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Antons Liebe in Kalek
ОглавлениеRübenau an der deutsch-tschechischen Grenze wurde in das politische Geschehen kaum hineingezogen. Man lebte hier weiterhin recht weltabgeschieden, Telefon und Radio besaßen nur wenige, Neuigkeiten sind eher von Mund zu Mund verbreitet worden.
Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes: Anton meinte ebenfalls, die Frau seines Lebens gefunden zu haben.
Durch die grenzgängerischen Schmuggeltouren der vergangenen Jahre hatte er Bekanntschaften im tschechischen Kalek geknüpft. Jetzt erinnerte er sich an Jana, die ihm bereits als Schulbub aufgrund ihres spitzbübischen Lachens und ihrem Witz aufgefallen war. Sie wird wie Anton etwa 20 Lenze zählen. Er möchte sie mal wiedersehen, doch auf normalem Weg, nicht über die verschlungenen Pfade, auf denen er sich oft dreckige Schuhe und nasse Kleidung geholt hatte.
Es ist kein weiter Weg, nur knappe 3 Kilometer. An einem der wenigen arbeitsfreien Wochenenden, einem Sonntag, nahm er all seinen jugendlichen Mut zusammen. Frühmorgens, bei herrlichem Sommerwetter, marschierte er in erzgebirglerischer Trachtenkleidung los.
An der Zollstation, dem Grenzübergang, wurde er begrüßt: »Morschn, Andon, wie gehdsn so?«
»Gudde«
»Hasch jo kä Arbetshusn o, wohi wisch de?«
» Een abmohrgsen«
»Oh ha, do loass di net drwischn«
»Na, na, de bis bälde.«
» Kimm gudde zrügge«
Auch auf der tschechischen Seite hatte Anton keine Schwierigkeiten, über die Grenze zu kommen. Man kannte sich, es war ein freundschaftliches Miteinander.
Er schritt forsch aus, und nach einer halben Stunde war er in Kalek. Die beste Gelegenheit, hier jemanden zu treffen, war Sonntag morgens in der Kirche oder im Wirtshaus beim Umtrunk. Er hatte Jana viele Jahre nicht gesehen und wusste nicht, wie es ihr ergangen war und ob sie nicht etwa bereits vergeben war. Doch einer Eingebung vermochte er schwer zu widerstehen. Er würde sonst mit ewigen Selbstvorwürfen zu leben haben.
Anton kam just zum Gottesdienstbeginn in Kalek an und setzte sich auf eine der hinteren Kirchenbänke. Hier hatte er alles treffend im Blick, sah die Gläubigen allerdings nur mit ihrer Rückseite. Aber er hoffte, wenn Jana in der Kirche wäre–und der Besuch ist ein Gebot für jeden Ortsansässigen–würde er sie wiederzuerkennen. Ihr spitzbübisches Lächeln könnte sie verraten. Auch in dem Gotteshaus.
Die überwiegende Mehrheit der Bewohner Kaleks bekennen sich katholisch, Anton nicht. Er hatte aber keinerlei Hemmungen, dieses Kirchengebäude zu betreten, wenn's zu der damaligen Zeit auch keineswegs üblich war, mit der anderen Konfession in Kontakt zu treten. Ökumene ist noch ein unbekanntes Wort. Die Liturgie ist ihm fremd, doch er brauchte sich ja nur unauffällig zu verhalten. Dann begeht er keinen Fehler.
In Rübenau ist die Einwohnerschaft protestantisch. Bei den Grynszpans gab es jedoch manche Bräuche, die vom Protestantismus abweichend sind. Anton kennt es nicht anders und ist überzeugt, dass sie zum evangelischen Glaubensbekenntnis dazugehören.
Es war durchaus ungewöhnlich, dass er die Messe als Evangelist und als ein Mann aus Rübenau hier erlebt. Als am Ende des Gottesdienstes, nach der Andacht, die Teilnehmer die Kirche zu verlassen beginnen, war er recht angespannt. Würde Jana dabei sein, könnte er sie entdecken?
Sie schritt im Mittelgang auf den Ausgang zu, am Arm ihres Vaters, und erkannte ihn auf den ersten Blick. Sanfte Augen weiteten sich vor Überraschung, ein Lächeln, spitzbübisch wie früher, strahlte über ihr Gesicht. Auch Anton war freudig erregt, hatte er doch das Gefühl, dass sie ihn zumindest nicht vergessen hatte.
