Читать книгу Die Isar kann sehr nass sein - Hans-Peter Hohmann - Страница 7
Оглавление2
Es war spät geworden. Erst kurz nach Mitternacht hatten die letzten Besucher das Nationaltheater verlassen. Die Ovationen für die Stars hatten kein Ende nehmen wollen, also mussten sich auch Oberlin und Bernadette gedulden, bis sie ins Freie hinaustreten konnten. Es hatte geschneit, die Straßen waren glatt.
Von der oberen Treppenplattform konnte man gut die Verrenkungen der älteren Herrschaften verfolgen, die zur Straßenbahn schlitterten und auf den vereisten Pflastersteinen mehrmals hinzufallen drohten, bis sie endlich in das wartende Fahrzeug eingestiegen waren.
Oberlin verkniff sich eine süffisante Bemerkung, er fürchtete, Bernadette könnte sie ungnädig aufnehmen. Er schaute zu ihr hinüber. Sie kramte gerade in ihrer Handtasche. Ob es ihr gefallen hatte? Das hätte er gern gewusst. Sie hatte applaudiert, wie man das eben tat, aber nicht so enthusiastisch, wie es die meisten in dem bis auf den letzten Platz gefüllten riesigen Saal zu tun pflegten. Allerdings hatte es auch nicht wie Pflichtapplaus ausgesehen. Ihm hatte die Vorstellung insgesamt gut gefallen. Über gewisse Dinge, die sehr gewöhnungsbedürftigen Regieeinfälle zum Beispiel, musste er noch nachdenken.
Nachdenken musste er auch über seine Begleiterin. War das die gleiche Person wie jene Frau Rösler, die ihm tagtäglich gegenübersaß und so aussah, als wollte sie jeden Augenblick im Boden versinken? Vor Scham, vor Schüchternheit, vor Bedeutungslosigkeit, was wusste er? Mit ihrer riesigen Brille, ihrer altmodischen Kleidung und mit den glanzlosen braunen Haaren, die zur immer gleichen „Frisur“ gebunden waren, wirkte sie wie eine graue Maus, die in ihrer beider Abstellkammer genau am rechten Ort war.
Nachdem er sich vor Beginn der Vorstellung an der verabredeten Stelle eingefunden hatte, etwas später als ausgemacht, und als weitere zehn Minuten verstrichen waren, wurde er allmählich unruhig, denn er konnte Bernadette nirgends entdecken.
Dass sie zu spät kommen würde, war eigentlich ausgeschlossen, und inzwischen hatte sich die Schar der Wartenden deutlich ausgedünnt.
Der schönen jungen Frau, die ein paar Schritte entfernt stand, schien es wie ihm zu gehen. Sie schaute unentwegt in Richtung Straßenbahn, der ihre Begleitung offenbar entsteigen sollte. Mit ihren dunklen, glänzenden Locken und dem bodenlangen schwarzen Kleid, das mit funkelnden Pailletten besetzt war, ähnelte sie der „Königin der Nacht“ die er vor zwei Wochen hier im Haus bewundert hatte. Er zögerte, ob er der eleganten Dame ein Kompliment machen sollte, gab sich dann aber doch einen Ruck, trat zu ihr und sagte: „Nur schade, dass heute nicht Die Zauberflöte auf dem Programm steht. Sie hätten die Hauptrolle sicher gehabt.“
Dabei lächelte er verlegen, denn es stand zu befürchten, dass die junge Frau seine Anspielung nicht verstehen würde.
Sie wandte sich zu ihm um, er erkannte sie, sie ihn ebenfalls. Sie wurde purpurrot und rief aus: „Gott sei Dank, Herr Hauptkommissar, ich dachte schon, ich hätte Sie verpasst!“
Bernadette – die „Königin der Nacht“! Oberlin konnte nicht fassen, was er da zu sehen bekam. Ihr war kalt, das immerhin bemerkte er, denn sie trug über dem Kleid nur eine dünne Stola um die Schultern. Deshalb schob er seine Assistentin rasch ins Foyer, wo man sie zur Eile mahnte, denn es hatte bereits dreimal geläutet. Das Orchester saß im Graben und wartete nur noch auf Kirill Petrenko, damit das dramma tragico beginnen konnte.
