Читать книгу Die Isar kann sehr nass sein - Hans-Peter Hohmann - Страница 10

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Es war kalt an jenem 27. März 2019. Bernadette war früh aufgestanden, um sich für den Besuch im Archiv zurechtzumachen. Sie musste die passende Kleidung heraussuchen, denn man begegnete dort möglicherweise anderen Kollegen, die sie vom Sehen kannten und ein bestimmtes Bild von ihr hatten. Auf keinen Fall durfte sie ihre Brille sowie die matt-braune Perücke vergessen, ihre „Allzweckwaffe“, wie sie sie ironisch nannte.

Sie würde zu Fuß gehen, weil sie noch etwas Zeit für sich brauchte. Sie wollte sich seelisch darauf einstellen, was ihr heute bevorstand. Ein Gewaltverbrechen, mit vielen grausigen Details, mit Fotos sowie anschaulichen Beschreibungen und Berichten.

Sie hatte schon einige Tote betrauert, und die Begegnung mit Totschlag und Mord war Teil ihrer Ausbildung gewesen. Aber so nah wie heute, das ahnte sie, war ihr der gewaltsame Tod noch nie auf den Leib gerückt.

Am Isartor, in dem kleinen Café in der Nähe des Eingangs zur S-Bahn, würde sie einen Kaffee trinken und eine Butterbreze essen. Der Kommissar würde wahrscheinlich später kommen, trotzdem wollte sie zum vereinbarten Zeitpunkt vor Ort sein.

Als sie fertig war, betrachtete sie sich noch einmal im Spiegel, zupfte ein paar Haare zurecht und zog einen dicken, schlammfarbenen Wollmantel an, das einzige Erbstück von ihrer Großmutter.

Vor dem Archiv stand der Kommissar und wartete auf seine Assistentin. Als er sie erblickte, verrutschte ihm das freudige Lächeln, mit dem er sie begrüßen wollte, und machte gut sichtbarer Enttäuschung Platz.

Sie hat sich heute wieder als asexuelles Wesen verkleidet, dachte er. Offensichtlich hat sie für den Beruf und ihre private Existenz zwei Bernadettes auf Lager, wobei gestern, da hatte sie auch im Dienst völlig anders ausgesehen. Nicht wie die „Königin der Nacht“, das nicht, aber wie eine attraktive junge Frau. Aber, fiel ihm ein, er hatte ihr ja ins Taxi noch nachgerufen, sie solle doch bitte die Bernadette vom Opernabend mitbringen. Das hatte sie auch in gewisser Weise befolgt, nur leider schien es eine einmalige Ausnahme gewesen zu sein.

Er seufzte. Bernadette lächelte nachsichtig darüber hinweg und sagte: „Guten Morgen, Herr Oberlin. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?“

Gut geschlafen? Nein, bei Gott, das habe ich nicht, dachte er und wurde rot. Er erinnerte sich unwillkürlich an einen Traum, es war der letzte, bevor er schweißgebadet aufgewacht war und ins Bad stürzte. Dort musste er sich gefühlt eine ganze Stunde eiskalt abduschen, um seine Fantasien abzutöten.

Und da Bernadette in ihrer ganzen Pracht den Mittelpunkt dieses Traums gebildet hatte, war er soeben dunkelrot angelaufen. Er hoffte, dass sie sein Erröten hier im schummrigen Kellergang nicht bemerkt hatte, ganz zu schweigen vom Charakter des Traums, den man ihm vielleicht vom Gesicht hätte ablesen können.

Sie schaute ihn jedoch weiterhin lächelnd an, sagte dann, da er ihr noch immer keine Antwort gegeben hatte, „ich schon“ und dass sie gespannt sei, was er im Archiv für sie ausgegraben habe.

„Noch nichts“, erwiderte er verlegen, „es ist noch nicht geöffnet.“

In diesem Augenblick hörten sie das Rasseln eines Schlüsselbunds, die schwere Zugangstür wurde von innen aufgestoßen und ein kleiner, untersetzter Mann Mitte Fünfzig trat nach draußen. Er schien überrascht, dass bereits Kundschaft auf ihn wartete, erkannte dann den Kommissar und rief begeistert:

„Poldi, alter Freund und Kampfgenosse, das ist ja eine seltene Ehre! Und wen hast du da mitgebracht? Doch nicht deine Tochter, oder? Dir wie aus dem Gesicht geschnitten, Respekt!“

Er drehte sich zu Bernadette um, deutete eine Verbeugung an, sagte: „HawedieEhre, gnä‘ Fräulein!“ und bat die beiden herein.