Weiterhin am Arm des Papis, erwartete sie Anton vor der Kirche. Die Tschechen sind erstaunt, den Deutschen hier anzutreffen, denn Janas Vater kannte Anton ebenfalls. Die Schmuggeltouren des Jungen waren auch ihm noch in Erinnerung.
»Dos is aber een Ubrasching, gehdsn gudde? Kimm, gemma eikehrn. In dr Kneip hutzn net bluß Mannsn, s warn aa Weibsn drinne«.
Üblicherweise pilgern nur die Männer nach dem Kirchgang ins Wirtshaus. Das ist hier wie in Deutschland ein ähnlicher Brauch. Heute jedoch ist ein Ausnahmetag. Die Hausfrauen sind vom Herd verbannt, weil der Tag der Weiblichkeit gefeiert wird. Der soll mit ein paar Maß und einem herzhaften Imbiss begangen werden. Jede Kirchgängerin erhielt auch am Portal eine Rose zugesteckt. Jana wäre solo nie in das Gasthaus gegangen, doch heute ist der Ehrentag aller Frauen. In Begleitung ihrer Männer nehmen sie am Umtrunk teil. Doch Anton fiel auf, dass ihre Mutter nicht dabei ist.
Es war in den Augen der Dorfjugend eine Provokation, dass heute dieser Deutsche hier aufkreuzte. Wagt der, mit Jana anzubändeln? Na warte, Bürschlein. Sie wussten ja nicht, dass das Zusammentreffen rein zufällig war, meinten, das sei abgesprochen. Missgünstige, ja feindselige Blicke trafen Anton, der sich aber davon nicht beeindrucken ließ. Er genoss es, mit Jana und ihrem Vater zusammen zu sein.
Aufgrund ihrer fröhlichen Art hat das Mädel zwar viele Verehrer aus Kalek und Načetin, einem nahe gelegenen Ort, doch für einen festen Freund konnte sie sich bisher nicht entscheiden. Jeder dieser Burschen ist auf andere eifersüchtig. Man möchte Jana für sich allein besitzen.
Deshalb hatte es manche Prügelei um sie gegeben, und genau das gefiel dem liebenswerten Mädel überhaupt nicht: Streit. Kein Gerangel um ihre Person, auch keinerlei Zwistigkeiten aus anderen Motiven. Das war der Hintergrund, weshalb sie sich bislang für niemanden der vielen Verehrer entscheiden mochte.
Durch die Arbeit in der Nagel - und Waffenschmiede geht es Anton finanziell leidlich, jedenfalls besser, als den Tschechen hier. Es fällt ihm nicht schwer, für alle drei ein deftiges Mittagessen, sogar mit einer Flasche Wein, auszugeben. Bei anregenden Gesprächen entwickelte sich eine ungekünstelte Sympathie füreinander.
Janas Mutter war verstorben. Die Tochter führte ihrem alten Herrn den Haushalt, ihr Bruder war nach Prag verzogen. Papa Plicka und sein Mädel wollten aber in Kalek, ihrem Geburtsort, bleiben. Es war, als sei das von einer Vorsehung so beschlossen worden. Anton und Jana hätten einander sonst nie wiedergesehen.
Anton, Jana und Vater Plicka unterhielten sich so angeregt, als verkehrten sie schon lange miteinander. Und dabei lagen Jahre des Nichtsehens dazwischen. Die unterschiedlichen Dialekte des erzgebirgischen waren kein Sprachhindernis, und die in den Kriegsjahren durchgeführten Schmuggeltouren ergaben ebenfalls ein ausgiebiges Gesprächsthema. Mit gemischten Gefühlen wurde sich an die Zeiten des Krieges erinnert. Nie wieder so ein Gemetzel, war man sich einig.
Janas Vater war genauso wie Antons Alter Herr im Berg beschäftigt gewesen. Auch er musste krankheitsbedingt den Beruf aufgeben. Daher konnte sich über Gemeinsamkeiten ausgetauscht werden, was zu erstaunlich übereinstimmenden Ansichten führte. Die Sprache war kein Hindernis, die Konfessionen auch nicht.
