volkes. Vorlage dafür war einerseits der zu plötzliche und abrupte Übergang von der Monarchie zur Republik, andererseits eine Revolution, die für die breite Allgemeinheit der deutschen Bevölkerung allein als reine proletarische Reaktion auf angeblich gehabte Ausbeutung und Knechtschaft der Arbeitermassen und den seitens der Monarchie propagierten Standesdünkel und stark legitimierten Hurra-Patriotismus sichtbar gewesen war. Dazu kam, dass sich die Weimarer Republik - bzw. deren Protagonisten – wegen ihrer an die Partei-Maxime eng gebundenen Dogmen zweifellos schlecht verkaufen ließ, zumindest verstand sie das nicht von allem Anfang an. In ihren Anhängerreihen fehlten einfach genügend geniale Köpfe und eine umfangmäßig starke Unterstützung durch breite Kreise der Intellektuellen. Einer gesunden, kontinuierlichen Selbsterholung der jungen Republik standen im übrigen die im Ansatz zarte Wirtschaftsbelebung zurückwerfende Streiks, weltweiter Boykott deutscher Exporte, eine einsetzende Inflation, die Rheinland-Besetzung durch französische Truppen wegen unmöglicher Ableistung der von den Alliierten in Versailles geforderten Reparationsleistungen und dort aufkommende separatistische Tendenzen entgegen. Die deutsche Regierung - das sei zur Ehre der damaligen sozialdemokratischen Machthaber im Reich gesagt - bäumte sich energisch gegen speziell französische Rachsucht und Willkür auf, trotzdem waren derlei Vorgänge für den wieder aufwachenden alten deutschen Nationalismus und seine Vertreter Wasser auf ihre Mühlen. Geschehnisse geschilderter Art waren nur dazu angetan, die Front der Republikgegner zu stärken und ihren Thesen vom den Kriegsausgang entscheidenden „roten Dolchstoß“ und von der neu-deutschen Leichtgläubigkeit an das von Amerikas Präsident Wilson aufgestellte 14-Punkte-Friedensprogramm neue Nahrung zu geben. Sicher war nicht alles falsch, was die Nationalisten oder Rechten sagten, aber auch durchaus nicht alles richtig, es klang nur in vieler Ohren gut und zur eigenen Rechtfertigung erwünscht. Für die politische und wirtschaftliche Existenz meiner Heimatprovinz Ostpreußen waren im Übrigen bestimmt erschwerende Fakten das Losgelöstsein vom übrigen Reich, die Abhängigkeit von den Launen der Polen á cto Korridor und die immer zweifelhaft gewesene Haltung der Russen, deren Sowjetunion wahrscheinlich nicht nur für den Frieden gewaltig aufrüstete. Kurzum, es erfolgten die ersten Ansätze und Atemzüge des später so verhängnisvoll werdenden „deutschen Erwachens“ nun auch in Ostpreußen, da allerdings später, als im Reich selber und in konservativerer Form als z. B. in Bayern, wo ein bisher unbekannter Herr Hitler nach- und neu-militante Kräfte als Reagenz auf den stetig mehr und gefährlich erstarkenden Kommunismus in Deutschland um sich sammelte. Es wuchsen also überall im Reich in den zwanziger Jahren neben zahmen Kriegervereinen und politisch schon eher bewussten und disziplinierten Verbänden ehemaliger Soldaten - wie dem „Stahlhelm“ - auch etliche rechtsnationale Jugendverbände schier wie Pilze aus dem Boden. Letztere waren ihrer Zielsetzung nach aber keineswegs „militant“, wenn auch ihrer Struktur nach militärisch ausgerichtet und in sich gegliedert und hatten zum anderen vielfach keine direkte Verbindung untereinander. Gemeinsam waren bei diesen Jugendbewegungen Wunsch und Absicht, die, aus ihrer Sicht gesehen, deutsche Schmach von 1918 und das von französischem Hass diktierte Versailler Friedensstatut auszulöschen oder zu revidieren. Das „Wie“ in der Ausführung blieb allerdings unbeantwortet und verschwommen. Damit verbunden war das Ziel‚ Deutschland wieder einen seinen volkswirtschaftlichen und kulturellen Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Rangfolge der Staaten und Völker zu schaffen, ferner eben ein Gegengewicht gegen das Überschwappen des östlichen Kommunismus und dessen Heilslehren zu sein. Der Ehrbegriff hat im Leben der Völker schon immer einen hohen Wert gehabt - nicht nur bei uns Deutschen - zweifelhaft ist nur immer seine individuelle Auslegung bzw. dessen Berechtigungsanspruch in den Augen des lieben Nachbarn. Im Schulunterricht aus fremdsprachlichen Texten oder irgendwelchen literarischen Erzeugnissen entnommene Sätze á la Paukenschläge - beispielsweise „dulce et decorum est pro patria mori“ oder „nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre“ - können vielleicht oder zweifellos besonders für junge Menschen faszinierend sein, aber sie sind oder werden entweder sinnentstellt bzw. passen real nicht ganz für das Zusammenleben von Staaten oder Völkern.
Ammoniter-Jungmannen-Bund