In den Pausen schwiegen sie – Oberlin, weil es vorläufig nichts zu sagen gab, Bernadette, weil sie, wie er annahm, zu benommen war von den flirrenden Eindrücken, die auf sie einstürzten. Er hatte ihr in der ersten Pause ein Glas Sekt spendiert, an dem sie sich festhielt, weil sie nicht wusste, wohin mit ihren Händen. An der lauwarmen Brause hatte sie nur genippt, und als es Zeit war, wieder in den Saal zu gehen, hatte sie das fast volle Glas auf einem Tischchen abgestellt. Dabei war sie dunkelrot angelaufen.
Die zweite Pause verbrachte sie größtenteils mit dem Anstehen vor der Toilette, weshalb Oberlin einige Bekannte begrüßte. Friederike Michalek zum Beispiel, eine Freundin seiner Frau, beziehungsweise Ex-Frau, und Inhaberin einer Großbäckerei mit siebzehn Filialen im Stadtgebiet. Sie hatte, wie er wusste, nah am Wasser gebaut und folgerichtig Tränen in den Augen.
„Du weinst jetzt schon, Fritzi?“, fragte er, nachdem er zu ihr getreten war und von einer Parfümwolke eingenebelt wurde.
„Du kennst mich ja, Leo“, antwortete sie und schnäuzte sich kräftig in ein Taschentuch, „ich denke halt das schlimme Ende immer schon mit.“
„Hier hast du noch eine Packung Tempos, du Ärmste. Du wirst sie brauchen“, lachte Oberlin, verabschiedete sich und tänzelte weiter durch das Stimmengewirr.
Von weitem sah er den Polizeipräsidenten, wie immer umringt von einer Schar halb verblühter Verehrerinnen. Er trug Galauniform. Das wäre dem Kommissar nie eingefallen. Er hielt Beruf und Freizeit immer strikt getrennt, und wenn er in die Oper ging, gab es für ihn nur Smoking, da war er altmodisch. Obwohl, fiel ihm ein, in Uniform zu gehen war eigentlich noch altmodischer, da dachte man doch gleich an „Preußens Gloria“ und an die „tausend Jahre“, die darauf folgten. Aber Geschichtsvergessenheit schien gerade wieder groß in Mode zu kommen, und den dümmlichen Tanz der gackernden Hühner um den eitlen Gockel empfand er als peinlich und beschämend.
Er bewegte sich wieder in Richtung Saal und wartete an der seitlichen Flügeltür auf Bernadette, die wenig später eintraf. Er sah sie schon aus der Ferne, denn die Menge schien sich bereitwillig zu teilen, sobald diese funkelnde Erscheinung sie durchschritt. Und Oberlin konnte es noch immer nicht fassen.
Lucias Wahnsinn hatte sich an der kalten Nachtluft verflüchtigt. Und was nun?, überlegte Oberlin, da sie inzwischen ganz allein auf der Plattform standen. Ein Taxi, zuerst zu ihr, dann zu mir, war sein von leichtem Bedauern unterlegter Gedanke. Aber, wies er sich zurecht, was sollte er mit seiner Assistentin schon anfangen wollen? Angeschwiegen hatten sie sich bisher zur Genüge, und mehr als reden war sowieso nicht drin.
Bernadette enthob ihn jedoch einer Entscheidung, denn sie sagte plötzlich mit fester Stimme: „Ich will noch nicht nach Hause, Herr Hauptkommissar. Könnten wir vielleicht noch irgendwohin gehen? Hunger hätte ich auch. Es hat doch länger gedauert, als ich erwartet hatte.“
Der Kommissar war angenehm überrascht. Das wäre auch sein Vorschlag gewesen. Eine weitere erfreuliche Seite, die er an seiner offenbar durchaus wandlungsfähigen Mitarbeiterin entdecken durfte. Und, soweit er sich erinnern konnte, ihre erste Bitte!
Er antwortete rasch: „Natürlich, Bernadette, eine sehr gute Idee“, damit sie nicht, aus Furcht, etwas Falsches gesagt zu haben, wieder errötete und womöglich einen Rückzieher machte.
