Читать книгу Die Isar kann sehr nass sein - Hans-Peter Hohmann - Страница 11
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In der Lilienstraße 16, im fünften Stock, brannte noch Licht, als der neue Tag schon heraufgezogen war. Bernadette hatte das kopierte Material ausgedruckt und eine sinnvolle Ordnung erstellt. Dann hatte sie sich daran gemacht, es sorgfältig durchzusehen.
Am Nachmittag, nachdem sie vom Archiv nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie beschlossen, laufen zu gehen, um den Kopf wieder frei zu kriegen. Die Luft in Mitterers Kellerverlies war mit Oberlins Kommentar „Mief“ sehr euphemistisch umschrieben, was wohl auch daran lag, dass der Kommissar es keine zehn Minuten im Archiv ausgehalten hatte.
Der „Herr über den Mief“ hatte sich zwar entschuldigt, dass die Lüftungsanlage gerade ausgefallen sei, doch da er offensichtlich mit gewisser Regelmäßigkeit die Nacht im Untergeschoss verbrachte, roch es streng nach ihm. Wie auch nach seinen geruchsintensiven Ernährungsgewohnheiten.
Bevor Bernadette sich von Mitterer verabschiedete, hatte sie sich noch nach dem ominösen A. zwischen seinem Vor- und Nachnamen erkundigt.
„A wie Archiv“, hatte er geantwortet und sie verlegen angegrinst. „Man gönnt sich ja sonst nix“, hatte er hinzugefügt, aber unter dem ironischen Blick der jungen Assistentin kam es ihm vor wie Hochstapelei.
Sie hatte ihm jedoch versichert, dass sein Geheimnis, falls es eines sein sollte, bei ihr gut aufgehoben sei. Dann hatte sie sich für den Kaffee und seine Hilfe bedankt, war, nach Mitterers besorgten Abschiedsworten, ins Erdgeschoss hinaufgestiegen und hatte das Gebäude durch den Vorderausgang verlassen. Sie wollte, dass man sie sah, über sie sprach und sich gerne auch über sie lustig machte. Bis Montag würde sie sich frei nehmen, da war es sinnvoll, dass sie noch einmal Präsenz zeigte.
Sie hatte sogar ein paar nette Worte an den Portier Ludwig gerichtet, einer Sekretärin zugewinkt, mit der sie sich angefreundet hatte, und war draußen in der Ettstraße in einen leichten Trab gefallen. Bei Oberlin würde sie sich nicht mehr melden, eine SMS am Abend, das musste genügen, war ihr durch den Kopf gegangen, während sie das Tempo anzog. Vermutlich hatte er ein schlechtes Gewissen, aber da musste er durch, der Herr Poldi!
Bernadette saß die ganze Nacht über den Akten. Sie verschaffte sich zunächst einen Überblick über die beteiligten Personen. Die zwei unmittelbar Betroffenen, der Lehrer Bastian Benning und das Opfer Marie Straub, ein sechzehnjähriges Mädchen, das auf einem beiliegenden Foto leicht dicklich aussah, mit Pickeln und einer Zahnspange. Die Zeugin, die den Lehrer belastete, Maries Freundin Madeleine. Als weitere Zeugin Annegret Benning, die Ehefrau des Lehrers, die ihm zunächst ein Alibi gegeben hatte, dann überraschend umgeschwenkt war. Der Hausmeister, der Marie in der Umkleide der Sporthalle aufgefunden hatte. Der Arzt, der das Mädchen untersucht und eine „Penetration“ festgestellt hatte. Dazu gab es noch persönliche Äußerungen von Schülern, Lehrkräften, Nachbarn, allesamt zu Gunsten des mutmaßlichen Täters.
Dann skizzierte sie die wesentlichen Handlungsphasen, bis hin zur Auffindung des toten Lehrers in einer Mädchentoilette der Schule und der „eindeutigen Diagnose Selbstmord“, wie es im Abschlussbericht hieß.
Auf einem Blatt notierte sie Ungenauigkeiten bei den Vernehmungen, logische Brüche und offene Fragen.
So war zum Beispiel ungeklärt, woher der Lehrer die Waffe gehabt haben sollte, mit der er sich umgebracht hatte. Die ganze Vergewaltigung erschien wenig plausibel – das Mädchen, das den Lehrer anhimmelte, der denkbar ungeeignete, weil stark frequentierte Ort, die fehlenden DNA-Spuren im Genitalbereich.
Dass Marie Gewalt angetan worden war, stand jedoch offenbar außer Frage, die zweite Sachverständige, eine Gynäkologin, hatte es bestätigt.
