Читать книгу Die Isar kann sehr nass sein - Hans-Peter Hohmann - Страница 9
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Im Westen hing ein fahles Abendrot am Himmel. Oberlin radelte nach Hause. Er war froh, dass er nicht wieder nass wurde. Er spürte ein leichtes Frösteln, denn es hatte ziemlich lang gedauert, bis seine Kleidungsstücke trocken geworden waren. Auch sein Magen hatte sich energisch zurückgemeldet. Die zwei Gabeln, die er am Nachmittag vom Strudel zu sich genommen hatte, waren ein Witz gewesen. Er würde noch einen Teller Nudeln essen, das wäre schnell zubereitet. Auf Wein verzichtete er besser, denn er wollte am nächsten Morgen pünktlich erscheinen und Bernadette nicht wieder warten lassen.
Er aß im Bett, was er sich sonst nicht gestattete. Ihm war kalt, deshalb hüllte er sich in seinen Bademantel und zog die Decke bis unters Kinn. Dann ließ er den Tag noch einmal Revue passieren.
Als er bei Bernadettes Frage angekommen war, musste er sich doch ein Glas Wein einschenken. Eigentlich eine ganz naheliegende Frage, versuchte er das zwiespältige Gefühl zu unterdrücken, das in ihm rumorte. Und folglich spürte er auch ein nur allzu bekanntes Sodbrennen. Der Stress - wer sonst? - stattete ihm wieder mal einen Besuch ab.
Warum, grübelte er, war er überhaupt auf Bernadettes Frage eingegangen? Er hätte doch einfach antworten können, nein, einen solchen Fall gibt es nicht, tut mir leid.
Warum also hatte er diese alte Geschichte wieder hervorgekramt? Beziehungsweise, warum war dieser Fall geradezu aus dem Nichts wieder aufgetaucht? Wie eine riesige Welle, die über ihm zusammenschwappte, so dass er keine Luft mehr bekam? Der Fall Benning. Der „sonnenklare Fall“.
Schon damals hätte er es wie alle anderen machen sollen: Hier war die Tat. Da das Geständnis. Und, als Bestätigung der Schuld, die Selbsttötung. Keine weiteren Fragen.
Bastian Benning, Oberlin erinnerte sich, als wäre es erst vor wenigen Wochen passiert. Lehrer für Sport und Musik. Angestellt an einem Gymnasium in Solln, das auch Monique besuchte, Oberlins Tochter. Die Jungs mochten ihn, weil er „ein guter Spezl“ war, wie sie später übereinstimmend aussagten, und in Sport ein absolutes Ass.
Die Mädchen schwärmten für ihn, denn er sah blendend aus, wie ein latin lover, mit seinen dunklen Augen, und er hatte für jede ein nettes Wort. Dabei blieb es jedoch, er hielt alle auf Distanz. So schien es zumindest.
Bis er eine Schülerin aus der Elften verführte.
„Nicht verführt! Vergewaltigt!“, schrie das Mädchen bei der Befragung. Dann hörte sie nicht mehr auf zu weinen.
Oberlin hätte damals am liebsten mitgeweint. Ihm ging es nicht gut, seine Frau Helen wollte die Scheidung. Ihre Ehe sei nicht mehr zu retten, behauptete sie. Er war aus allen Wolken gefallen, denn er hatte Helen immer geliebt und war gern mit ihr zusammen.
Er war selten vor acht Uhr abends nach Hause gekommen, das musste er eingestehen – sein Ehrgeiz, dadurch unregelmäßige Arbeitszeiten und zu viele Überstunden. Vor allem Monique hatte darunter gelitten. Er sei nie da, wenn man ihn brauche, das war Helens Hauptargument gewesen, später, vor Gericht. Die Scheidung war dann nur noch reine Formsache, und Monique wurde ihr zugesprochen.
Er hatte ihnen das Haus in Solln gelassen, seine Tochter sollte in ihrer vertrauten Umgebung bleiben. Den Kredit für das Haus hatte er inzwischen fast abbezahlt, allein. Helen hatte angeführt, dass sie arbeitsunfähig sei, und sie war damit bei dem verständnisvollen Richter durchgekommen. In diesem Sommer erst würden sämtliche Schulden getilgt sein. Deshalb hatte er sich auch nichts Besseres als die Bleibe in der Auenstraße leisten können, und auf ein Leben in der billigeren Provinz hatte er keine Lust gehabt.
Seine Hand fasste in etwas Weiches. Es fühlte sich kalt und eklig an. Er hob die Decke und sah, dass ein paar Nudeln mitsamt reichlich Tomatensugo auf dem Bettlaken gelandet waren. Wie ein Tatort, dachte er. Und die Leiche, das wäre dann wohl ich.