Das Franziskaner hatte schon geschlossen, aber im Spatenhaus fanden sie im hintersten Eck einen Zweiertisch. Der Oberkellner kannte ihn und meinte, als der Kommissar um die Speisekarte bat, die Küche würde sicher „noch ein paar Reste zusammenkratzen, zur Stärkung von Seele und Leib!“
Bei „Leib“ zwinkerte der „Service Guide“, wie das Personal neuerdings in den bevorzugt von internationaler Klientel besuchten Häusern hieß, mit den Augen und schielte zu Bernadette hinüber.
Oberlin ärgerte das. Einerseits fand er die plumpe Vertraulichkeit unangemessen, zum anderen war er empört über die halbseidene Andeutung. Denn obwohl er für seine einundsechzig Jahre noch ganz passabel aussah – er hatte etwas Beschwingtes an sich und die langen Haare erinnerten an den in München vergötterten Barkeeper Charles Schumann (die Körpersilhouette leider nicht, wie er zugeben musste) – würde er nicht im Traum daran denken, sich mit einer jungen Frau von…
Er hielt inne. Wie alt war seine Assistentin eigentlich? Im Dienst wirkte sie irgendwie alterslos, heute Abend dagegen hätte er sie auf höchstens zweiundzwanzig geschätzt. Wie auch immer, er musste zur Kenntnis nehmen, dass Frauen wie Bernadette Rösler nicht zu seinem Beuteschema zählten. Falls er überhaupt noch eines hatte.
Bernadette unterbrach seine Grübeleien, indem sie ihn bat, ein Glas Wein, roten, wenn es einen gab, und die Entenbrust für sie zu bestellen, statt Kroketten einen Salat dazu. Sie wolle sich etwas frisch machen, wenn er gestatte.
Er gestattete, erhob sich sogar, als sie den Tisch verließ, und gab dem Kellner ein Zeichen.
„Zweimal die Ente“, diktierte er, „ein Viertel Blaufränkisch von Heinrich, aber den guten, und ein Helles. Ach ja, und einmal statt Kroketten den Spinatsalat, mit Kürbiskernöl.“
Und nach einer kleinen Pause fügte er noch an: „Wenn es keine Mühe macht.“ Das musste er dem aufdringlichen Kellner noch hinreiben.
Es machte keine Mühe, wie die inzwischen wieder devot dienernde Servicekraft versicherte, und als Bernadette von der Toilette zurückkam, stand bereits die gesamte Bestellung auf dem Tisch.
Sie aßen und schwiegen sich an, aber das waren sie ja gewohnt. Es schmeckte trotz der späten Stunde überraschend gut, wie frisch zubereitet. Bernadette wollte, nachdem die Teller abgeräumt worden waren, noch ein Achtel Blaufränkisch, trank einen großen Schluck und leckte sich leicht über die Lippen. Oberlin sah, dass sie mit seiner Wahl zufrieden war, räusperte sich dann, um zu fragen, ob man nicht allmählich aufbrechen sollte. Bernadette schien auch daran zu denken, denn sie hob ihr Glas. Um es auszutrinken, wie der Kommissar vermutete.
Doch erneut verblüffte ihn seine Assistentin, denn sie begleitete ihre Geste mit einer kleinen Rede.
„Lieber Herr Hauptkommissar!“, sagte sie, „Sie haben mir einen unvergesslichen Abend geschenkt. Dafür werde ich Ihnen ewig dankbar sein. Die Musik, die festliche Stimmung! Ich fühle mich, ich weiß nicht wie.“
Sie war wieder rot geworden und Oberlin wollte schon geschmeichelt abwehren, doch sie war noch nicht fertig.
„Aber entschuldigen Sie“, fuhr sie fort, „es ist vielleicht dumm von mir, aber diese Frau, diese Lucia, die ist doch so lächerlich, so unglaubwürdig, finden Sie nicht? Liebt einen Mann, heiratet einen anderen, bringt den um und, statt froh zu sein, ihn zum Glück rasch wieder loszuwerden, wird sie wahnsinnig? Der das Drehbuch geschrieben hat…“
„Libretto“, warf Oberlin ein, eine Besserwisserei, die ihm sofort unangenehm war.