Dafür war das Zeitgerüst umso verwirrender. Für die Anwesenheit des Lehrers zur Tatzeit gab es nur die eine Zeugin, Madeleine Willmer. Die hätte zur angegebenen Zeit aber im Unterricht sein müssen, und nirgends gab es einen Hinweis, dass dies nicht der Fall gewesen war. Wie konnte sie dann bestimmte Vorgänge in oder bei der Sporthalle beobachtet haben?
Der Lehrer wiederum hatte behauptet, dass er sich zur Tatzeit im Englischen Garten aufgehalten habe. Allerdings konnte – oder wollte? – er selbst keine Zeugen benennen, die ihn dort gesehen haben könnten. Seine Frau hatte ausgesagt, dass sie mit ihrem Mann in der Nähe des Chinesischen Turms spazieren gewesen sei. Man hatte ihr wenig Glauben geschenkt, zumal ihr Mann das Alibi auch nicht bestätigen wollte. Ohne äußeren Druck hatte sie am nächsten Tag ihre Aussage widerrufen, „unter Tränen“, wie es das Protokoll über-flüssigerweise festgehalten hatte.
Am seltsamsten, fand Bernadette, war jedoch das angebliche Geständnis. Dass die untersuchenden Beamten einem Gymnasiallehrer, und sei es auch nur einem für Nebenfächer wie Sport und Musik, so viele Fehler in einem Text zutrauen könnten, war geradezu grotesk. Daran änderte ihrer Meinung nach auch die emotionale Ausnahmesituation nichts, in der sich der Verfasser möglicherweise befunden hatte. Dieser mysteriösen Sache würde sie sich als Erstes widmen. Und die nächsten Schritte sah sie ebenfalls schon klar vor sich.
Am nächsten Morgen meldete sich Bernadette offiziell krank. An Oberlin schrieb sie, dass sie sich „eine Magen-Darm-Geschichte“ eingefangen habe. „Vermutlich in Herrn Mitterers Toilette“, präzisierte sie, was der Kommissar sicher nachvollziehen könne. Sie werde sicherheitshalber erst am Montag wieder zum Dienst erscheinen, freue sich aber darauf, endlich mit der Arbeit an dem Fall beginnen zu können. Sie wünschte ihm einen schönen Tag, schickte ein dezentes Smiley hinterher und fuhr dann ins Olympiabad, um ihre üblichen hundert Bahnen zu schwimmen.
*
Oberlin bekundete ihr in seiner Antwort sein vollstes Verständnis, sie solle sich auskurieren, schließlich laufe ihnen der Fall ja nicht davon. Diese hintersinnige Formulierung gefiel ihm so gut, dass er ebenfalls ein smile anfügte und sich auf den Weg zu Frau Anni machte.
Vor der Ladentür befiel ihn wieder ein Unwohlsein. Das am Vortag genossene „Luxusfrühstück“ grummelte noch immer in seinen Innereien, weshalb er mit Bedauern rasch weiterging und dann unentschlossen durch das Viertel mäanderte. Es roch wieder nach Schnee, fiel ihm auf. Das hielt aber die städtischen Gärtner nicht davon ab, ganze Wagenladungen Krokusse und Osterglocken im innerstädtischen Erdreich zu versenken. München sollte sich prächtig herausgeputzt präsentieren, wenn pünktlich zum Osterfest die Gäste aus den entlegensten Ecken der Welt wie Heuschreckenschwärme in die Stadt einfallen würden.
Halt! Stopp! korrigierte er sich erschrocken, denn er hegte natürlich keine Vorurteile gegen Fremde, und zwar aus Prinzip nicht, schließlich war er ja selbst ein „Zugroaster“, wie man es hier nannte, ein Zugereister: der verschollene Vater aus dem Elsaß, die Mutter von der Schwäbischen Alb. Ein Fremder also.
Inzwischen war er am Stachus angelangt, wo er in die Tram stieg. Plötzlich kam ihm eine geniale Idee: Auch er könnte sich den heutigen Arbeitstag doch schenken! Und sofort wurde ihm innerlich warm. Er würde jetzt bis zum Hotel Bayerischer Hof fahren, dort aussteigen und im sechsten Stock einen Kaffee trinken, beziehungsweise einen caffè, wie der Kaffee an jenem edlen Ort auf gut Münchnerisch hieß.
Von der Dachterrasse hatte man eine schöne Aussicht auf die Silhouette der Innenstadt, mit ihren roten Ziegeldächern und den vielen Türmen. Auch das Präsidium in der Ettstraße konnte er im Blick behalten und mit wehenden Mantelschößen herbeieilen, falls man ihn vermissen sollte.
