Читать книгу Die unschuldige Königin - Hans-Peter Dr. Vogt - Страница 14
1.9.
ОглавлениеAls Elvira nach Berlin zurück kommt, ist sie voll mit neuen Eindrücken. An diesem Abend sitzt sie mit Oma Katharina und mit Lara zusammen und sie erzählt, bevor sie Nachhause zu Mama springt.
Lara, die nicht mit in Peru gewesen war, fragt sie, „Ich habe den Eindruck, die zehn Tage haben dir gut getan. Irgendwie hast du so etwas wie einen starken Lebensmut. Ist das so etwas wie ein Neuanfang?“
Elvira nickt. „Ich glaube schon. Es ist das erste Mal, dass ich mit der Familie so eng zusammen war, wie in den letzten Tagen. Ich rede jetzt nicht von meiner Familie unten in den Tunneln unter Berlin, sondern ich rede von meinen leiblichen Schwestern und Brüdern. Ich habe nie vorher gewusst, zu welchen Leistungen wir fähig sind, wenn wir unsere Kräfte bündeln.“
Bis Weihnachten geht sie wieder in die Schule Sie kümmert sich um ihre kleineren Geschwister. Sie kümmert sich um die Freunde in den Tunneln unter Berlin, und sie kümmert sich um die Freunde im Musikzentrum. Diesmal geht sie gezielt ins Zentrum, und sie besucht Louis, den Sänger.
Louis hat irgendwo da unten im Keller einen der Proberäume. Von Oma Katharina weiß Elvira stets, welche Gruppe gerade in welchem Probenraum ist. Sie braucht das nur auf dem PC aufzurufen.
Elvira setzt sich einfach dazu. Sie lehnt hinten an der Wand, auf ihren Füssen hockend. Sie schließt die Augen und hört zu. Diesmal achtet sie auf die Stimme von Louis. Sie achtet auf das Zusammenspiel und die Texte. Sie versucht sich auszumalen, warum Louis nicht mehr Erfolg hat. Schließlich schaltet sie ihr „Gesumm“ ein, mit dem sie sich viel besser konzentrieren kann. Sie versinkt geradezu in der Gruppe.
Dennoch kommt sie nicht drauf. Die Gruppe ist wirklich gut. Warum bleibt der große Erfolg aus?
Bei einem der nächsten Konzerte begleitet Elvira die Gruppe. Sie sitzt hinten im Backstagebereich und hört zu. Später geht sie hinunter ins Publikum und hört zu. Sie hört weniger auf den Gesang, als vielmehr auf die Schwingungen der Menschen. Alles scheint zu stimmen. Dennoch kann sie sich eins nicht erklären, warum bleibt der große Erfolg aus?
Elvira beschließt, mit Oma Katharina zu reden. Oma Katharina seufzt. “Wir haben das oft. Immer und immer wieder. Manchmal ist das eine Zeitströmung. Dann ist die Gruppe dem Publikum einen Schritt voraus, oder zwei oder drei. Manchmal haben sie die Zeitströmung verpasst. Sie laufen ihr hinterher und sie können sie nicht fassen. Manchmal ist es nur eine Frage der Performance. Lara konnte da schon oft helfen. Manchmal hat sich Opa Leon dazugesetzt. Er hat zugehört und er hat auch nicht immer helfen können. Wir sind keine Zauberer. Wenn du herausfindest, warum die Gruppe im Moment nicht den Erfolg hat, den du dir erhoffst, dann hast du das Rätsel gelöst.“
Sie fährt fort. „Deine Tante Cindy, die in der holsteinischen Schweiz lebt, du weist, wen ich meine? Die schreibt ja mit ihrem Mann Texte und Songs für viele verschiedene Musiker. Sie sind wirklich gut im Geschäft. Von den Beiden kann man nur lernen. Ich weiss auch nicht, wie die beiden das immer schaffen, mit ihren Songs so die Seele zu treffen. Aber natürlich gibt es viele Stücke, die auch voll daneben hauen. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob die Beiden deinem Freund helfen könnten.“
Sie überlegt noch eine Weile, dann fügt Katharina hinzu. „Versuche nicht, dich auf die Lösung des Problems zu fixieren. Du wirst dabei nur verkrampfen. Lebe deinen Tag. Sei Teil deiner Freunde, beobachte und lache. Vielleicht hast du morgen plötzlich die zündende Idee. Vielleicht in einem Monat oder in einem Jahr. Vielleicht auch nie. Lass dich nicht entmutigen. Manche Dinge müssen wir so nehmen, wie sie sind. Wir können nicht alles steuern und beeinflussen.“
Elvira seufzt. Dann erzählt Oma Katharina, wie Chénoa und Opa Leon einmal einer der Gruppen geholfen hatten, vor vielen Jahren. Damals war die Frontfrau der Gruppe ums Leben gekommen. Die Gruppe war völlig verzweifelt. Chénoa hatte sie eingesummt und ihnen einen neuen Rhythmus und neuen Lebensmut gegeben. Nicht ihren Rhythmus, sondern Chénoa hatte es der Gruppe ermöglicht, den in der Gruppe bereits existenten Rhythmus neu zu definieren. Das hatte damals der Gruppe zu wahrer Größe verholfen. Aber das wäre nie passiert, wenn die Zeitströmung nicht genau zu diesem Zeitpunkt nach diesem neuen „Rhythmus“ verlangt hätte.
