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1.2.

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Elvira ist jetzt wach und sie denkt, wie so oft, an ihre eigene Geschichte.

Sie ist hier unten ein Teil der Familie der U-Bahn-Kids, und sie hat noch zwei Leben, oben in der „Welt des Lichts“. Eines bei ihrer leiblichen Familie. Bei ihrer Mutter, bei ihren drei kleinen Geschwistern und bei ihrem Stiefvater. Das andere Leben ist bei Großmutter Katharina im Musikzentrum, bei Tante Lara, bei Maria und bei Pablo. Tante Lara hatte sie irgendwann auch zum ersten mal mit in den Untergrund genommen, in die U-Bahn, in die Schächte und in den „Bunker“. Elvira kann sich nicht mehr daran erinnern, wann das war, solange ist das schon her. Damals hatte sie zum ersten Mal die Kids im Untergrund kennengelernt, und seitdem ist sie immer wieder hier unten. Nicht regelmäßig, das läßt die Zeit nicht zu, aber so oft sie kann.

Mama ist Mexikanerin und Papa? Nun ja, er ist Peruaner, aber er hatte Mama damals einfach angebummst. Mama war nicht die einzige. Papa hatte es ziemlich wild getrieben. Unanständig wild. Elvira kennt nicht einmal alle ihre Geschwister. Sie hat mindestens 35 davon. Allein der Gedanke macht Elvira schwindlig. Großvater Leon war schließlich der Kragen geplatzt. Er musste fuchsteufelswild gewesen sein.

Jedenfalls hatte Opa Leon ein Machtwort gesprochen. Er hatte Mama einfach mitgenommen nach Deutschland. Oma Katharina (die eigentlich gar nicht Elviras richtige Großmutter ist), hatte Mama mit offenen Armen bei sich aufgenommen. Das war, bevor Elvira geboren wurde.

Elvira war in Berlin zur Welt gekommen. Ihre ersten Lebensjahre hatte sie bei Mama und Oma Katharina in dieser riesigen Wohnung im Musikzentrum verbracht. So war sie in das Geschehen einfach hineingewachsen, in all diese Musik-, Tanz-, und Filmgruppen, in die Welt der Cracks auf den Halfpipes, in all die Läden, Restaurants und die ständigen Besucherströme. Das ist wie eine eigene Stadt vor den Toren Berlins.

Tante Lara (die Tochter von Oma Katharina) war wie eine zweite Mutter für sie gewesen und Aysa, die Leiterin der ganzen türkischen Imbissstuben im Zentrum, die war für sie wie eine zweite Oma gewesen. Drei von Aysas fünf Kindern hatten längst eigene Kinder. Mit denen ist Elvira zusammen aufgewachsen. Es war nur natürlich gewesen, dass Elvira ihre Nachmittage irgendwo im Zentrum verbrachte. Sie brauchte nur aus der Wohnungstür zu treten und schon war sie im Mittelpunkt des Geschehens.

Als die Enkelin der Chefin des Musikzentrums (als die Elvira immer angesehen wird), ist sie in einer privilegierten Situation. Alle Türen stehen ihr offen, und weil dieses riesige Gebäude mit all den Aktivitäten, und den Tausenden von Besuchern, Elviras Leben bestimmt, ist es nur natürlich, dass sie sich hier bestens auskennt. Das „Zentrum“, wie es bei den Kids heißt, das bestimmt zu einem großen Teil Elviras Leben und Denken.

Oma Katharinas Wohnung ist ganz oben unter dem Dach. Ein Aufzug und eine Treppe führen hinauf. Beides ist gesichert. Es gibt einen Wachdienst, der niemanden dort hinauf lässt, der dort nichts zu suchen hat.

Man muss dieses Zentrum einmal beschreiben, um es zu verstehen. Ganz früher waren das einmal Kasernenbauten für die russischen Besatzungstruppen gewesen. Das Zentrum war damals umgeben von einem riesiges Gelände mitten in Wald. Später hatte die Staatspolizei dort ein Ausbildungsgelände und Verhörzimmer. Verfolgte des DDR-Regimes hatten hier leiden müssen. Das Gelände war berüchtigt gewesen.