Oberlin, mäßig amüsiert, korrigierte den offensichtlichen Irrtum nicht. Denn Bernadette hatte weder als „graue Maus“ und schon gar nicht als „Königin der Nacht“ irgendeine Ähnlichkeit mit ihm; und Monique, seine Tochter, kam ganz nach der Mutter, was für sie eindeutig von Vorteil war.

„Danke, Max“, sagte er und schaute unsicher zu Bernadette. Die grinste ihn an, hauchte: „Nach dir, Paps“ und ging einen Schritt zur Seite, damit der Kommissar an ihr vorbei passte.

Oberlin wurde wieder rot, brummelte etwas vor sich hin und trat ein.

„Wir brauchen deine Hilfe, Max, du musst uns helfen“, knurrte er und ärgerte sich über die überflüssige Wiederholung seiner Bitte.

Max, beziehungsweise Max A. Mitterer, wie es in Fraktur auf dem Schild neben der Tür stand, der Leiter des Archivs, hatte jedoch Oberlins Lapsus nicht mitgekriegt, weil er vorausgegangen war, um die Reste seines üppigen Mahls abzuräumen sowie seinem Freund und sich selbst einen Schnaps einzuschenken.

„In Erinnerung an die alten Zeiten“, rief er aus, „auf dein Wohl!“ Dann überreichte er Oberlin ein Glas, hob sein eigenes und kippte den Inhalt schwungvoll hinunter.

„Was gibt‘s, mein Freund?“, fragte er dann, „worum geht‘s und was kann ich für dich tun?“

„Ein alter Fall, Max“, antwortete der Kommissar, der seinen Schnaps ebenso schwungvoll wie der Archivar entsorgt hatte, allerdings ins verdorrte Blätterwerk einer Zimmerpflanze.

„Genauer gesagt, der Fall Benning, aus dem Jahr 2007, du erinnerst dich?“

„Benning? Der Lehrer? Klar erinnere ich mich! Das war ja kurz vor dem Attentat. Und wir im Dauereinsatz, heroische Zeiten, was?“

Er fasste Oberlin um die Schulter, strahlte ihn an und fragte: „Noch einen Schnaps, Poldi? Auf die glorreiche Vergangenheit?“

Oberlin lehnte schroff ab, was Mitterer mit Verstimmung aufnahm.

„Der Fall Benning also.“ Er räusperte sich. „Was willst du mit dem alten Schmarrn, Oberlin? Die Sache ist doch tot und begraben, so wie der Täter auch, hehe.“

Er lachte wie über einen gelungenen Witz, doch als niemand mitlachen wollte, wurde er wieder sachlich.

„Ich such es dir raus, allein findest du es nicht. Aber bitte nichts mitnehmen, schönes Fräulein“, wandte er sich an Bernadette und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Sie antwortete: „Wie könnte ich, lieber Herr Mitterer, ich werde Ihre vorbildliche Ordnung doch nicht durcheinanderbringen.“ Dabei lächelte sie ihn schüchtern an.

„Solche Gäste hab ich gern!“, rief Mitterer geschmeichelt. „Sie dürfen mich jederzeit wieder besuchen, schöne Frau, gern auch ohne diesen unleidlichen Typen dort.“

„Zur Sache, Max“, schaltete Oberlin sich ein, dem der ehemalige Kollege mit seinem Geturtel langsam auf die Nerven ging. „Bring uns endlich die Akte! Wir wollen uns möglichst rasch an die Arbeit machen.“

Mitterer zog die Augenbrauen hoch und fragte: „Ist das mit Latzke abgesprochen, Poldi? Der will über alles informiert werden, was irgendwie…ungewöhnlich ist, du verstehst? Und du weißt schließlich, was er von dir hält.“

Nichts, hätte Oberlin ergänzen können, doch er brüllte stattdessen: „Der Herr Präsident kann mich mal am Arsch lecken, mitsamt seinem Kontrollwahn! Die Akte, und zwar heute noch!“

„Wie du meinst“, sagte Mitterer mit neutraler Miene, „ich wollte es dir nur gesagt haben.“

Dann schlurfte er die Regalreihen entlang, die kein Ende zu nehmen schienen, und verschwand in einem Seitengang.Zehn Minuten später kam er mit der Akte zurück. Er überreichte sie Oberlin mit einem sarkastischen „Viel Vergnügen“ und ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

Der Kommissar blätterte das dicke Paket kurz durch, murmelte, um Mitterer noch einen mitzugeben, dass hoffentlich nichts fehle und alles richtig geordnet sei, und bat dann Bernadette, die Protokolle der Vernehmungen, die Fotos und das Geständnis irgendwie zu kopieren.