Bis in den Nachmittag zechten die drei im Wirtshaus, und der Wirt wunderte sich. Andere Gäste kamen und gingen, diese hier redeten miteinander, als wären sie auf ihren Stühlen festgeklebt. Aber einmal musste doch geschieden sein, und es wurde vereinbart, dass es nicht nur bei dem einen Treffen bleiben solle.
Noch jetzt sieht er die neidischen, fast feindseligen Blicke der Dorfjugendlichen, die man ihm zugeworfen hatte, als sie vor der Kirche standen und dann ins Wirtshaus bummelten.
Anton macht sich auf den Weg nach Hause, von einem n Gefühl beflügelt. Es ging auf den Abend zu, als der Deutsche Kalek verließ. Fröhlich sang er vor sich hin, doch immer wieder schaute er sich misstrauisch um, ob man ihn womöglich verfolgt. Aber Anton ist a Priegl, ein hoch gewachsenes, kräftiges Mannsbild. Er könnte es durchaus mit anderen aufnehmen, wenn es sein muss. Doch er ist ein friedfertiger Mensch, nicht auf Krawall aus.
Unbehelligt kam er an der Grenze an, nach kurzer Kontrolle auf tschechischer Seite war er wieder in Deutschland, in Rübenau. »Do bischt jo wieda, Andon!«
»Jo, do bin i wieda, un heil«.
»Host dei Werk gmachacht?«
»Jo, is derledigget, itze giehts hamm«
Anton war bestens gelaunt, es war ein herrlicher Sonntag, den er verbracht hatte. Ob sich da mehr draus ergibt? Der nächste Arbeitstag macht ihm in Gedanken bereits heute Spaß.
Der Maschinenpark des Hammerwerkes war in die Jahre gekommen. Anlagen und die Esse stammen noch von vor dem Ersten Weltkrieg. Die Firma muss dringend in neue Maschinen investieren, um rentabel produzieren zu können. Andernfalls käme das wirtschaftliche Aus.
Neuartige Herstellungsmethoden waren entwickelt worden. Die Waffenschmiede plante, zusätzliche Produkte herzustellen, welche mit veralteten Werkzeugen und Geräten nicht gefertigt werden können. Das erfordert erhebliche Investitionen, doch würden die sich auszahlen? Die Konjunktur ist zwar wieder angesprungen, doch Streit herrscht unter den Parteien des Landes. Auch in Rübenau macht sich das bemerkbar.
Für hochwertige Erzeugnisse werden nicht nur optimale Handwerkszeuge benötigt, sondern auch befähigte Mitarbeiter. Trotz Maschineneinsatz ist präzise Handarbeit erforderlich. Vorausschauend hatte der Betrieb in den wirtschaftlich schlechten Jahren ausgebildet und talentierte Beschäftigte nicht entlassen. Anton war zum unentbehrlichen Facharbeiter aufgestiegen. Er bekam einen guten Verdienst für die Arbeit und lebt zufrieden weiterhin im Elternhaus. So unterstützt er seine gebrechlicher werdenden Eltern finanziell und legt überall mit Hand an. Nur sein Bruder Artur macht ihm Sorgen. Er ist körperlich hilfsbedürftig durch sein von Geburt an verkrüppeltes Bein. Es behindert ihn sehr beim Laufen.
Briefeschreiben oder gar Telefonieren über Grenzen hinweg war kaum machbar. Privatpersonen besaßen keinen Fernsprecher, und ehe eine Zuschrift ankam, konnten viele Tage vergehen, obwohl die direkte Entfernung weniger als 3 Kilometer beträgt. Um daher Kontakt nach Kalek und damit zu Jana halten zu können, hat Anton auf Schusters Rappen zu reiten, d.h., der Weg wird zu Fuß zurückgelegt. Er fieberte einem weiteren Besuch gefühlsduselig entgegen.
Die folgenden Wochen sind allerdings mit Arbeit mehr als ausgefüllt, weil der Betrieb mit Hochdruck modernisiert werden soll. Selbst an Sonntagen wird gearbeitet, längere Freizeit gab es einen ganzen Monat über nicht. Das zerrt an Antons Nerven. Würde Jana auf ihn warten?