Nachdem die Mauer gefallen war, hatte das Gelände lange brach gelegen, und es war dem Verfall preisgegeben. Offiziell gehörte es jetzt dem Land Berlin. Irgendwann hatte Opa Leon gemeint, es müsse für die Berliner Jugendlichen mehr getan werden, eine Art Jugendzentrum müsse her. Naja, für so was ist in den Länderhaushalten meist kein Geld da, und die Behörden waren zunächst gar nicht begeistert.

Opa Leon und Oma Katharina hatten dann die Idee, das mit einem Musikzentrum zu verbinden, Proberäume für Bands, Veranstaltungsräume, Musikmanagement, Säle für Tanzgruppen, ein oder zwei Tonstudios und vor allem noch etwas: eine richtige Akademie, teils in Art einer Volkshochschule, teils als richtige Ausbildung, mit Abschlüssen für instrumentale Ausbildung, Tontechnik, Videofilm, Bühnenbild und Tanz.

Damit hatten sie die Berliner Politiker schließlich geködert. Damit hofften sie, viele Kids von der Straße wegzubringen, und das Konzept war aufgegangen. Damals gab es schon die Stiftung zur Förderung unentdeckter Talente, die Oma Katharina heute immer noch leitet. Die Stiftung verfügte damals über viel Geld. Geld, das Opa Leon aus Südamerika mitgebracht hatte, wo er mit Oma Mila diese alte Stadt der Péruche-Krieger wiederfand, und noch einiges mehr. Die alte Stadt war verschüttet worden. Sie lag unter vielen Metern aus Vulkanasche und sie fanden dort Gold, Edelsteine, Schmuck, und vor allem tonnenweise Brillianten, die sie sich mit den anderen beiden „Miteigentümern“ teilten.

Die Stiftung verfügt wirklich über viel Geld und sie investiert unter anderem in diese Musikakademie.

Heute ist das eine Ansammlung von fast 20 zusammengewachsenen Gebäuden, die über Gänge, Hallen, Innenhöfe und verschiedene Etagen miteinander verbunden sind. Es ist noch viel größer geworden, als das einstige militärische Gelände. Immer noch gibt es dichten Wald rings um das Gelände, es gibt aber auch diverse Sportanlagen, Halfpipes, BMX Gelände, Waldlaufpfade, ein Squash Center, Tennis. Es gibt mehrere Busverbindungen, die im Fünfminutentakt zwischen Berlin und dem Zentrum verkehren und Parkplätze.

Die Stiftung, die inzwischen die alleinige Eigentümerin des Geländes ist, die hat inzwischen ein großes Verwaltungsgebäude gebaut. Es gibt so viele Aktivitäten. Konzerte, Tanzstudios, Betreuung für internationale Gruppen, Anwaltskanzleien, Eventmanagement, Tonstudios und natürlich die Akademie mit ihrem Schulbetrieb. Die ganzen Kellerräume sind als Übungsräume für mehr als 50 verschiedene Bands ausgebaut worden. All das muss irgendwie organisiert sein. Es gibt auch Sozialarbeiter und Wachleute. Es gibt diverse Läden für Sport, Instrumente, Kleidung. Es gibt Unmengen von Cafés, Obst- und Imbissläden, vier Bäckereien und drei Metzgereien, die auch warme Gerichte anbieten, Maultaschen, Tagliatelle und andere Nudelgerichte, Rippchen, Hacksteak mit Gemüse oder im Weinblättermantel, und natürlich Würstchen in allen Variationen, von Pommes mit Majo ganz zu schweigen.

Schließlich gibt es auch einen Kartenvorverkauf und eine Abendkasse. An den Wochenenden spielen hier meist 10 oder 15 Bands. Alle möglichen Stile, von Klassisch bis Hiphop. Es gibt Tanzaufführungen, Theater und Sketche, Pantomime und Zauberer. Oma hat dafür gesorgt, dass auch die Straßenkünstler ein Zuhause gefunden haben. Es gibt Jongleure, Stelzenmänner, Verwandlungskünstler, alles mögliche.