Jedenfalls, egal, wie man heute nach vielen ernsten und bitteren Erfahrungen diesem Fragenkomplex gegenüberstehen mag, wir beiden Brüder traten 1922 eben auch wie viele unserer Freunde und Kameraden in einen solchen patriotischen Jugendverband ein, mit voller Zustimmung unseres über alle Zeitläufte hinweg konservativ denkenden Vaters übrigens. Dieser Verband nannte sich „Bund deutscher Jungmannen Preußen“, der im Gegensatz zu ähnlichen nationalen Vereinigungen Jugendliche aus allen Bevölkerungsschichten sammelte - also auch „Unterprivilegierte“ - und in kurzer Zeit für die Ausmaße einer Stadt von der Größe Tilsits eine beachtliche Anzahl Mannen und Gönner zählte. Ihr Führer und Gründer war ein im Krieg hoch dekorierter, ehemals aktiver Infanterie-Offizier mit gehabten mehrmaligen schwereren, aber gut verheilten Verwundungen, namens Herr Ammon. A. hatte als Rückstand einer seiner Kriegswunden eine silberne Luftröhre, was sein Sprechen und Rufen heiser sein ließ, trug zum anderen, wo er ging und stand (auch beim Schwimmen), als Relikt vergangener Zeiten ein Monokel und war eine mittelgroße kräftige Erscheinung mit guter Haltung, einer prachtvoll durchtrainierten, sportlichen Figur und einem Haufen Moral. Kurz gesagt, er war eine markante Persönlichkeit, die in feiner und feinster Umgebung á cto seines tadellosen Benehmens voll anerkannt wurde. Als nicht mehr für die damalige Reichswehr wegen seiner stimmlichen Lädierung einsatzfähiger Offizier war er nach Kriegsschluss als Hauptmann mit Pensionsanspruch entlassen worden, war dann illegal noch bei irgendwelchen Freikorps und schaffte schließlich irgendwie den Übergang ins Zivilleben. A. war ledig, hat nach seiner Tilsit-Zeit Zahnmedizin studiert und ist Anfang der sechziger Jahre beim Baden im Main ertrunken, wie ich später von einem ehemaligen Schulkamerad erfahren habe. Herr Ammon war jedenfalls damals in Tilsit für Frauen aller Jahrgänge - er tanzte vorzüglich - und junge Männer etwa ein Idol, hoch geehrt und verehrt, wir Jungenschar nannten ihn „Häuptling“ und waren selber die „Ammoniter“ oder sozusagen amtlich der „Preußenbund“. A.‘s Ziel bei Gründung seines „Bundes“ war es, uns Jungen im Sinne einer vormilitärischen Ausbildung und Erziehung körperlich zu ertüchtigen, deutsches Gedankengut in nationaler Apostrophierung in uns wach zu halten bzw. auszubauen und den Kameradschaftsgedanken und -geist als wertvollstes Band der Gemeinschaft über alle Bildungs-, Interessen- und Standesunterschiede hinweg zu pflegen. Es konnte im übrigen kaum erstaunlich sein, dass der Individualist Ammon kein Freund der jederzeit politisch schwächlichen Machthaber im Reich war, was bei ihm weniger der Status Republik als solcher bedingte, als vielmehr der neuen Herren nach außen und innen überzogene Liberalisierung und rigorose Parteibuch-Mentalität. Das deutsche Reich, seit 1918 in allen seinen Stämmen uneinig und jedem Interessendruck untertan, war trotz vieler positiver Ansätze zu Beginn und während der ganzen Weimar-Jahre ein politisch farbloses Gebilde und konnte einfach nicht jeden seiner Bürger von seiner Güte überzeugen. Schon gar nicht einen Teil seiner jungen Generation. Kurzum, wir Ammoniter waren ein begeisterter Haufen ohne irgendwelchen Zwang-Versuch seitens unseres „Häuptlings“, es sei denn in freiem Entschluss, es ihm gleichzutun in Überwindung irgendwelchen Muts, Willensstärke, Selbstzucht und Selbstvertrauen fordernder körperlicher Anstrengungen. Mitunter wurden wir dabei sogar schwer gefordert, teils im Sport bei Mutproben, teils in stundenlangen Ausmärschen und Geländeübungen. Der Wahrheit wegen muss noch erwähnt werden, dass Herr A. auch kein Freund der Juden war. Selbige waren in der Weimarer Republik zwar direkt längst nicht so zahlreich in führenden politischen Stellen tätig, wie es später im NS-Staat behauptet wurde, aber sie hatten zumindest als geschickt agierende Lobbyisten in fast allen Lebensbereichen einen entscheidenden Einfluss. Ja, Herr A. war zweifellos Antisemit, wenn auch nicht im Sinne der späteren Rufer nach der Endlösung in der Judenfrage, man hat ihm später bei den Nazis keine Ämter gegeben, ihn auch nicht als Offizier reaktiviert, vielleicht natürlich, weil er zu alt dafür war. Ich möchte ihn alles in allem eher als den Prototyp des ewigen Landsknechtes mit glänzenden Führungsqualitäten einstufen, der sich, von Hause ein Pfarrerssohn, dann gedienter Avantageur-Offizier, trotz aller Rauheit stets die angeborene Noblesse zu bewahren verstand. In meinen Erinnerungen beschäftige ich mich deshalb so ausgiebig mit der Beschreibung des Herrn Ammon, weil ich nach meinem Dafürhalten diesem Manne in puncto Durchhaltevermögen und körperlicher Ertüchtigung für mein späteres Arbeitsleben und darüber hinaus für meine charakterliche Prägung viel zu verdanken habe. Wir Ammoniter sind nun nicht immer nur marschiert, es gab während meiner Preußen-Bund-Zeit auch viele fröhliche Stunden, interne Kameradschaftstreffen, gemeinsame Ausflugsfahrten und so genannte „Deutsche Abende“ als öffentliche Veranstaltungen für die Tilsiter Bevölkerung, letztere unter Mitwirkung der beiden hiesigen Militärkapellen. Das Publikum erschien dazu in Scharen, um allen Interessenten gerecht zu werden, wurden die „Deutschen Abende“ mehrmals wiederholt. Inhalt dieser Veranstaltungen: Konzert und Marschweisen der jeweilig engagierten Militärkapelle - zum Abschluss der kleine Zapfenstreich - Schauturnen unserer Spitzenkönner (diese waren