Aber dann war die stärkste Belastung vom Tisch, es gab wieder arbeitsfreie Wochenenden, ab Samstag Mittag bis Sonntagabend. Herrlich, nach der stressigen Zeit. Gleich am Ersten dieser freien Tage richtete sich Anton landfein zu und nahm den Weg unter die Schuhsohlen. Es wunderte die Leute, denen er begegnete, denn man sah den Rübenauer sonst selten in Sonntagskleidern. Über die Ortsgrenze kam er im Allgemeinen nie hinaus. Was ist mit dem los, rätselte das Dorf. Hier hatte er außer Freunden keine Liebschaft. Aber irgendetwas dahin gehendes wird es ja sein, weshalb sonst schmiss Anton sich in sein Azihzeich?
»Bist a Homberich, (ein Verliebter) un wer ischt de?« wurde er süffisant gefragt, doch er blieb stumm, sagte es nicht einmal der Familie. Es könnte ja schief laufen, er blitzt ab, und dann wäre Anton blamiert, wie er sich einbildet. Nein, seine Liebschaft solle, zumindest vorerst, ein Geheimnis bleiben.
Frühmorgens, bei Sauwattre, gings los. Es hatte die ganze Nacht in Strömen gegossen. Aber Erzgebirgler sind derartige Wetterlagen gewöhnt, lange Fußmärsche ebenfalls, und wenn`s gießt, hat man halt seinen Lebrziehr odre a Lodn dabei.
Am Grenzübergang wunderten sich die Zöllner.
»Saa eemol, Andon, bist du net Gscheit, bei dieset Hundswatre ins Böhmische, was host do zugssuchen. Willst etwa Strohrum schmuggeln?«
»Ach loßt mi, hab in Kalek was zubsorge, bin scho spat dro.«
Die Grenzbeamten vermochten sich keinen Reim zu machen, aber ein Spion wird er doch nicht sein?
»Wenn kimmste denn zurugge?« »Emende scho ball, emende arscht heit Omd« war die Antwort; mit der Entgegnung lief er weiter.
Triefend nass kam er just wieder zur Kirchzeit in Kalek an, ihm fror und er schüttelte das regennasse Zeug. Unter ihm bildete sich eine ansehnliche Pfütze. Es sah aus, als wäre er undicht. setzte sich in die letzte Bankreihe, nahe am Eingang, und wartete. Würde Janek mit ihrem Vater auch heute kommen?
Trotz dieses Wetters wird die Kirche proppenvoll. Katholiken lassen sich selbst bei einem solchen Regentag vom Kirchgang nicht abhalten. Dr Aadacht ist unerlässlich für de Leit, die geben ohne gewichtigen Grund keinesfalls den Besuch der Messe auf. Man ist gläubig, und der Pfarrer merkt sich, wer nicht zugegen ist. Das könnte irgendwo nachteilig vermerkt werden, argwöhnt das gewöhnliche Volk.
Der Ablauf des kath. Gottesdienstes ist für Anton ungewöhnlich. Aber was unternimmt man nicht alles, um einer Zuneigung nachzugehen. Da es nun mal keine Telefonverbindung gibt, ist der Kirchenbesuch für ihn die passendste Gelegenheit. Da nimmt man den Weg selbst bei einem solchen Wetter auf sich.
Wie beim ersten Mal hatte er ein glückliches Händchen, wieder wurde Jana am Arm ihres Vaters aus der Kirche geführt. Es gab ein freudiges Wiedersehen, sodass Antons Befürchtung, dass ihre Begegnung vor Wochen nur ein Einzelerlebnis war, also nicht zutraf.
Besonders heute bei diesem Sauwattr war das Wirtshaus der angemessenste Ort für ihre Gespräche. Bei Pils und einem Glas Wein für die Jana wurde man sich lässig vertrauter – doch der Vatr war immer dabei. Es sind keine Ausdrucksfehler, wenn wiederholt erzgebirglerische Wörter fallen, die ebenso im tschechischen Böhmen verstanden werden. Heute ging es hoch her im Wirtshaus, denn es war Kirmes in Kalek. Da hat man sich leider nicht das passendste Wetter ausgesucht. Besucher aus dem nicht weit entfernt gelegenen Načetin sind ebenfalls da. Es ist somit ein echtes Ortsgemisch anwesend, der Rübenauer Anton, Kaleker und Načetiner trafen bei diesem Dreckwetter zusammen. Und mittendrin die beiden Verliebten. Sind es von Amors Pfeil getroffene? Anton, ja, er hat Feuer gefangen. Jana auch?