Es ist viel mehr als nur ein Musikzentrum. Es ist ein Kulturzentrum, das Tausende von Jugendlichen und auch Erwachsenen anlockt. Wenn hier am Wochenende bekannte Bands spielen, kommen manchmal 50.000 Jugendliche hierher, an einem Abend.

All das muss organisiert werden. Ohne einen Sicherheitsdienst geht das nicht. Oma ist die Leiterin des Zentrums und sie hat einen großen Stab an Mitarbeitern.

Was für viele Jugendliche so wichtig ist, dass ist die Chance auf eine Zukunft. Nicht nur eine vage Hoffnung, sondern eine reelle Chance. Über die Verwaltung des Zentrums kommt man in Ausbildungsberufe beim Fernsehen, beim Rundfunk, bei Tanzgruppen, im Bereich Eventmanagement und es gibt Handwerksberufe, wie Bühnenbauer, Elektriker, Lichtingenieure, Installateure. Aber auch die Bäcker und Kneipen stellen Leute ein. Bedienung, Kassierer, Tellerwäscher, Köche. Der bekannteste europäische Zauberkünstler Marco Francasi (so nennt er sich), ist aus dem Zentrum hervorgegangen. Junge Musiker und Sänger bekommen hier ihre Chance, ihren Stil zu entwickeln und groß rauszukommen. Das Berliner Fernsehen hat hier sogar ein eigenes Studio mit mehreren Teams, denn hier ist jeden Tag etwas los. Für die Presse gibt es sogar einen eigenen Raum mit Internetzugang, das was man ein ständiges Pressecenter nennt.

Das Zentrum hat sich in Berlin zu einem Machtfaktor entwickelt, an dem niemand mehr vorbeikommt. Die Politiker geben sich bei Oma Katharina die Klinke in die Hand und auch viele Handwerker, freie Berufe und Industrielle. Wenn sie guten Nachwuchs für ihre Firmen brauchen, dann fragen sie zuallererst bei Oma Katharina nach. Die Mitarbeiter von Katharina gucken sich die „Kandidaten“ vorher an, und es gibt eine Vorauswahl an geeigneten Bewerbern für die verschiedenen Berufe. Das erleichtert den Firmen die Arbeit, und sie können ziemlich sicher sein, die richtigen Mitarbeiter zu finden.

Oma Katharina nimmt die Firmen aber auch in die Pflicht. Falsche Versprechen werden genausowenig geduldet, wie Hungerlöhne und Verträge mit Hintertürchen.

Elvira ist in all dieses Geschehen hineingewachsen. Dieses Zentrum ist ihre Welt. Sie kann nicht jeden kennen, aber sie kennt mit ihren 12 Jahren jeden Winkel dieses Zentrums. Sie kennt die wichtigen Personen und Gruppen. Sie kennt auch die Kids da draußen auf ihren Inlinern und ihren Skateboards. Das sind oft festgefügte Gruppen. Richtige Freaks. Elvira kennt natürlich die Bedienungen und Verkäufer, die Sicherheitsleute und die Leute von den Musikagenturen.

Mama arbeitet immer noch im Zentrum. Mama ist bei Oma Katharina angestellt, und sie betreut spanischsprechende Musikgruppen und Filmsternchen. Seit sie noch drei Kinder bekommen hat, hat sie die Arbeit auf einen Halbtagsjob reduziert. Vier Kinder müssen schließlich versorgt werden. Der Bereich Promotion verlangt, dass sie immer an den Wochenenden arbeiten muss, manchmal an den Abenden unterhalb der Woche und es gibt auch Vormittage, wo sie ins Zentrum fährt. Die Betreuung von Künstlern erfordert auch einen gewissen Verwaltungsaufwand, Telefonate, Terminplanung und eine Dokumentation der Erfolge. Auch Rechnungen müssen geschrieben werden. Das macht Juanita zwar nicht selbst, sie muss aber die korrekten Daten an die Rechnungsabteilung weitergeben, sonst würde das ein Durcheinander werden. Juanita hat mit zunehmender Zahl ihrer Kinder einfach die Zahl ihrer Klienten reduziert. So kann sie sich um die Arbeit, um die Kinder, um ihren Mann und auch um den Haushalt kümmern.