auch Mitglieder der hiesigen Turnvereine), irgendwelche lustigen und ernsten Rezitationen, ein „lebendes Bild“ - Nachstellung eines Gemäldes patriotischer Prägung wie „Friderikus Rex“ von Menzel oder „Der letzte Mann“ nach Stöwer - und ein von einem Regisseur des Tilsiter Stadttheaters einstudiertes, historisch motiviertes Schauspiel. Hinterher war Tanz in allen Räumen der Bürgerhalle. Da mein Bruder und ich ausreichende mimische Fähigkeiten zu besitzen schienen, zog man uns für die Besetzung von Hauptrollen hinzu. Wir schafften das auch irgendwie, ich zum Teil unter Schmerzen und nach vielen vorausgegangenen Einzelproben, wenn ich rollenmäßig laut Buchtext ein junges, zartes weibliches Wesen auf der Bühne anbeten oder in die Arme schließen sollte. Vermutlich ging es meiner an sich reizenden Partnerin ähnlich wie mir - heute wahrscheinlich eine unvorstellbare Tatsache. An derartigen „Unterlassungssünden“ in der Jugendzeit trägt man im Nachhinein noch schwer, zumal man sich ja für eine kurze Zeit zumindest in die scheue Partnerin regelrecht verliebt hatte. So ist es, die Zeiten haben sich geändert und wir uns mit ihnen! Leider führte mein Engagiertsein für „Preußens Gloria“ meine derzeitigen schulischen Leistungen nicht gerade zu Höhepunkten. Nach erreichter Prima-Reife bzw. etwa gut zweijähriger Teilnahme bei den ehrenwerten Ammonitern kündigte ich auf Drängen meines Vaters und meines damals amtierenden Klassenlehrers meinen Dienst bei Herrn Ammon auf, um mich hinfort einzig und allein der wissenschaftlichen Arbeit zu befleißigen. Das Verlassen des Preußen-Bundes - Höhepunkt ein Deutscher Tag mit General a. D. Ludendorff als Gast und wir beiden Brüder ihm als Fahnenjunker bei seiner Ansprache Auge in Auge gegenüberstehend - war, so seltsam es dem Leser dieser Zeilen nach den vorangegangenen Lobeshymnen auch klingen mag, dennoch für mich kein großes Opfer. Irgendwie hatte ich im Laufe der Zeit in diesem „Mitdabeisein“ ein Haar in der Suppe gefunden, was wahrscheinlich zum Teil meiner kritischer gewordenen Beurteilung über Wert oder Unwert der Weimarer Republik anzulasten gewesen sein mag. Des Reiches Selbstbehauptung war gegen vielen äußeren und inneren Widerstand gestärkt worden, es gab zwar noch immer einen hohen Prozentsatz an Arbeitslosen, aber Handel und Wirtschaft hatten sich nach Schaffung der Rentenmark 1923 entscheidend belebt, und das Misstrauen und die Reserviertheit des ehemals feindlichen Auslandes gegen die deutsche Republik wurden durch die Unterzeichnung etlicher internationaler Vertragswerke seitens des Kriegsverlierers – Dawes-Plan 1924, Locarno-Pakt 1925 - erträglich abgebaut. Männer wie Schacht (Zentrum) und Stresemann (Volkspartei) waren irgendwie herausragende Köpfe im wirtschaftlichen und außenpolitischen Geschehen, zu denen sich 1925 nach Präsident Eberts (SPD) Tod der greise, von der Mehrheit der Deutschen hoch verehrte ehemalige Generalfeldmarschall von Hindenburg (Deutschnational) als demokratisch gewähltes neues Staatsoberhaupt - wenn auch nur als Repräsentativfigur - gesellte. Es war für den deutschen Durchschnittsbürger der ungeliebten deutschen Republik jedenfalls erstaunlich, dass sein Vaterland jetzt auch von Männern der politischen Mitte und Rechten an hervorragender Stelle vertreten wurde. Die Ereignisse bei Niederschlagung des Hitlerputsches 1923 in München unter Einsatz von Reichswehr-Truppenteilen hatten zum anderen gezeigt, dass diese Reichswehr trotz aller guten Kontakte zu den patriotischen Verbänden durchaus kein Einsatzfaktor für eine etwaige Umgestaltung der bestehenden politischen Machtverhältnisse war, dass ganz besonders das aktive Offizierkorps von Rang und Adel vielmehr getreu seinem Fahneneid auf Seiten der Republik stand. Recht eigentlich, konnte daher eine Republik mit solchen sie bejahenden Männern gar nicht so unbrauchbar sein. Die neue Erkenntnis war frappierend für mich bzw. ließ mich nachdenken, wie illusionär und imaginär patriotische Lippenbekenntnisse sein können oder sind, dass man das Gute im Neuen zumindest anerkennen sollte, im übrigen Begriffe von Kameradschaft und Kameraderie zweierlei Dinge sind. Mit stiller Ablehnung hatte ich zum andern die sich in den so genannten vaterländischen Verbanden immer weiter ausbreitende Brutalisierung und Radikalisierung der Jungmannen beobachten können (z. B. Todschlag eines jungen Juden nach einem Kneipenwortwechsel durch einen meiner Preußenbund-Kameraden). Waren wir zu Beginn meiner Preußenzeit ein halb-soldatisch gedrilltes Häuflein mit konservativ-nationalen Idealen, über das selbst Seine abgedankte kaiserliche Majestät bei einem Aufzug gelächelt hätte, so waren wir mit der Zeit zu rauen Männern mit sehr zweifelhafter Tugend und Moral und ziemlich verschwommenen politischen Gedanken zusätzlich geworden. Das alles passte mir nicht in mein Konzept, in meine freiwillige Bereitschaft zur Mitarbeit in Sachen Patriotismus. Dass diese geschilderte Entwicklung der Anfang des nun auch auf Ostpreußen übergreifenden Hitlerismus war, wusste damals noch niemand. Herr Ammon, der Häuptling, mag an seinen Ammonitern wohl auch keine reine Freude mehr gehabt haben. Er verließ Tilsit kurz nach meinem Austritt aus seinem Bund und ging zum Studium nach Königsberg / Preußen.