Das ergab wiederum ein großes Potenzial an Ärger, denn Jana ist der Schwarm mancher Kaleker Knaben. Finstere Blicke hatte der Deutsche bereits bei seinem ersten Besuch bemerkt. Vor Wochen meinte die junge Garde, das sei nur eine Eintagsfliege, der Grenzgänger würde sich bestimmt nicht wieder sehen lassen. Drüben über der Grenze gibt es doch ebenso reizende Mädchen. Weshalb muss es denn ausgerechnet eine aus Böhmen sein? Niemand rechnete mit der Hartnäckigkeit dieses Anton aus Rübenau.
Jetzo war der Kerl also erneut da, er schien ganz offensichtlich darauf auszusein, ihnen Jana auszuspannen. Dem werden wir einen Denkzettel verpassen, der ihm das Wiederkommen ein für alle Male verleidet. Bloß wie? Und wann? Und wo?
Anton spendierte wieder ein Mittagessen für drei. Über ihre Gespräche wurde es Nachmittag, der Regen hatte nachgelassen. Es tröpfelte lediglich noch, man kann sich nach draußen trauen, und gemeinsam sucht man den Kirmesplatz auf. Der Umtrunk im Gasthaus hat sie leicht angeheitert, der Deutsche trug seine Verliebtheit offen zur Schau. Votr Plicka blieb dabei, er hatte ebenfalls die angespannte Stimmung unter den Jugendlichen bemerkt und wollte durch seine ständige Anwesenheit eine denkbare Prügelei verhindern.
Sobald verschiedene Dörfler aufeinandertreffen, ist es nie ausgeschlossen, dass es zu Auseinandersetzungen kommt. Das ist in Tschechien nicht anders als anderswo. Es interessierte Janas Votr jedoch weniger. Sollen die sich doch prügeln, wenn ihnen danach ist. Er hatte da früher ebenso nicht neigspuckt. Heute fühlte er aber so etwas wie Verantwortung für seinen deutschen Gast.
Man kennt derartige Dorfveranstaltungen, die überall zur Belustigung der dörflichen Bevölkerung ausgerichtet werden. Für die Kleinsten gibt es Kinderkarussells, manchmal auch Ponyreiten. Lebkuchen- und Eisbuden gehören dazu, Scherenschnitter, die behände echte Profile schneiden. Für die älteren und die es sich trauen den 'Hau den Lukas' und Schießbuden. Losverkäufer warben für die Buden, wo man riesengroße Teddys, Pot un Pann und anderen Schnickschnack gewinnen kann. Alle diese Vergnügungsmöglichkeiten sind hier vorhanden. Die Jahrmarktbeschicker warten auf Kundschaft.
Als Erstes kaufte Anton seiner Jana –, als solche betrachtete er sie bereits-, ein Lebkuchenherz mit der dezenten Aufschrift Heute – und das Heute war dick unterstrichen – bin ich dein. Damit vermag man nichts falsch zu machen. Dachte er sich so.
Jana ließ es sich gefallen, aber etwas verschämt war sie doch. Scherzend bummelten die drei über den Platz. Als sie an einer der Schießbuden vorbeikamen, wollten die beiden Männer ihre Schießkünste beweisen und irgendwelche billigen Trophäen abschießen. Janas Vater hatte auch als Soldat gedient, am folgenschweren Krieg mit der k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn teilgenommen und in den Schützengräben vor Verdun gelegen. ungezählte andere erlebt er das Gemetzel dort, hatte Glück und war unbeschadet wieder in die Heimat zurückgekommen.
Er ist ein passabler Schütze und hatte das Alpenländische Schützenabzeichen in Gold erhalten. Er war siegesgewiss, jetzt beim Figurenschießen. Trotzdem, die Soldatenzeit ist ein dunkles Kapitel in seinem Leben. Anton, der Waffenschmied und Büchsenmacher, besitzt ebenfalls exzellente Erfahrungen, und so trafen in Kalek zu Friedenszeiten auf dem Jahrmarkt zwei Experten aufeinander. Da wollte natürlich jeder nachweisen, was in ihm steckt. Beide bemühten sich, möglichst oft in die zwölf zu treffen.