In den ersten Jahren in Berlin hatte sie nur die spanischsprechenden Gruppen betreut, die hier auftraten, oder Tourneen in Europa machten. Das ergab sich einfach so, weil Mama sich auf spanisch viel besser ausdrücken konnte. So ist das bei der Muttersprache. Inzwischen spricht Mama gut deutsch, aber es gibt Dinge, die kann sie nur in spanisch so richtig mit Gefühl vermitteln, und wenn sie einmal anfängt richtig zu schimpfen, dann fällt sie immer ins Spanische. Das kommt aber selten vor.

Nach vier Jahren in Berlin hatte sich Mama auch wieder verliebt. Ihr neuer Mann ist ein Filmregisseur. Er kam eigentlich vom Fernsehen, aber er arbeitet jetzt für Tante Lara und macht mit Lara zusammen Videoclips für Musikgruppen.

Hennes (so heißt Elviras Stiefvater) hat mit Mama eine schöne Wohnung in Ostberlin gefunden. Dort wohnen auch Elvira und ihre drei kleineren Geschwister.

Trotz des Umzugs ist die Wohnung von Oma Katharina immer Elviras Heimat geblieben. Unter der Woche schläft sie meist bei Mama. Sie hat ja auch Schule, und sie muss Mama mit den Geschwistern helfen.

An den Wochenenden ist Elvira immer bei Oma Katharina. Manchmal trifft sie sich mit ihren anderen Geschwistern, entweder in Peru, Mexiko oder in den USA. Die einzigartigen Kräfte der Familie machen das möglich, und Elvira hat aus irgendeinem Grund ziemlich viel davon. Die Kinder springen einfach durch den Raum. Niemand kann sie aufhalten. Sie kündigen sich kurz an und schwupp, sind sie da. Das ist lustig und bequem. Aber nicht alle Kinder der Familie haben diese großen Kräfte.

Elvira hat Glück gehabt. Opa Leon, Tante Lara, Pablo und Tante Maria haben immer mit ihr geübt. So kann Elvira nicht nur „durch den Raum gehen“, sie kann sich auch in Tiere verwandeln, sie kann diese internationale Sprache, die es ihr möglich macht, sich mit jedem Menschen auf der Welt zu verständigen, egal, wo er herkommt. Sie kann tote Materie bewegen und die großen Geschwister haben ihr beigebracht „zu summen“. Das ist eine ganz besondere Fähigkeit. Elvira kann andere Menschen damit beeinflussen. Sie kann Meinungen damit manipulieren.

Dann gibt es noch etwas. Lara hatte ihr das beigebracht. Elvira hat die Fähigkeit zu elektrostatischen Entladungen entwickelt. Die können einen erwachsenen Mann einfach von den Füssen heben und ihn um mehrere Meter zurückschleudern, bis er durch irgendetwas aufgehalten wird, das dort im Weg steht. Lara hat das immer wieder mit Elvira trainiert, aber Elvira hat das noch nie im Ernstfall angewendet. Bisher hat sie immer Glück gehabt. Sie ist noch nie bedroht worden, und sie hat sich noch nie auf solche Weise verteidigen müssen.

Schließlich hat Lara ihr gezeigt, eine Art Schutzwall um sich zu ziehen. Das ist wirklich genial. Lara kann das anwenden, wenn es gilt, sich gegen Übergriffe zu wehren. Niemand hat die Kraft, diesen Schutzwall zu durchbrechen, der nicht über die Fähigkeit der Familie verfügt. Nur eine Pistolenkugel hätte diesen Ring aus Energie durchbrechen können. Auch das hat Elvira noch nie anwenden müssen, aber manchmal sitzt sie in der U-Bahn und zieht diesen Schutzwall um sich, wenn sie einfach ihre Ruhe haben will. Dann bleibt der Platz neben ihr frei, wie durch „ein Wunder“.