Mein Engagiertsein bei den Ammonitern war natürlich auch meinen Lehrern nicht unbekannt geblieben, teils à cto reger Öffentlichkeitsarbeit, teils schulischen Leistungenachlasses wegen. Wie es nun einmal so ist, ich hatte Freunde und Feinde unter ihnen, entweder gemäß ihrer eigenen politischen Einstellung oder weil diesem oder jenem dieses oder jenes an mir nicht passte. Aus dem seinerzeit bescheidenen, schwächlichen Knaben mit kontinuierlichem Fleiß war inzwischen ein etwas eigenständiger, nicht mehr so biegsamer, ansonsten über die Bleichsüchtigkeit junger Jahre gut hinweggekommener junger Mann geworden. So hoffnungsvoll wie früher war dieser Jüngling nicht mehr zu beurteilen. Die Meinung meiner Pauker der Unterprima über mich in Noten: P. bemüht sich nach Kräften, seine Leistung in den germanistischen Fächern: gut, sonst mehr oder weniger: zufrieden stellende Mitarbeit und Güte und - nun kommt der Clou - Religion und Singen sehr gut. Nun, das gute Singen hatte ich ja bei den Jungsoldaten Ammons gelernt, etwa laut Kommando: Gleichschritt, Marsch, Gesang! Die abseitige Religion mit guter Benotung bedeutete möglicherweise im übertragenen Sinn so etwas wie große Bußbereitschaft oder Kompromissneigung meinerseits der Schule gegenüber, „tut Buße, denn das Abi ist nah“! Es war ganz sicher der richtige Entschluss, dem Marschieren zu entsagen und meine lieben Lehrer von meinem guten Wollen und etwaigen Können zu überzeugen. Meine lieben Lehrer, in Häkchen gesetzt, sind zweifellos hinsichtlich etlicher Vertreter ein Kapitel für sich, und ich erspare mir detaillierte Beschreibungen. Sie waren bestimmt in ihren Fächern Qualitätsware, aber als Produkt Mensch war dieser und jener in Schüleraugen sowohl als auch leibhaftig, also in Beurteilung und kompetenter Betrachtung, ein skurriler Typ. Solcher wollte er bei Antritt seines hohen Amtes bestimmt nicht werden, aber er oder sie wurden es trotzdem ihrer Eingleisigkeit und ihres Bierernstes wegen, sie waren es vielleicht auch nur im Laufe von Jahren schwierigen Umgangs mit Lernenden, nicht immer einfach zu bändigenden Jünglingen geworden, und die mit dem höchsten Berufsethos waren oft die seltsamsten Vertreter ihres Faches. Lehrer hatten zu meiner Zeit im Übrigen weitaus mehr Machtbefugnisse und Souveränität als heute, sie waren indirekt fast Richtern vergleichbar bzw. Herren über Sein oder Nichtsein ihrer Schüler. Sie wachten nicht nur in der Schule über ihr „Lehrgut“, sie waren gegebenenfalls auch außerhalb des „Intelligenzpalastes“ gegenwärtig, ein Polizist war im Vergleich mit ihnen trotz Ehrfurcht gebietender Insignien von Uniform und Tschako ein kümmerliches Element der Ordnung. Ein Wehe, Wehe über dich, wenn dich einer der seltsamen Vertreter deiner Schulgemeinde auf der Straße mit brennender Zigarette antraf oder in einer Gaststätte ohne begleitenden Erziehungsberechtigten stellte. Eine morgige längere Standpauke mit anschließender strenger Verwarnung war dir dann gewiss. Lachen im Unterricht war eine halbe Todsünde, es sei denn, du lachtest pflichtgemäß zu einer kümmerlichen, pointenlosen, in jedem Schuljahr jeder neuen Schülergeneration vorgetragenen Schnurre des betreffenden Lehrers. In den von einer zur anderen Klasse weitergegebenen Lehrbüchern waren mitunter derartige Jovialisierungsversuche eines gewissen Paukers mit - dick unterstrichen - „an dieser Stelle Witz“ vermerkt. Dass wir dann kaum über den angekündigten Witz als vielmehr über dessen promptes Eintreffen lachten, war ein Ei. Jünglingen von 17 Lenzen und mehr kam bei solcher Bevormundung auch damals schon der Kaffee hoch. Zum Glück waren nicht alle Pauker gleichen Formats, manche sahen eben auch alles und hatten nichts gesehen, und sie waren ganz gewiss beliebter, als die korrekten Pedanten. Mein Unterprima-Jahr war übrigens insofern abweichend von der bisherigen Schulnorm, als wir Schüler uns je nach Neigung einen Bildungszug unter vier angebotenen aussuchen konnten. Ich wählte den germanistischen Zweig mit besonderer Betonung der Fächer Latein, Deutsch und Geschichte. Englisch lief als zweite Fremdsprache nebenher, mein wenig geliebtes Französisch fiel fort. Natürlich war Mathematik für ein Realgymnasium in allen vier Zweigzügen eine selbstverständliche Beigabe mit unterschiedlichen Akzenten in den einzelnen Wahlgängen. Leider lief diese Einrichtung als Versuch nur ein Jahr, auch in der Weimarer Republik war man wie heute auch sehr experimentierfreudig. Jährlich mehrtägige weite Schulreisen außer einem eintägigen großen Schulausflug mit allen Klassen gab es damals noch nicht, es sei denn, dass ein wanderfreudiger Klassenlehrer der Oberstufe in den Ferien mit etlichen seiner Schüler auf freiwilliger Basis und zu Lasten jedes Teilnehmers eine größere Reise arrangierte. Eine ausgedehnte Ferien-Fahrt in den Thüringer