Diese Perspektiven beflügelten ihn, so dass er schwungvoll und gut gelaunt das Foyer des Hotels betrat, wo ihn die wenig beschäftigten Tresenkräfte wie einen alten Bekannten begrüßten. Er tippte lässig an seine imaginäre Hutkrempe, wie man das aus alten Filmen kannte. Nur schade, dass ich keine Pfeife dabei habe, schmunzelte er, als Kommissar Maigret würde ich bestimmt eine gute Figur abgeben.
Mit dem Lift fuhr er in den sechsten Stock und platzierte sich direkt an der gläsernen Außenwand des Restaurants. Hier würde er es in den nächsten zwei, drei Stunden aushalten können.
Er nahm das Notebook aus seiner alten Aktentasche. Vielleicht könnte er ohne Bernadette schon mit ein paar kleineren Recherchen beginnen, das würde sie ihm bestimmt nicht zum Vorwurf machen. Vor allem die Sache mit dem Geständnis ging ihm nicht aus dem Kopf. Jemand musste das alte gegen das neue ausgetauscht haben, das war offensichtlich. Nur, wer hatte sich Zutritt zum Archiv verschafft, ohne dass Max es bemerkt hatte? Oder hatte der es bemerkt und, schlimmer noch, sogar gedeckt?
Oberlin schnaubte empört. Max, dachte er, du falscher Fuffziger! Deine Reaktion gestern hat dich verraten!
Aber, setzte er wieder an, wer sollte denn überhaupt ein Interesse daran haben, das eine Geständnis zu entfernen und ein anderes einzulegen, noch dazu so auffällig ganz am Ende? Der Fall war längst abgeschlossen, da hätte doch kein Hahn mehr danach gekräht, zumal an der Echtheit des ersten Beweisstücks keine Zweifel aufgekommen waren.
Ihm wurde wieder leicht schwindlig, weshalb er sich, seinem rumorenden Magen zum Trotz, ein kleines Frühstück bestellte.
Man habe gerade frische Hörnchen geliefert bekommen, sagte der freundliche junge Kellner, der stolz eine dramatische Elvis-Tolle auf dem Kopf balancierte.
Hörnchen, dachte Oberlin, wie süß. Das hörte man heute ja kaum noch. Aber wenn nicht hier, im Bayerischen Hof, wo bitte sonst?
„Ja“, sagte er, „gerne zwei von Ihren frischen Hörnchen.“
Später würde er einen Whisky brauchen, vielleicht auch zwei. Er war noch immer davon überzeugt, oder er wollte einfach daran glauben, dass ein kräftiger Schluck Alkohol den Magen aufräumte und die ordnungsgemäße Verdauung beschleunigte. Auch wenn Alfons Schuhbeck inzwischen das Gegenteil behauptete, der alte Verräter!
Er musste grinsen. Zwei Whisky also, und einen Grappa als „Drüberstreuer“. Da konnte er sich den heutigen Arbeitstag definitiv schenken, dachte er und freute sich wie ein Erstklässler, der die Schule schwänzte.
Wo war ich stehen geblieben?, versuchte er sich zu erinnern, doch da in diesem Augenblick das kleine Frühstück aufgetischt wurde, schob er das Notebook zurück in seine Aktentasche, verschloss diese und widmete sich den liebevoll kredenzten Kleinigkeiten.
*
Bernadette hatte noch fünfzig Bahnen drangehängt. Im Wasser, wenn sie mit gleichförmigen Armbewegungen ihre Kilometer herunterspulte und dabei in eine Art Trance geriet, konnte sie am besten denken.
Als sie aus dem Becken stieg und sich unter die Dusche stellte, war sie davon überzeugt, dass Oberlin mit seinen Zweifeln durchaus richtig lag. Denn bei diesem „Problemfall“ stimmte so einiges nicht. Die verdächtige Eile, mit der der Staatsanwalt die Ermittlungen hatte einstellen lassen – wollte er damit jemanden decken? Dass niemand die Glaubwürdigkeit des Geständnisses angezweifelt hatte. Die widersprüchlichen Anschuldigungen des vergewaltigten Mädchens wie auch die dubiose Rolle der einzigen Zeugin. Das Fehlen von Motiven für die Tat. Und immer wieder die scheinbar unwiderlegbare These vom Selbstmord – als ob man Fingerabdrücke an einer Waffe nicht manipulieren könnte, noch dazu an einer Waffe, deren Herkunft von keinem überprüft worden war!
Der Herr Kommissar würde zu tun kriegen, das konnte sie ihm garantieren, und wenn es sein musste, würde sie ihm gehörig Dampf machen.
Nein, ermahnte sie sich, so hart durfte sie ihn nicht anpacken. Sie würde ihn schonend behandeln, beschloss sie, während sie ihren Körper energisch trocken rubbelte. Aber er sollte sich Mühe geben, ja, das war das Mindeste.