Manchmal fragen alte Damen oder Opas freundlich, „ist der Platz da noch frei?“ Dann hebt Elvira diesen Schutzwall auf. Die alten Leute können Platz nehmen und Elvira beginnt mit ihnen ein Gespräch. Sie ist neugierig und sie ist kontaktfreudig, und sie hat keine Hemmungen, mit den alten Leuten zu reden. Auf diese Weise hat sie schon viele Menschen kennengelernt. Sie hat ihnen sogar bereitwillig Einkäufe Nachhause getragen, wenn die schwer sind. Elvira hat damit gar keine Probleme.

Sie hat gelernt, dass viele Menschen nicht auf der Sonnenseite stehen. Sie hat bitteres Elend und Armut gesehen, und sie hat schon oft mit Oma Katharina darüber gesprochen. Oma Katharina hat ihr dann Tipps gegeben, wie sie den Menschen helfen kann, manchmal hat sie einen Anwalt vermittelt, um Rechte durchzusetzen. Wirklich. Oma Katharina ist prima.

Elvira hat in ihrer Tante Lara eine phantastische Lehrerin. Sie wird nun schon seit ihrer Geburt in diesen übersinnlichen Fähigkeiten trainiert, die es in der Familie von Opa Leon gibt. Sie ist schon ziemlich gut, aber sie kann nicht so viel üben, wie sie das gerne möchte. Sie hat viele Aufgaben. Nicht nur in der Schule und nicht nur bei Mama.

Die Schule, das ist leicht. Elvira hätte locker eine Klasse überspringen können, aber das will sie nicht. Sie hätte dann erst mal richtig lernen müssen und sie hätte ihre anderen Aufgaben vernachlässigt. Naja, es sind ja nicht nur Aufgaben. Es gibt Freundschaften, und Freundschaften brauchen Zeit und Fürsorge. So ist Elvira im Unterricht manchmal etwas gelangweilt. Manchmal passt sie auch nicht so auf, aber sie braucht nur ihr Summen einzuschalten. Dann erhöht sich ihre Konzentration, sie hört und sieht mehr. Sie kann Zusammenhänge besser erfassen und sie findet dann den Anschluss schnell wieder.

Sie hat durch Lara früh gelernt, hinunter in die Berliner U-Bahn-Schächte zu steigen. Dort gibt es diese Kids, so wie Asha, die jetzt in ihren Armen liegt, und dort hat Elvira echte Freunde gefunden. Die Gruppe im Tunnel ist, wie eine zusammengeschweißte Gemeinschaft. Elvira hilft den Kids immer, wenn es irgendwie geht, und sie kann sich auf jeden einzelnen dieser U-Bahnkids voll verlassen.

Mama weiß natürlich von Elviras Kräften. Sie hatte lange mit Oma Katharina und Lara darüber gesprochen. Dann hatte sie eingewilligt, Elvira ein Stück weit „freizugeben“. So ein Talent, das muss gefördert werden, und bei Oma Katharina ist Elvira gut aufgehoben.

Obwohl Elvira erst zwölf ist, ist sie ungeheuer selbständig. Sie hat ihren eigenen Kopf und sie hat gelernt, gut zuzuhören. Elvira hat bereits das, was man eine Aura nennt, und Elvira ist überall beliebt.

Lara und Opa Leon haben sie immer und immer wieder gewarnt, ihre Kräfte nie zu missbrauchen, aber ist manchmal gar nicht so einfach. Grenzbereiche muss man erst definieren. Als Kind reizt du Grenzbereiche aus, und Elvira weiß inzwischen nur zu gut, dass sie Grenzbereiche schon oft überschritten hat. Manchmal ganz konkret, manchmal stand sie auch nur kurz davor.

Da war zum Beispiel dieser Louis. Louis war Sänger. Er war erst vierzehn, aber er hatte Gefühl und eine wunderbare Stimme, die sich durch den Stimmbruch erst richtig entwickelt hatte. Louis und seine Band waren wirklich gut, aber sie hatten noch nicht den Durchbruch, den sie eigentlich verdient hätten. Er war ein enger Freund und er war liebenswert. Elvira hatte ein paar Mal mit Lara gesprochen. „Können wir da nicht helfen?“ Sie war drauf und dran, das Publikum einzusummen, damit Louis den Erfolg bekam, den er ihrer Meinung nach verdient hätte. Schließlich hatte sie sich das verkniffen und sich an Lara gewandt.