Der Budenbesitzer kannte die Fähigkeiten der Schützen nicht, meinte, da stünden gewöhnliche Kirmesbesucher vor ihm. Je mehr Fehlschüsse, je üppiger der Gewinn für ihn, war sein Kalkül. Er sollte sich gewaltig täuschen.
Diese Kirmesschützen treffen exzellent. Die meisten Schüsse sitzen im Zentrum, denn sie haben schnell die Abweichungen der Gewehrläufe bemerkt. Anton und Janas Votr steigerten sich in einen persönlichen Ehrgeiz hinein. Sie haben in kurzer Zeit eine Menge, auch höherwertige, Figuren abgeräumt. Der Budenbesitzer bekam nasse Augen, und viele Umstehende feuerten die Kontrahenten mit lauten Rufen, schon vom Alkohol geprägt, enthusiastisch an. Wer wird der Sieger?
Als Ortsansässiger hat Janas Vater die meisten Sympathisanten hinter sich. Die Tochter stand zwischen beiden. Sie jubelte sowohl dem Einen wie dem andern zu. Es hatte den Anschein, als würde sich das Kirmesgeschehen nur noch hier abspielen.
Aber irgendwann muss es genug sein. Auf dem Tisch vor ihnen türmte sich der hälftige Schießbudenbestand an Souvenirs. Ja, wohin denn damit? Jana selbst konnte das gar nicht alles verwerten, schleppen schon gar nicht. Sie macht sich beliebt und verschenkt vieles an Umstehende, an ihre Freundinnen, die auf die Schützenkönige aufmerksam geworden sind.
Jünglinge, denen Jana ebenfalls die Sachen anbot, lehnten dankend ab. Was sollten sie mit solchem Schnickschnack anfangen. Weiberkram. Ein Rendezvous mit Jana, das könnte ihnen gefallen, ja. Manche Bekannte haben sich jetzt um die Abräumer versammelt, und gemeinsam zog man weiter, zum 'Hau den Lukas', Ha dr Lukas auf böhmisch.
Hatte man eben noch die Schießkünste der Kontrahenten bewundert, wollte man nun miterleben, wer hier der Stärkere wäre. Schlag auf Schlag knallte der Lukas, doch Anton als der Jüngere hatte bald die Nase vorn. Gegenüber Janas Votr war er der klar Überlegene. Aber das mochte die Dorfjugend nicht hinnehmen: Ein hergelaufener Deutscher, der die von vielen umworbene Jana auszuspannen beabsichtigt, schickt sich an, auch dabei der Leistungsfähigste zu sein?
»Naa, dos ka net sei« war die einhellige Meinung. Und Anton wurde gefordert, jeder versuchte, ihn auszuschalten. Runde um Runde ging die Kugel in die Höhe, nach jeweils einem Schlag war der Folgende dran. Der Standbesitzer strich jede Menge Hellern ein, doch am Ende war der Deutsche schweißgebadet der Champion. Wie war das möglich?
Niemand wusste, dass Anton in einer Hammerschmiede arbeitet. Ansehen kann man ihm das nicht. Es ist eine Schmach für die Kaleker, welche die Dorfjugend nicht auf sich sitzen lassen will.
Der Tag neigte sich, es wurde spät auf der Kirmes, unzählige Lampen tauchten die Buden in ein animierendes Licht. Jana und Anton hatten allerhand Spaß miteinander. Sie sind sich sympathisch, doch der Deutsche muss sich jetzt auf den Heimweg begeben. Anton versprach, baldmöglichst wiederzukommen. Wenn er denn erwünscht ist.
Er hat das Gefühl, nicht unwillkommen zu sein. »Bis Bälde, un Glick aaf«.
Von den Kaleker Jungen haben einige erheblich was hinter der Binde »s gieht rund imedim«. Sie fühlten sich bombig und schlichen Anton nach, ebenso die Gunge (Jungen) aus Načetin liefen Richtung Grenze. Sie haben noch ein Süppchen mit den Kalekern auszulöffeln. Vor Kurzem hatten die aus dem Nachbardorf was auf die Nase bekommen.