Wald und mehrtägige Wandertouren durch alle Gebiete der ostpreußischen Heimat sind bestens in meiner Erinnerung geblieben. Obligatorisch war in jedem Monat außerhalb der Ferien ein Wandertag, das Wohin bestimmten Klassenlehrer und Schüler gemeinsam. Die Ferien verlebte damals der größte Teil der Schüler zu Hause, die meisten Eltern waren finanziell nicht in der Lage, Ferienaufenthalte außerhalb zu buchen, ganz davon abgesehen, dass es zur Zeit der Weimarer Republik, das heißt also, in den „glücklichen zwanziger Jahren“, Urlaubs-Arrangements heutigen Stils gar nicht gab. Normalerweise verreiste nur der wohlhabende Teil der Bevölkerung. Auch diese Sparte Menschen machte zur Hauptsache bei uns im Osten in den landschaftlich schön gelegenen Badeorten an der Ostpreußen-Küste, im Samland und auf den Nehrungen Station. Auch in dieser Hinsicht wurde die Abgeschnürtheit meiner Heimat-Provinz vom übrigen Reich deutlich, anders wären sonst wahrscheinlich auch die ostdeutschen Menschen eher zu größeren Urlaubsexkursionen angeregt worden. Aber auch daheim konnten die Ferien schön sein. Im Sommer trieb man dann je nach Lust und Laune allerhand Wassersport, es gab ja außer der Memel noch etliche andere Gewässer um Tilsit herum, die ein Baden und Schwimmen nicht zur Mangelware werden ließen. Ich selber hatte zum anderen gute Verbindung zu Seglern oder Ruderern, konnte also auch an den nassen Freuden, ohne ein Klubmitglied zu sein, teilnehmen. Ein Bekannter von mir besaß z. B. ein eigenes Klepper-Faltboot, mit dem wir auch mehrtägige Fahrten in Tilsits schöner Wasserlandschaft machen konnten. Dadurch lernte ich meine Heimatstadt und deren reizvolle Umgebung aus einer anderen neuen Perspektive kennen und lieben. Recht eigentlich festigten erst diese erfreulichen Wasserfahrten meinen bislang noch etwas undeutlichen Berufswunsch und Entschluss, mein späteres Leben schwankenden Schiffsplanken anzuvertrauen. Außerdem geriet durch diese Art Freizeitbetätigung mein ehemaliges Mitmarschieren im Preußenbund auch stark ins Abseits, und das nahm dem Abschied von den „Kampfgefährten“ vielleicht den letzten Rest einer etwaigen Dramatik. Ein weiteres starkes Moment der Freizeitgestaltung - die Radioberieselung - steckte derzeit noch in den Kinderschuhen, war in den „kalten“ Monaten des Jahres das Theater mit seinem für das mittelgroße Tilsit verhältnismäßig reichhaltigen Angebot an Opern, Operetten und Schauspielen, außerdem an je einem Sonntag per Monat eine Matinee mit klassischer Musik. Das jeweilige Ensemble machte im Allgemeinen seine Sache, jedenfalls nach Auffassung der örtlichen Kunstbeflissenen, gut. Wir Schüler sahen uns das Gebotene je nach Geschmack und Laune und natürlich entsprechend unserem Taschengeld-Bestand zu verbilligten Eintrittspreisen vom Stehparkett oder aus der „Bullerloge“ an. Als mein Vater 1924/25 als Stadtverordneter zur Theaterkommission gehörte, standen ihm darob jeden 3. Tag im Monat zwei Logenplätze zur kostenlosen Benutzung zur Verfügung. Das war natürlich für meine Eltern und uns beiden Söhnen eine willkommene Gelegenheit zu unendlich vielen Theaterabenden. Mir persönlich lagen damals Operetten mit ihren beschwingten Weisen und lockeren Texten am meisten, viele der damals gehörten Melodien daraus sind mir bis heute geläufig geblieben, speziell von Kalmán, Lehar und Johann Strauss. Erwähnenswert aus den Tagen der „Goldenen 20“ wäre noch die Mitgliedschaft von uns Schülern der oberen Klassen in der „Technischen Nothilfe“. Sie wurde von der Schule befürwortet. Zweck ihres Vorhandenseins war die nützliche Einsatzfähigkeit von Helfern bei eventuellen Streiks staatlicher Versorgungsbetriebe - es wurde in der Weimarer Republik oft und viel gestreikt, mehr als heute - und jeder zukünftige - sprich „Streikbrecher“ - wurde in Kursen für irgendeine Hilfstätigkeit vorgeschult. Mich machte man zum staatlich geprüften Rangierer im Eisenbahndienst. Ich wurde auch tatsächlich bei zwei Eisenbahner- und einem artfremden Landarbeiterstreik eingesetzt. Wir Schüler reicherten durch derlei fragwürdige Einsätze (sie wurden ziemlich anständig entgolten) unser meist spärliches Taschengeld an, sahen also etwaige Streiks als Verdienst und Schulausfall mit anderen Augen an, als Staat und „Rebellen“. Nachdenkliche unter uns (und ihren Eltern) sahen im „Streikbrechen“ natürlich auch Risiken und Gefahren, längeren Schulausfall, Unfallträchtigkeit usw., ich sehe heute darüber hinaus darin eine Diskrepanz, dass wir die Republik und deren Regierung zwar nicht sonderlich schätzten, aber durchaus freiwillig dazu bereit und willens waren, uns für sie bedingungslos einzusetzen. Mein unter den geschilderten Begebenheiten und Umständen voranschreitendes Blühen und Gedeihen dürfte nun noch insofern eine Lücke aufweisen, wenn ich nicht auch dem Thema „Begegnung der Geschlechter“ einige Zeilen widmete. Tilsit ging allgemein der Ruf voraus, in seinen Mauern eine Unzahl schöner und schönster Mädchen zu beherbergen. Das mag ein wenig objektives Vorurteil gewesen sein, aber wie dem