Elvira überlegt lange. Sie wacht in den Nächten auf, wälzt sich hin und her und sitzt schließlich aufrecht im Bett. Sie geht zu ihren Freunden in den Bunker. Sie geht zu Konzerten. Sie begleitet Lara zu Produktionen, und plötzlich hat sie einen Einfall.
Es gibt da so ein Mädchen. Sie ist auch erst vierzehn. Elvira kennt sie aus Aysas Café in der großen Halle im Zentrum. Emmi ist italienisch-spanischer Herkunft. Sie heißt eigentlich Emilia und sie hat eine wunderbar weiche Stimme. Weich und doch kräftig. Emilia hat schon einen ziemlich großen Busen, die Jungs gucken ihr hinterher, und sie hat so etwas von einer Rockröhre. Da ist so ein Unterton, der sich in dein Gehirn sägt. Nicht wie eine Kreissäge, mit hohen Nebentönen, sondern wollüstig kratzig. Etwas, was nur wenige Sängerinnen haben, wie etwa Nina Turner. Elvira kennt diese uralten CD’s. Damals, vor vielen Jahrzehnten, da war diese Tina Turner mit dieser Stimme ein Weltstar geworden.
Emmi übt bisher immer Zuhause. Sie imitiert irgendwelche anderen Sängerinnen, und Elvira hatte sie kennengelernt, als sie einmal selbstvergessen auf den Stufen im Zentrum saß, mit den Kopfhören auf. Emmi hatte gesummt. Ab und zu hatte sie die Stimme gehoben und ein paar Takte gesungen. Elvira hatte sich ein paar Bänke weiter hingesetzt und hatte Emmi beobachtet. Sie war in keiner der Gruppen, die im Zentrum probten oder spielten, das wusste Elvira.
Ein paar Tage später hatten sie sich zufällig wiedergetroffen und Elvira hatte Emmi angesprochen. Ein paar Wochen später wurde Elvira von Emmi mit zu sich Nachhause genommen und Emmi sang ihr vor. Emmi war noch unausgebildet, aber sie war gut. Irgendwann vor Weihnachten sah Elvira dann Emmi wieder und plötzlich hatte sie einen Einfall. Sie rief bei Oma an, sie fragte, wann Louis das nächste Mal probt, und sie nimmt zwei Tage später Emmi mit zu Louis in den Proberaum.
Emmi hört eine Weile zu, dann meint Elvira. „Kannst du versuchen, das einmal zu begleiten? Erst mal hier hinten, dann später vielleicht mit dem Mikro?
Emmi hat längst angefangen, das in ihrem Kopf zu tun und sie fängt jetzt an zu summen.
Elvira geht kurz entschlossen hinter die Bühne und holt sich eines der Textblätter. Sie gibt das Emmi und Emmi beginnt. Dann wird Louis aufmerksam. „Was’n das? Kannste nich’ mal hochkomm’n. Haste’ schon mal mit’m Mikro gesung’n?“ An diesem Tag fängt Emmi an, mit Louis zu üben.
Noch vor Weihnachten schreibt die Gruppe einige Texte um. Sie schreiben einen eigenen Gesangspart für Emmi und sie studieren das ein.
An Weihnachten tritt die Gruppe zweimal im Zentrum auf. Emmi darf bei drei Stücken die erste Stimme singen. In den andern bleibt sie im Hintergrund, und versucht Louis zu begleiten.
Elvira steht im Publikum. Sie staunt. Das ist noch unfertig, aber das ist der Sound, der die Menschen einfängt. Sie sieht die Reaktion des Publikums. Sie spürt die Vibrationen, und sie weiß, das ist der Beginn einer neuen Ära.