Anton ahnte so etwas. Er blieb deshalb in der Dunkelheit hinter einer dicken Eiche am Wegrand stehen. Seine Nachsteiger verloren ihn aus den Augen, standen in einiger Entfernung und beratschlagten. Sollten sie ihn suchen und weiter verfolgen? Jetzt erreichten auch die Načetiner, unbemerkt von den Kalekern, die ratlosen Jugendlichen. Anton befürchtete, beide Gruppen würden sich vereinen und dann gemeinsam gegen ihn Streit anfangen. Trotz seiner Körperkraft hätte er dagegen keine Chance. Doch es kam anders, als der Deutsche es argwöhnte. Er beobachtete alles, ohne selber gesehen zu werden.
Immer wieder flammt die Gegnerschaft zwischen diesen beiden Orten auf. Warum? Das könnte mit den Vertreibungen im Mittelalter zusammenhängen, als die Protestanten aus Böhmen des Glaubens wegen zu Flüchtlingen wurden. Aber deswegen in der heutigen Zeit noch Streit? Nach Načetin sind einige evangelisch getaufte zurückgekommen, auch mehrere Einwohner jüdischer Weltanschauung soll es da geben. Keinesfalls Orthodoxe, und alle haben sich unauffällig integriert. Hängt der ewige Zwist also mit Glaubensfragen zusammen?
Zuletzt hatten die jugendlichen Kaleker die Jungen aus dem Nachbarort drangsaliert, beleidigt und verprügelt. Sogar einige Mädchen mischten da mit. Da sahen die Načetiner jetzt anlässlich der Kirmes die Gelegenheit, es den Kalekern heimzuzahlen. Es passte gut, weil sich die einheimischen Dörfler bei der Verfolgung Antons aus dem Dorf hinausbewegten. So kam es, dass sie auf dem Weg gen Rübenau aneinandergerieten.
»Die redn net zamm, die puchn siech glei«, ist ein erzgebirgischer Ausdruck, und das traf hier zu. Mit Beschimpfungen fing es an, kurz darauf flogen die Fäuste, dann holte man dicke Knüppel aus dem Wald. Bis der erste Kaleker blutüberströmt am Boden lag, dauerte es nicht lang. Das war dann das Ende des Kampfes. Denn wenn es auch oft ungehemmt hergeht, totschlagen wollte man sich gegenseitig nicht, das gebot die Fairness, die für alle galt. Zumindest zu der Zeit noch.
Anton sah das Gehaue mit an, dazwischengehen aber mochte er nicht. Er war froh, dass die Kämpfenden ihn ganz und gar vergessen haben. Ob er bei seinem nächsten Besuch ebenso glimpflich davonkommen würde? Es ist stocke duster, die Kampfhähne trennten sich, jetzt fast freundschaftlich, bis es irgendwann mal wieder einen Grund zum Drufhaue geben wird.
Als der nächtliche Wanderer die Grenzstation erreichte, winkte man ihn auf tschechischer Seite einfach durch. In Deutschland hatten heute Zöllner Dienst, die Anton nicht kannten.
»Dann Pass bittschee«
»Do isser«
»Wohi wullst so spat no?«
»No darham«
»Wo darham?«
»Rübenau«
»Host was azumelde?«
»Nee, nischt«
»A kaan Strohrum odre Quarzn?«
»Nee, nischt«
»Denn guet Omd un Glig auf«
»A so«
Es war spät, als Anton zu Hause ankam. Seine Mutter kannte das nicht, so ein spätabends Heimkommen.
»Wo warst de, Andon?«
»In Beeme«
»Was, in Beeme?«
»Ja, in Beeme«
»Wos mochst de do, do net schmuggeln?«
»Nee, Mut, I hob do a Madel, mocht do abendln, is fei a scheens Madel«.
»Dann Glik auf«, sagte die Mutter nur.
Da wünschte man dem Anton an diesem Abend gleich zweimal Glück, und das hatte er den ganzen langen Tag auch genossen.
*
R.H. kann ebenfalls von Glück sprechen. Wenn bei Anton die Natur und das Heimatverbundene im Vordergrund steht, ist es bei Rudolf die sportliche Betätigung in der Wehrsportgruppe. Körperliche Bewegung wurde zu seiner innovativen Maxime.