auch sei, es wartete jedenfalls eine Menge erblühter oder verblühter Rosen darauf, gepflückt zu werden, und sie warteten nicht vergeblich. Nach damaligem Brauch gab es in Tilsit (wie in Klein- und Mittelstädten derzeit üblich) eine „Rennbahn“ - es war eine Straßenseite in der Hauptgeschäftsstraße der Stadt, der Hohen Straße, kurz „Hohe“ genannt. Da lief an jungem Volk sommers oder winters ab schicklicher Nachmittagsstunde auf etwa 500 Meter Länge alles herum, was sich als Männlein und Weiblein zu treffen bzw. kennen zu lernen wünschte. Solche Absichten waren Flüggen und Halbflüggen, Armen und Reichen sowie Dummen und Schlauen unter ihnen zu eigen, die meisten der Bekanntschaftskandidaten sahen im Übrigen begehrlich und proper, also gut gewaschen und gekämmt aus, und besonders die Mägdelein trachteten danach, sich möglichst gut zu verkaufen. Augenkontakt miteinander war üblicherweise die erste Ansprechstufe, alsdann, bei einiger Erfolgsaussicht wandelten die Herren oder solche, die es sein wollten, im Schlagschatten der erwählten Damen brav hinterher, bis diese ihren Kurs von der Rennbahn nach den häuslichen Gefilden hin absetzten. Das war dann die beste Gelegenheit, seinen Schwarm mit gebührender Höflichkeit anzusprechen und gegebenenfalls auch mal Körbe zu empfangen. In der Regel gingen Schülerinnen der höheren Töchterschulen - es gab in Tilsit drei davon - mit den ihrem Alter entsprechenden Gymnasiasten, es gab kaum Ausnahmen, die „Höheren“ glaubten das wohl ihrem Ruf schuldig zu sein, aber Studenten, junge Offiziere der Reichswehr oder gar ein junger Schauspieler vom hiesigen Kulturpalast waren ihnen noch angenehmer, als die Lernenden. Bedarf und Nachfrage deckten sich im großen ganzen, ein kleiner Überschuss vielleicht bei den Herren, demzufolge nicht so begehrte Mannsleute – leider gehörte ich auch zu diesem Kreis - zu Damen niederer Gesellschaftsschichten – alles nach damaligen sozialen Rangfolgebegriffen gesehen - ihre Zuflucht nehmen mussten. Natürlich nur, so man wollte, und ich wollte. Ich hatte im Übrigen auch recht bald herausgefunden, dass die schon berufstätigen, meist etwas älteren Mädchen längst nicht so schwierig und zickig wie die höheren Töchter waren, sie waren auch „großzügiger“ mit ihren guten Gaben als jene. Was hat man schon von einem keuschen Engel, an dem fast alles tabu ist, die kleinen Teufelchen des freien Marktes waren ja viel irdischer und realer als jene. Selbstverständlich gab es auch noch andere Möglichkeiten des Sichkennenlernens, als die Rennbahn, Tanzstunden, Festivitäten, Familienbekanntschaft und Sportvereine, aber wegen eines vielleicht falschen Arrangements meinerseits, ich zog eine größere mehrwöchige Wanderfahrt mit dem Preußenbund einem Tanzkurs meines Schülerjahrgangs vor, beides zusammen überstieg die finanziellen Möglichkeiten meines Vaters - waren solide Gelegenheiten zur Bekanntschaft mit Engeln vertan. Daher also war ich als Nichttänzer bzw. Autodidakt in der Kunst Terpsichores für die eitlen, auf Effekt bedachten höheren Töchter der Stadt ziemlich uninteressant. Die, die ich aus der hohen Sparte begehrte, war sowieso längst vergeben, die Trauben hingen hoch, ergo war ich zu Kompromissen gezwungen. Das Schmachten nach der Unerreichbaren war zwar immer vorhanden, aber frühstücken konnte ich schließlich auch anderswo. Unsere allgegenwärtigen Lehrer waren im Übrigen hinsichtlich Tanzstunden ihrer Zöglinge und Feten im passenden Rahmen als Erziehungspotential von gewisser Größe auch durchaus bereit, dann und wann irgend worin ein Auge zuzudrücken, aber das Ausscheren eines Knaben aus der traditionellen Linie wurde ihrerseits nicht gern gesehen. Umgekehrt wiederum forderte das orthodoxe Denkschema meiner professores meinen an sich vorhandenen passiven Widerstand noch mehr heraus und konnte meine Abneigung gegen die Schule eher steigern als abbauen. Seltsam erschien mir außerdem, woraus Pauker etc. ihr Wissen um eine Missetat eines Schülers, z. B. grobe Verletzung der Spielregeln, schöpften. Zugegeben, meine in ihrer Art fröhlichen engeren Freunde, zum Teil ehemalige Mitschüler, die mit Erreichung des Einjährigen von der Schule abgegangen und meist ins kaufmännische Berufsleben eingetreten waren, sind bestimmt keine Tugendapostel gewesen. Wir Clique-Brüder entdeckten auf einmal - ich hatte inzwischen die Oberprima erreicht - welch herrliche Droge zur Stimmungsförderung der Alkohol sein konnte. Aus kleinen Anfängen auf diesem Gebiet steigerten wir uns allmählich und mit oder ohne besondere Anlässe zu ziemlich strammen Umtrunk-Schlachten, bei denen ich es bei relativ guter Haltung zu einer erklecklichen Aufnahmefähigkeit brachte. Bevorzugte Waffen im Kampf waren konzentrierte Alkoholika. Nach entsprechender Einnahme dieser Medizin vollbrachten wir dann im besäuselten Zustand manche aus unserer Sicht neckischen Dinge, die wiederum von anderen Zeitgenossen ohne Promillegehalt als Blödsinn oder gar grober Unfug gewertet wurden. Angesichts der in meiner Familie vom Vater auf den Sohn vererbten