Lara hatte Elvira lange angeschaut und dann entschieden geantwortet. „Nein, durch Einsummen solltest du das nicht tun. Elvira, das sind verbotene Mittel. Missbrauche deine Kraft nicht, um das Publikum zu beeinflussen. Du kannst versuchen Louis damit zu helfen, dass er seinen Stil ein bißchen ändert, dass er die Promotion ein wenig ändert, dass er bei Filmaufnahmen für Videoclips besonders gut rüberkommt, oder dass er seinen Kleidungsstil ein wenig verändert. Manchmal helfen solche Anregungen wie bengalische Feuer auf der Bühne, oder ein paar Tänzer, oder eine bessere Lichtorgel. Hilf ihm, an sich selbst zu arbeiten. Hilf ihm, besser zu werden und sich selbst zu erkennen, aber summe nie das Publikum ein, damit Louis groß rauskommt.“

Sie hatte Elvira durchdringlich angesehen. „Nie, Elvira. Tu das nie. Wir dürfen das tun, wenn wir die Menschen in bestimmten Situationen empfänglich für Argumente machen müssen, so dass sie schwerwiegende Fehler unterlassen. Wir dürfen das tun, etwa um einen Krieg zu vermeiden, oder um eine Massenhysterie zu verhindern, die Todesopfer nach sich ziehen würde. Wir dürfen das aber nie tun, damit wir mehr Geld verdienen oder einen persönlichen Erfolg erringen, der unserer Eitelkeit dient. Rede dich nicht damit heraus, dass du nur deinem Freund hilfst und nicht dir selbst. Das steht auf derselben Verbotsstufe. Geh in den Tunnel. Suche nach diesem seltsamen Wesen, das mit uns sprechen kann, rede mit ihm und halte dich an seine Anweisungen. Überschreite diesen Grenzbereich nie !!!“

Der “schwarze Meister”. So nennt Elvira dieses Wesen, das sie noch nie zu Gesicht bekommen hat, das aber manchmal mit ihr in ihrer Weltsprache spricht. Er schwebt da irgendwo im Metaraum zwischen dem Leben auf der Erde und dem Nichts. Wenn man „in den Tunnel“ geht, der in diese andere Welt führt, kann man nie sicher sein, ob man diesen “schwarzen Meister” auch findet. Wenn es brenzlig wird, dann ist er immer zur Stelle, aber seine Auskünfte sind manchmal sehr schwer verständlich. Wie die Weissagungen der altgriechischen Götter und Hellseherinnen, dieser Nymphen, Sirenen oder wie die hießen. Manchmal sind die Auskünfte wie Rätsel.

Mit Tunnel ist diesmal auch nicht die Berliner U-Bahn-Tunnel gemeint, sondern der Tunnel, den Elvira rufen kann, um sich durch den Raum zu bewegen. Auch wenn sie durch den Raum springt, dann ruft sie diesen Tunnel, der es ihr möglich macht, in nur wenigen Sekunden um den halben Globus zu springen.

Laras Warnung war so eindringlich gewesen, dass Elvira wirklich erschrocken war und in sich ging.

Am Tag darauf hatte sie die Ratten in den Tunneln aufgesucht. Opa Leon hatte immer gesagt, „in vielen Dingen sind die Tiere viel klüger als wir. Versuche, von den Tieren zu lernen.“ Also war Elvira in den Tunnel zu den Ratten gestiegen. Die Ratten hatten schon an Elviras Geruch gemerkt, dass sie gerufen werden. Etwa 200 Ratten hatten sich eingefunden, dort in diesem Quergang, den Elvira manchmal benutzt, um mit den Ratten zu sprechen. Ja, sie bittet die Ratten oft um ihre Hilfe. Sie fragt sie aus nach Gefahren und nach Ereignissen im Tunnel. Die Ratten wissen alles darüber. Sie kennen das riesige verzweigte Netz unter Berlin viel besser als jeder Mensch. Elvira hat sich immer wieder dafür bedankt. Sie hat Essen gebracht und sie hat auch die Ratten mit Informationen versorgt.