Er seufzte, erhob sich, wechselte das Bettzeug, zog einen frischen Schlafanzug an und öffnete das Fenster. Woran hatte er gerade gedacht? Ah ja, die schäbige Bleibe in der Auenstraße. Und das schöne, gemütliche Haus in Solln. Helen hätte ihm nie erlaubt, im Bett zu essen. Ach, Helen!
Im Nachhinein betrachtet, hatte ihm die Trennungsgeschichte sicher mehr zugesetzt, als er es sich damals eingestehen wollte. Ob das Auswirkungen auf die Arbeit am Fall Benning gehabt hatte? Schwer zu sagen. Allerdings war ihm fehlerfreie Arbeit bescheinigt worden. Sogar der gestrenge Herr Staatsanwalt hatte sich ausgesprochen zufrieden gezeigt, was selten vorkam, und er hatte die „rasche und sehr gründliche Aufklärung“ gelobt. Oberlins Zweifel hatte er mit seinem „Basta!“ einfach weggewischt.
Durch Bernadettes Frage waren diese Zweifel wieder aus irgendwelchen unergründlichen Tiefen ans Tageslicht gelangt. Ihm blieb nichts übrig, als sich ihnen zu stellen. Am liebsten, dachte er, am liebsten wäre es mir natürlich, wenn sie sich als überflüssig erwiesen. Dann könnte ich diese nervende Geschichte endgültig begraben.
*
Bernadette hatte, als sie mit der Tram zum Rosenheimer Platz fuhr, zu Hause angerufen. Endlich gebe es etwas zu tun, berichtete sie ihrer Mutter. Der Kommissar beschäftige sich zwar am liebsten damit, was er als Nächstes essen könnte, sei aber sonst ganz nett und hilfsbereit.
Sie fragte nach Franzi, ihrer kleinen Schwester, und ließ sie und Papa grüßen. „Und einen dicken Kuss an Norbert“, sagte sie zum Schluss des kurzen Gesprächs.
Norbert, den schwarzen Riesenschnauzer, vermisste sie am meisten, ansonsten hatte sie sich von ihrer Familie schon weitgehend gelöst. Während der drei Jahre in Nürnberg hatte das Heimweh öfter mal vorbeigeschaut, in letzter Zeit nicht mehr.
Als Bernadette die kleine Wohnung in der Lilienstraße betrat, schlug ihr ein leicht muffiger Geruch entgegen, was nach ihren Erfahrungen auf einen Wetterumschwung schließen ließ. Das Gemäuer war feucht, denn das Kellergeschoss des Hauses war früher durch den Auer Mühlbach regelmäßig überschwemmt worden.
Bernadette setzte sich an den kleinen Tisch in der Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Grete, ihre Mitbewohnerin, war diese Woche nicht da. Sie besuchte eine Fortbildung, irgendwo in Niederbayern. Bernadette hätte ihr gern vom heutigen Tag erzählt, ebenso von dem aufschlussreichen Opernbesuch am Abend zuvor. So blieb ihr nur das Tagebuch, dem sie alles anvertrauen konnte.
Sie holte es aus dem Regal in ihrem Zimmer, setzte sich wieder an den Tisch und schlug das in mattes Schwarz gefasste Buch auf. Sie schrieb flüssig, schnell, die Wörter flogen nur so aufs Papier. Die umständliche Schönschrift,mit der sie die ereignislosen Tage in der Abstellkammer des Präsidiums dokumentierte, hatte sie völlig abgelegt. An deren Stelle trat das Schriftbild einer starken, selbstbewussten Persönlichkeit.
Nach einer Stunde klappte sie zufrieden das Buch zu, trank noch ein letztes Glas Wasser und legte sich auf ihr Bett. Sie schaute in den sternenklaren Nachthimmel und war gespannt auf den morgigen Tag.
*
Leopold Oberlin konnte lange nicht einschlafen. Der nächtliche Autolärm in der Auenstraße, dieses ständige Brausen, das heute sogar im Hinterhof zu hören war, hielt bis weit nach Mitternacht an. Und obwohl er an diesem Abend eigentlich auf Alkohol verzichten wollte, hatte er sich, als er so am Fenster stand, ein weiteres Achtel eingeschenkt, großzügig bemessen, schließlich noch eins, bis die Flasche fast leer gewesen war. Von der nahe gelegenen Maximilianskirche schlug es zwei Uhr, als er sich den Rest eingoss und ihn mit einem gierigen Schluck hinunterschüttete.
Noch fünf Stunden, dachte er, vielleicht sechs, dann allerdings ohne Frühstück. Doch die Stunden verstrichen unter allerlei Gedanken und verwegenen Wünschen.
„Bernadette“ war das letzte Wort, das er ins Kopfkissen flüsterte, ehe er in einen kurzen, von wirren Träumen durchzogenen Schlaf fiel.