„Vielleicht scanne ich die Akte mit der Smartphone-App, dann kann ich es Ihnen gleich schicken?“, schlug sie vor, wo-rauf er sie anblaffte, wie, das sei ihm egal, „und wenn Sie es mir zumorsen, Hauptsache, ich habe es heute noch auf dem Tisch“, sagte dann, dass er sich in der Zwischenzeit stärken wolle und vor allem an die frische Luft müsse, denn „dieser unerträgliche Mief hier unten ist ja nicht auszuhalten!“

Ohne sich zu verabschieden, öffnete er die schwere Tür, trat hinaus und warf die Tür wieder zu.

Bernadette hatte den Anpfiff ihres Vorgesetzten ungerührt eingesteckt. Bemerkenswerter fand sie, was da zwischen dem Kommissar und Mitterer lief und wie die beiden zu Doktor Latzke, dem Polizeipräsidenten, standen. Dieser schätzte den Kommissar nicht besonders. Das hatte man ihr mitgeteilt, durchaus bereitwillig und auch mit einer gewissen Schadenfreude, als sie zu Oberlin abgeschoben wurde.

Einen Grund für diese Abneigung hatte man ihr nicht genannt, aber den würde sie gleich von Max Mitterer erfahren, wenn sie es geschickt anstellte.

Über den Archivar kursierten die wildesten Gerüchte. Von Sexorgien auf den Aktenbergen war da die Rede, von Weißwurstpartys mit allzu naheliegenden Möglichkeiten, die ausgelutschten Wursthäute wiederzuverwerten. Bernadette war gespannt gewesen auf diese barocke Figur, und mit seiner schmierigen Anmache von vorhin schien Max alle Klischees aufs Schönste zu bestätigen.

Doch als sie ihm die Frage gestellt hatte, warum „der Herr Hauptkommissar“ von der Direktion auf eine so unwürdige Weise behandelt werde, erzählte er die Geschichte klar, präzise und sehr besorgt um seinen alten Freund, „den Poldi“.

Oberlins Wut war nach wenigen Metern verraucht. Sein Auftritt war dumm und lächerlich gewesen, das wusste er. Er ärgerte sich, dass die bloße Erwähnung des Polizeipräsidenten ihn derart aus der Fassung gebracht hatte. Und dass ausgerechnet Bernadette seine miese Laune abbekommen hatte.

Natürlich bin ich noch nicht über die Sache hinweg, dachte er, und trat einen achtlos weggeworfenen Kaffeebecher mit Schwung gegen die Wand.

Bernadette hatte vermutlich schon von seiner Strafversetzung gehört. Jeder wusste davon. Und von Oberlins angeblichem Versagen. Ein Jahr war das jetzt her, März 2018. Der Anlass: ein Verbrechen, das um die Welt ging, der Brandanschlag auf die Münchner Synagoge, mit mehreren Todesopfern.

„Ein hochbrisanter Fall, bei dem wir uns keine Fehler erlauben dürfen“, hatte der Präsident getönt und finster in die Runde geblickt. Oberlins Team hatte den mutmaßlichen Täter bald identifiziert, eine landesweit bekannte Figur aus der rechtsextremen Szene. Man wollte über ihn an die Auftraggeber herankommen, verfolgte sogar schon eine konkrete Spur; deshalb hatte Oberlin mit der Verhaftung noch gezögert.

Latzke war jedoch überzeugt, dass es sich um einen Einzeltäter handelte, und hatte nichts Eiligeres zu tun, als seinem Leib-und-Magen-Blatt den Namen durchzustechen. Die Schlagzeile am folgenden Tag erwischte die Ermittler auf dem falschen Fuß, der Täter freute sich umso mehr und war schon untergetaucht, bevor Oberlin ihn verhaften lassen konnte.

Der Präsident tobte, sprach von „Anfängerfehlern“ und drohte „die härtesten Konsequenzen“ an. Dabei dachte er nicht etwa an seine eigene, dilettantische Aktion, sondern einzig und allein an Oberlin.