Enthaltsamkeit, also ohne eine diesbezügliche Erbanlage, ist mir heute die damalige Trunkzuneigung nur insofern erklärbar, als ich sie bei mir als eine Art Wirklichkeitsverdrängung à cto Reifestörungen betrachte. Manches heute Unverständliche der Goldenen 20er - von meiner eigenen Entwicklung ganz abgesehen - ist wahrscheinlich in den seinerzeitigen Zeitumständen begründet. Auf einer Seite nach der Abkehr von einem strengen Konservativismus liberale Auffassungen in allen Daseinsbereichen des Volkes, dazu nach Beendigung der Inflationszeit in Deutschland November 1923 ein fast unerwarteter wirtschaftlicher Aufstieg mit persönlichem Nachholbedarf des lange Jahre hindurch Entbehrten (zumindest eine Scheinblüte), auf der anderen Seite als Folge unverstandener, großzügiger staatlicher Lenkung politische Radikalisierung und Lockerung von Moral und Sitten, dazu trotz langsamer Besserung der Lebensbedingungen noch weit vom viel erwarteten „Himmelreich auf Erden“ entfernt, nicht abzubauende hohe Arbeitslosenzahlen und andere erste Vorboten der kommenden Weltwirtschaftskrise. Die Wirklichkeit in aller Welt - auch in den Siegerländern - entsprach jedenfalls durchaus nicht dem Bild, das speziell die Traumfabriken in Hollywood und Neubabelsberg in vielen ihrer Filme der Menschheit versetzten, das zum anderen von Utopisten nach allen Richtungen hin ausgemalt wurde, ja, die Goldenen 20er mögen vielleicht in künstlerischer und wissenschaftlicher Gestaltung ihren Namen gerechtfertigt haben, aber, richtig besehen war die „Neuzeit“ in ihren Aussagen ebenso unaufrichtig wie die „gute alte Zeit“. Wir jungen Menschen waren nun diejenigen, die in diese Unaufrichtigkeit hineinwuchsen, waren zum anderen aber noch nicht imstande, das Gute oder Böse unserer Zeit zu unterscheiden, wurden vielmehr zwischen den Polen hin und her gerissen und suchten Auswege bzw. in der Ausweglosigkeit eine Stimulans. Man wurde wie in der Monarchie auch in der Republik überall gegängelt, Tabus und Klassenunterschiede gab es wie eh und je, von dem natürlich missverstanden Begriff Freiheit schien real wenig verwirklicht zu sein.
Abitur im zweiten Anlauf
Auch ich setzte fälschlicherweise diesen Begriff etwa dem „erlaubt ist, was gefällt“ (Göthe in Tasso) gleich, fühlte mich von Eltern und Paukern unwürdig unterdrückt und löckte auf meine Art wider den Stachel. Meine lockere Lebensweise im Verein mit stetig wachsender Faulheit in schulischen Dingen waren natürlich auch meinen Eltern nicht verborgen geblieben, und darob gab es auch zu Hause oft Ermahnungen, Verbote und Zerwürfnisse. In meinem Trotz wider die hohe „Obrigkeit“, meiner Machtprobe gegen Eltern und Lehrer übersah ich, oft sogar wider besseres Wissen, die eigenen Fehler, die mich in eine Sackgasse geführt hatten. Erst war mein Abitur-Durchfall zu Märzbeginn 1925, eine von mir wohl ungewollte, aber geradezu vorprogrammierte Folge, eine Quittung, deren Erteilung durchaus ihre Berechtigung hatte. Meine Lehrer waren gut beraten, mir im Abstimmungsergebnis von contra 24 zu pro 2 Stimmen die „Reife“ zu verweigern, ich zog daraus für später die wertvolle Lehre - zumindest im Jahr darauf nach erfolgreich wiederholtem Abitur - dass man nie mit dem Kopf durch die Wand kommt, zum anderen in manchen Lagen ein guter Kompromiss, vorzugsweise für jemand in von vornherein unterlegener Position, wertvoller sein kann, als das „hohe Ross“. Durchgerauscht im ersten Abi-Versuch war ich im Übrigen wegen schlechter Leistungen in Französisch und Chemie und mieser Beurteilung meines Betragens außerhalb der Schule. Zwei Fünfer in der Benotung genügten derzeit auch bei genügend vorhandenem Ausgleich zum Durchfallen, so genannte Vorabiturs gab es nicht. Man konnte mündlich in allen Fächern geprüft werden, außer Zeichnen und Turnen. Das nur so nebenbei zur Erklärung. Glücklicherweise hatte ich noch keine beruflichen Zusagen vor dieser ersten Reifeprüfung erhalten - ein Jahr später allerdings auch nicht -‚ praktisch hatte ich mit meinem „Niederschlag“ also nur meine Eltern schwer enttäuscht, etwaige Gratulanten ausgeladen und schließlich mich selber blamiert und um eine ganze Portion falschen Selbstbewusstseins gebracht. Darüber hinaus möchte ich sagen, dass mein Entschluss, mein späteres Berufsleben der Seefahrt zu verschreiben, durch diese erlittene Enttäuschung eher bestärkt als ins Wanken gebracht wurde. Was immer ich mir auch damals unter Seefahrt vorgestellt haben mag. Sie erschien mir jedenfalls, von ihrer Realität und Attraktion abgesehen, als einziger Rettungsanker gewissermaßen als Tauchstation in und aus einem Dasein der üblichen Konventionen nach bürgerlicher Auffassung, die mir nur Zwang und Schematik zu bieten schienen. Obwohl meine seinerzeitige Bewerbung als Offiziersanwärter bei der Reichsmarine unter einer hohen Eingangsnummer gleicher Nachsuche mit „kein Bedarf für Bewerber“ per Vordruck-Karte abgewiesen war - eine gleiche Absage erhielt ein Klassenkamerad, bester Turner und Sportler unserer Schule - so war ich in jugendlichem Unverstand zumindest