Nun erzählt Elvira den Ratten, was Tante Lara ihr geraten hat. Sie ist mit dem Rücken an der Wand heruntergerutscht. Sie sitzt jetzt mit angewinkelten Beinen auf dem Boden des Querganges und sie hat ihre Hände nach vorne gestreckt. Die Anführer der Ratten sind ihr auf die Hände gesprungen und hören ihr aufmerksam zu.

„Ihr Menschen habt schon seltsame Gedanken“, meint Adonis (so nennt Elvira eine der männlichen Ratten, der eine sehr hohe Position im Clan einnimmt).

Er fährt fort: „Bei uns ist das einfacher. Wir Ratten sind alle eine Familie. Dennoch gibt es bei uns besonders kräftige und kluge Ratten, die erkämpfen sich ihre Position und führen den Clan an. Männchen und Weibchen. Alphatiere paaren sich gerne mit Alphatieren. Das erhält die Art. Wenn wir viel zu fressen haben, dann vermehren wir uns viel, und wenn es wenig zu fressen gibt, dann haben wir weniger Nachkommen. Das ist bei uns ein natürlicher Vorgang.“

Er fährt fort: „Ihr Menschen denkt anders. Ihr wollt alles ausbeuten und zerstören, in eurer Gier nach dem eigenen Profit. Ihr denkt nie daran, etwas zu erhalten, das die Art sichert. Denk an meine Worte. Das wird einmal der Untergang der Gattung Mensch sein. Ratten wird es noch geben, wenn einmal der letzte Mensch ausgestorben ist. Wir Ratten, wir denken langfristig.“

Er überlegt kurz. „Nun ja, vielleicht denken nur einige Ratten so, die Kräftigsten und Klügsten, die, die unsere Familien anführen, aber wir tragen alle dieses Gen in uns, das uns das Überleben sichert. Ihr Menschen sagt dazu „Instinkt“, aber es ist letztlich egal, wie man das nennt. Den meisten Menschen fehlt dieses Gen. Dein Großvater hat es, deine Tante Lara hat es, und die andern Großen in deiner Familie haben es auch. Sie haben die Fähigkeit, in die Zukunft zu denken. Es ist immer gut, auf die Alphatiere zu hören.“

Adonis macht eine kurze Pause, dann fragte er direkt, „was gewinnst du, wenn du jetzt diese Menschen so beeinflusst, dass sie alle in die Konzerte deines Freundes gehen und ihm zujubeln? Wird die Welt davon besser?“

Elvira muss unwillkürlich lachen, dann meint sie. „Oh weh, ich fürchte, ich muss noch viel lernen.“

„Das ist nicht weiter schlimm“, antwortet Adonis. „Du bist noch jung. Aber es ist gut zu wissen, dass man nicht alles weiß und das man lernt, auf die zu hören, die mehr wissen, als man selbst. Dein Großvater, der uns manchmal besucht und mit uns redet, der gebraucht gern dieses Wort von der Demut. Wir Ratten haben diese Demut. Wir wissen, wann wir uns dem Stärkeren unterwerfen müssen. Hör auf meine Worte und hör auf deinen Großvater und auf deine Tante Lara. Sie wissen, was Demut bedeutet.“

Plötzlich fiepst es von der Seite des Tunnels. Adonis springt von Elviras Händen, es gibt einen aufgeregten Knäul von Ratten, dann sind sie auf einmal verschwunden.

Elvira steht auf. Sie springt zurück zu Oma. Nur wenig später leuchten die starken Strahlen von zwei Taschenlampen durch den Quergang. Sie tanzen über die Wände und den Boden. Sie ertasten den Kot der Ratten, der dort liegt, und einer der Männer sagt: „Hier müssen wir mal den Kammerjäger herschicken, guck dir den Dreck an“. Elvira hat das schon nicht mehr gehört. Sie macht sich an diesem Abend noch lange Gedanken, dann spricht sie noch mal mit Lara.

Am Schluss nickt sie. „Die Ratten haben mir zu Demut geraten. Was ist denn darunter genau zu verstehen?“

Die unschuldige Königin

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