Der wurde als Schuldiger ausgemacht, obwohl sich anfangs alle, vom Staatsanwalt bis zur Profilerin, für Oberlins Vorgehen ausgesprochen hatten.

Aber die erregte Öffentlichkeit brauchte ein Bauernopfer und Oberlin, der Leiter der Ermittlungen, bot sich an. Er war der Versager, eine „Schande für unsere Polizei“, wie der Präsident nicht müde wurde zu betonen. Der gab sich überzeugt, alles wäre wieder in Ordnung, wenn der „Schandfleck“ erst einmal entfernt war.

Den flüchtigen Täter hatte man auch nach einem Jahr noch nicht gefunden. Oberlin hatte den Eindruck, dass nun, nach seiner Entfernung aus dem Kommissariat, für die meisten das Schlimmste überstanden war. Das galt natürlich für den Täter, in besonderer Weise aber auch für Latzke.

Als der Kommissar das Gebäude durch den Hinterausgang verließ, schien die Sonne. Statt sich zu Frau Anni und ihren teilnahmsvollen Blicken zu flüchten, wollte er ein wenig durch die belebten Straßen bummeln, um auf andere Gedanken zu kommen. Vielleicht könnte er für Bernadette ein kleines Geschenk besorgen, überlegte er, eine CD oder einen Blumenstrauß. Sie hatte es nicht leicht mit ihm, da machte er sich nichts vor.

Er schaute auf sein Smartphone. Bernadette hatte ihm noch nichts geschickt. Warum dauert das so lang?, wollte er schon wieder auffahren, bemerkte dann aber, dass seit seinem melodramatischen Abgang keine fünf Minuten vergangen waren. Trotzdem war er etwas verstimmt, was, wie er wusste, nur durch ein Frühstück zu beheben war, und zwar eines in der Luxusversion, bei Dallmayr!

„Das gönne ich mir heute!“, brüllte er in den strahlenden Morgen, aber außer zwei Tauben, die irritiert aufflatterten, interessierte es niemanden.

Bernadette brauchte fast zwei Stunden, bis sie den Auftrag des Kommissars erledigt hatte. Mitterer schaute ab und zu nach ihr, weil sie mehr als einmal in Gedanken versunken auf dem Hocker saß und nicht weiterzukommen schien. Er schenkte ihr dann eine Tasse Kaffee ein, später auch „etwas Gehaltvolleres“, wie er es taktvoll umschrieb. Schließlich, es ging schon auf Mittag zu, verabschiedete er sie mit einem kräftigen Händedruck und den rätselhaften Worten: „Passen Sie auf sich auf, junge Frau. Und passen Sie, wenn möglich, auch auf Leopold auf. Mit Auftritten wie dem von heute könnte er sich in große Gefahr bringen. Ich sage nur Netzwerk! Sie verstehen?“

Oberlin musste sich nach dem üppigen Frühstück, das ihm nicht gut bekommen war, ein wenig ausruhen. Eine Stunde hatte er veranschlagt, doch er wachte erst auf, als es schon dunkel war.

Zwei Nachrichten von Bernadette hatte er verschlafen, die eine mit den Infos aus der Benning-Akte, die andere mit der Krankmeldung seiner Assistentin. Frühestens am Freitag sei wieder mit ihr zu rechnen, hatte sie lapidar hinzugefügt.

„Die Dame schwächelt!“, knurrte er. Als er sich erheben wollte, wurde ihm schwindlig und er musste sich wieder hinlegen. Mit einem flauen Gefühl im Magen wühlte er sich durch den elektronischen Aktenberg, den Bernadette ihm zugesandt hatte. Er spürte, dass ihm eine Überraschung bevorstehen würde, musste aber bis zum allerletzten Dokument warten. Ganz am Ende war, entgegen jeglicher chronologischen Reihenfolge, das Geständnis eingeordnet. Ungläubig starrte er auf das Display. Das Geständnis hatte sich gegenüber der Version, die er im Schreibtisch des Lehrers vorgefunden hatte, auffallend verändert. Statt eines makellosen Computerausdrucks blickte ihm nun eine handschriftliche Version entgegen, zum Teil mit durchgestrichenen Passagen und fehlerübersät.

„Etwas ist faul in der Sache Benning, das steht fest“, murmelte er. Konkreteres fiel ihm dazu nicht ein, außer, dass er sich dem dänischen Prinzen Hamlet, den er zitiert hatte, irgendwie verwandt fühlte. To be or not to be – sollte es darauf hinauslaufen?

Die Isar kann sehr nass sein

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