der Meinung, dass man sicher bei der in gewaltigem Aufschwung befindlichen deutschen Handelsmarine praktisch nur noch auf mein Erscheinen warte. Illusionen sind schön, besonders, wenn man sie zur Aufwertung der eigenen Unzulänglichkeit dringend benötigt. Meine Eltern standen derlei Träumen ihres Versager-Sprösslings wohl nicht ablehnend, aber - gemäß ihrer traditionellen Denkungsart - zumindest sehr skeptisch gegenüber, zum anderen bestand mein Vater erstmals vor allem auf Ablegung des Abiturs, bevor er diesbezüglich mit sich reden lassen wollte. Aus eigener, wenn auch verspäteter Überzeugung und aus einer Art inneren ultimativen Zwangs den Eltern, der Schule und mir selber gegenüber war ich jetzt kompromissbereit, und sei es letztlich auch nur mein Ehrgeiz gewesen, der mich damals bewog, mich anderen und mir selber gegenüber zu rehabilitieren. Das gelang dann auch ein Jahr später, anno 1926 am 11. März, was insofern mit genauer Akribie meinerseits vermerkt wird, weil ich in diesem Datum den Abschluss meiner Jugendzeit und meines Daseins in Tilsit sehe. Als junger Seemann habe ich meine Geburtsstadt 1927 noch einmal für zwei oder drei Tage ohne große Erinnerung an diesen kurzen Aufenthalt besucht, dann gingen die Jahre - meine Eltern waren inzwischen nach Angerburg / Ostpreußen verzogen - im Wandern zwischen den Kontinenten ohne eine Verbindung mit meiner Stadt und ehemaligen Schulkameraden dahin. Auf einmal gab es kein Tilsit mehr. Der Name steht nur noch für eine ehemals geschichtsträchtige deutsche, besser gesagt, preußische Stadt, in den Annalen von Historikern. Der Ort, wo meine Wiege stand, heißt heute Sowjetsk und hat wahrscheinlich nicht mehr viel mit dem alten Tilsit gemeinsam. Dass der Abschluss meiner Jugendphase noch mit einem Paukenschlag besonderer Art endete, das war zweifellos von mir unbeabsichtigt, lag aber genau auf der Linie, auch irgendwie als Schlusspunkt eines seit längerem praktizierten Lotterlebens. Nach einer ziemlich feuchten Gratulationstour bei einem durch Krankheit verspäteten Einzelabiturienten aus meiner gewesenen Klasse zog ich mit zwei anderen Knaben, Primaner, also noch Schüler, beschwingt und halbwegs sensationslustig zu mitternächtlicher Stunde durch die nachtschlafende Stadt. Menschenleer sind Gassen und Straßen. Siehe da, man traut kaum seinen Augen, recht voraus, auf gleichem Kurs wie wir zwei Mägdelein mit einem Kavalier. Das Verhältnis 2:1 schien uns korrekturbedürftig, daher ran an den Feind! Ich spreche also eine der Damen, die an sich nichts mit einer wirklichen Dame gemeinsam hatte, in immerhin schicklicher Form an, sie reagiert dagegen sauer mit zum Schlage ausholender Hand. Abfangen dieser ihrer „zarten“ Absicht und Stoss vor den Latz der Kleinen als Reaktion meinerseits, kurzum, das Mädchen saß plötzlich vor mir auf der Straße und beschimpfte mich recht unzart. Ich konnte darob nur lachen und blieb hinfort auch ohne weitere Aktivitäten nur noch belustigter Zuschauer. Der Galant der beiden Hübschen - was sie bei Ampelbeleuchtung real keineswegs waren - hatte sich trotz seiner wehrhaften Erscheinung unbemerkt in Luft aufgelöst. Inzwischen schienen jedoch meine beiden Kumpels Glaubens zu sein, dass jetzt ob des Mädchens unfeinen Redeschwalls ihre Stunde der Bewährung geschlagen habe. Sie gingen also in Position und versorgten die Damen - grundlos muss ich schon sagen - nach Wiederhochkommen meines Opfers mehrmals mit weiteren sanften Niederschlägen. Dass dieser Art Spiel in der Folge nicht gut ausgehen konnte, war klar, auch ohne Augenzeugnis eines Polizisten oder anderen Zeitgenossen, die Damen kannten uns wider allen Erwartens. Kurzum, die ganze böse Geschichte wurde im Nachhinein - ich war da schon von Tilsit fort – teuer. Beide Damen verklagten uns, und um es erst gar nicht bis zur Gerichtsverhandlung mit Inhalt Körperverletzung und Sachbeschädigung kommen zu lassen, bezahlten die Väter von uns drei Rüpeln - wir waren nach damaligem Recht ja noch nicht volljährig – den Klägerinnen im Vergleichsverfahren ein Schmerzensgeld sowie eine Ersatzsumme für die auf der vereisten Straße beim erzwungenen „Setz dich“ angeblich zerrissenen Schlüpfer beider Damen. Meine beiden Gesinnungsgenossen erhielten außerdem à cto ihrer falsch gesteuerten Tatkraft seitens der Schule - sie waren noch Schüler der Unterprima - das „consilium abeundi“ (Rat zum Abgang von der Penne - damals schärfste Schulstrafe), ich selber hatte glücklicherweise bereits mein Reifezeugnis ausgehändigt erhalten und unterlag nicht mehr irgendwelchen Schulregeln. Es bleibt nur noch zu erwähnen, dass mir auch dieses Ereignis für später eine gute Lehre gewesen ist, niemals mehr habe ich seitdem eine Berührung mit Strafrichtern gehabt. Immerhin mag nun auch ein neutraler Leser meiner Aufzeichnungen aus dem „Leben eines Taugenichts“ zu dem Standpunkt gekommen sein, dass jetzt das Maß des gerade noch Erträglichen reichlich voll sei und mein Abschied von Tilsit durchaus geboten schien.
Abschied von der Vaterstadt Tilsit – Aufbruch in die Welt