*
Herrlich, so ein geschenkter Tag! Oberlin war beim ersten Whisky angelangt und mit seinem Tagesprogramm bis dahin vollauf zufrieden. Dieser besinnliche Moment endete jäh, als von der Straße ein aufgeregtes Bimmeln zu vernehmen war. Eine Tram hielt mit schrillem Knirschen. Oberlin seufzte. Vermutlich hatte sich wieder mal ein Verehrer von Michael Jackson vor dem Hotel auf die Schienen gelegt. Sei es, weil er vom Anblick der kleinen Gedenkstätte auf dem Grünstreifen so ergriffen war, oder weil er überzeugt war, dass ein Weiterleben ohne den Superstar sinnlos sei.
Im Nu schien sich der Vorfall unten zu einer Staatsaffäre auszuweiten, Gehupe ohne Ende, und von fern näherten sich mehrere Polizeisirenen.
Und die beglückende Ruhe des Vormittags war endgültig dahin, als vom Dom her plötzlich die Glocken zu dröhnen begannen. Oberlin schaute zum Kirchturm hinüber. 11 Uhr 40. Ein Gottesdienst zu dieser ungewöhnlichen Stunde? Zu dem würden sich ohnehin nur die üblichen Verdächtigen einfinden, so laut die Glocken auch riefen.
Der Kommissar blickte in sein leeres Glas. Inmitten des infernalischen Getöses war ihm die Lust auf Whisky Numero zwo vergangen. Und in seinem Zustand war an Arbeit nicht mehr zu denken, musste er sich eingestehen, als sein Blick auf die fest verschlossene Aktentasche fiel. So zahlte er und verließ die gastliche Stätte in verdrießlicher Stimmung, denn die Magenschmerzen hatten wieder eingesetzt, für die er diesmal leider nicht das tatsächlich sehr kleine Frühstück verantwortlich machen konnte.
Das, was er in seiner Tasche spazieren trug, war ihm auf den Magen geschlagen, und er wusste, dass er sich endlich dazu aufraffen musste, die Tasche nicht nur zu öffnen, sondern auch den Inhalt zur Hand zu nehmen; aber nicht gleich, vielleicht am Nachmittag, überlegte er; jedoch schien ihm dann der Abend sogar noch besser geeignet, also der morgige Abend. Der aber ganz bestimmt.
Das Handy brummte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Eine SMS von Bernadette. Hoffentlich hat sich ihre Magen-Darm-Geschichte nicht verschlimmert, dachte Oberlin besorgt. Nein, keine weiteren Krankheiten. Aber eine „interessante Information“, wie sie schrieb.
„Habe herausgefunden, dass Marie Straub noch bei ihren Eltern lebt“, las er da. Dazu Adresse und Telefonnummer. Und zum Schluss, von einem optimistischen Emoji gekrönt, die kaum verhohlene Aufforderung: „Da könnte „man“ ja mal vorbeischauen…? Falls „man“ nichts Wichtigeres zu tun hat…!? Und danach ein schönes Wochenende!“
Er schwankte zwischen „Unverschämtheit!“ und „Warum eigentlich nicht?“, entschied sich nach einigem Hin und Her für Letzteres, wählte die angegebene Nummer, eine etwas zittrige Männerstimme meldete sich mit „Straub“, Oberlin nannte seinen Namen und trug sein Anliegen vor. Herr Straub bat ihn, kurz zu warten, er wolle nachfragen.
Nach etwa einer Minute hörte Oberlin wieder die Stimme, die ihm mitteilte, dass man ihn gern empfange, am folgenden Abend, zu einem leichten Mahl, wenn es genehm sei. Man freue sich sehr auf seinen Besuch, präzisierte die Stimme etwas fester, 19 Uhr, bitte pünktlich, man sei es gewohnt, gegen zehn zu Bett zu gehen.
Oberlin wollte noch fragen, ob er etwas mitbringen könne, ob ein kleines Geschenk willkommen sei, doch Herr Straub, offenbar der Vater von Marie, hatte längst die Verbindung unterbrochen. Nur ein unpersönliches Tuuut… tuuut… drang zu Oberlin, der trotz seiner anfänglichen Verstimmtheit eine gewisse Vorfreude verspürte. In einem ungezwungenen Rahmen das Gespräch auf die damalige Angelegenheit zu bringen, überlegte er, war sicher Erfolg versprechender als eine offizielle Vorladung ins Präsidium.
Sensibles Vorgehen war gefragt, das galt ja als seine große Stärke, als seine Spezialität gewissermaßen.