„…Libretto, verzeihen Sie, also der das Libretto geschrieben hat, hatte echt keine Ahnung von Frauen. Und die arme Sängerin, die die Rolle spielen musste, hat zwar so getan, als würde sie diesen ganzen Blödsinn durchschauen, könnte aber leider nichts dagegen tun, denn so steht es halt im Dreh …, äh, Libretto!“
„Das ist eben eine Oper, die vor fast zweihundert Jahren…“, wollte Oberlin beschwichtigend einwerfen, doch Bernadette ließ ihn nicht ausreden.
„Die Theaterstücke über Antigone, Elektra oder Medea sind vor über zweitausend Jahren geschrieben worden, und die sind kein bisschen verstaubt oder lächerlich. Diese Frauen wurden von den Dichtern ernst genommen. Lucia ist dagegen nur ein Zerrbild, eine Fantasievorstellung – wie man sich die Frau als Mann halt wünscht: gefühlvoll, damit sie sich verliebt; gehorsam, damit sie den Wünschen der Männer auch brav nachkommt; und wenn sie mal konsequent handelt, erklärt man sie für wahnsinnig und räumt sie aus dem Weg. Oder idealerweise tut sie es gleich selber.“
„Darf ich Ihnen noch ein Glas Wasser bestellen, Bernadette?“
Oberlin klang besorgt, obwohl eigentlich kein Anlass dazu bestand, aber die junge Frau beruhigte ihn und sagte, es sei alles in Ordnung, und ja, Wasser wäre nett, vielleicht eine Flasche, wenn es nichts ausmache? Es könne auch Leitungswasser sein.
„Finden Sie, ich übertreibe?“, nahm Bernadette das Gespräch wieder auf, nachdem sie die Flasche in einem Zug zur Hälfte geleert hatte.
„Nun, wissen Sie…“. Oberlin zögerte, die Rede seiner Assistentin hatte ihn sprachlos gemacht, alles an ihr machte ihn sprachlos, so dass er nicht recht weiterwusste.
„Ich habe natürlich keine Ahnung“, unterbrach ihn Bernadette, bevor er mit seinem Gestotter zu einem sinnvollen Ende gekommen war, „das war die erste Oper, die ich besuchen durfte, und vielleicht müssen die Personen in Opern so sein, so künstlich und unglaubwürdig. Denn schließlich singt im echten Leben auch keiner, wenn er wahnsinnig wird, und wenn, dann jedenfalls nicht so schön. Obwohl, „schön“ gesungen hat die Sängerin eigentlich nicht, sondern irgendwie „passend“, finden Sie nicht auch?“
Bernadette schaute ihr verdattertes Gegenüber erwartungsvoll an, doch von Oberlin kam weiterhin nichts. Das war aber nicht schlimm, denn Bernadette hatte sich noch eine letzte Pointe für ihn aufgespart:
„Da Sie ein Mann sind, Herr Hauptkommissar, müsste es Ihnen doch gegen den Strich gehen, dass auch die Männer als hirnlose Vollidioten hingestellt werden. Gut, das trifft vielleicht die Wirklichkeit schon eher, ich will da nichts ausschließen, aber…, upps…“
Sie hielt sich die Hand vor den Mund, errötete zum letzten Mal an diesem Abend und schaute schuldbewusst auf ihren Vorgesetzten.
„Ich glaube“, sagte sie kichernd, „ich rede mich gerade um
Kopf und Kragen. Den Wein bin ich nämlich auch nicht gewöhnt, nicht nur die Oper.“
Oberlin beeilte sich zu versichern, dass alles gut sei und er ihre Gedanken äußerst anregend finde. Es sei nun allerdings schon kurz vor zwei und selbst hier, im Spatenhaus, wolle man irgendwann schließen. Ein Taxi stehe für sie bereit, das sie nach Hause bringen werde.
Draußen wünschte er ihr eine gute Nacht und sagte zum Abschluss dieses denkwürdigen Abends:
„Liebe Frau Rösler. Wir treffen uns morgen, also heute, um halb, oder sagen wir um zehn, keinesfalls früher. Und bitte“, fügte er nach kurzem Zögern hinzu, „bitte bringen Sie die Bernadette von heute Abend mit!“