Früher hatte der Rübenauer kein Verlangen nach einer Sportart. Das damit verbundene Schwitzen hasste er. Im Dorf gibt es außer dem Schieß- und Jagerverein auch nur noch einen Hundeverein. Er hätte auch wenig Zeit dafür gefunden. Die Heimarbeit in der Kriegszeit ließ ihn an nichts anderes denken. Jetzt kann er ohne Sport nicht mehr auskommen. Fast jeden Abend verbringt er mit Körperertüchtigung, wie Bewegungssportarten neuerdings bezeichnet werden. Und nur, wenn er seine Lotte in Chamz (Chemnitz) besuchte, zog er die Sportschuhe einmal nicht an.
Die Zugfahrt dorthin dauert immer eineinhalb Stunden. Eine gute Gelegenheit, um sich mit der aktuellen politischen Lage auseinanderzusetzen. Auf dem Bahnhof kaufte er sich dann eine Ausgabe des VÖLKISCHEN BEOBACHTERS. Es ist das Mitteilungsblatt der Nazipartei. Nach dem Verbot der NSDAP wegen des Hitlerputsches in München ist die Zeitung 1925 wiedergegründet und neu herausgegeben worden. Der umtriebige Hitler verfasst selbst manche Artikel, die sich mit dem Antisemitismus beschäftigen.
Der Vorsitzende der NSDAP ist ein glühender Judenhasser. Er behauptet in vulgärem Schreibstil, dass das Weltjudentum den Untergang der arischen Rasse bezwecke. Der frühe Hitler ist durch schwere Jugendjahre zu diesen ihn prägenden Ansichten gekommen. In seinem Buch 'Mein Kampf', das er während der Festungshaft in Landsberg schrieb, formulierte Hitler eigene Vorstellungen von einem Deutschen Reich ohne Diktat des Weltjudentums, wie er sich ausdrückte. Es ist kaum nachvollziehbar, wie eben derselbe Mensch, aus verwirrenden Familienverhältnissen stammend, zum größenwahnsinnigen Diktator aufsteigen konnte. Als Nichtdeutscher in Braunau am Inn geboren, der mit ebenso fanatischen Kumpane zig-Millionen Leben in den Tod getrieben hat.
Sein früher Lebenslauf zeigt abgebrochene Schullaufbahnen, auch als Maler und Architekt versuchte er sich vergeblich. Das väterliche Erbe verprasste er und landete zeitweise im Armenhaus. Züchtigungen durch seinen Erzieher, den Zollbeamten Alois Hitler, prägten ihn vermutlich zum Sadisten.
Rudolf las mit wachsendem Interesse derartige Artikel des VÖLKISCHEN BEOBACHTERS, konnte sich damit aber in keiner Weise identifizieren. Weshalb sollte das Judentum das europäische Wirtschaftssystem vernichten können- oder wollen? Es mochte ihm nicht einleuchten. Doch die Beschäftigung mit den Beiträgen in dieser Parteizeitung ließ R.H. nicht los.
Lotte holte ihren Freund stets vom Chamzer Hauptbahnhof ab. Die Begrüßung fiel wie immer stürmisch aus, wenn auch die Etikette der Zeit um 1927 nicht außer acht gelassen wurde. Öffentliche Küsse waren verpönt.
Lotte und Rudolf hatten sich vier Wochen lang nicht gesehen, doch gibt es innerhalb Deutschlands bessere Möglichkeiten, in Kontakt zu bleiben als im grenzüberschreitenden Verkehr. Man kann sich schreiben, ohne Grenzbehinderung. Lotte hat die Gabe, kurze oder weitschweifigere Gedichte zu formulieren. Auch für ihren Freund hat sie Eines >verbrochen<.
Per Brief hat R.H. es in Freiberg erhalten. Es hat ihn tief berührt und ihm bestätigt, dass er in seiner Freundin eine liebenswerte, begabte Zeitgenossin gefunden hat:
Das Glück.
Glück ist gar nicht mal so selten,
Glück wird überall beschert;
Vieles kann als Glück dann gelten,
was das Leben uns so lehrt.
Glück ist jeder neue Morgen,
Glück ist bunte Blumenpracht;
Glück sind Tage ohne Sorgen,
Glück ist, wenn man fröhlich lacht.
Glück ist Regen, wenn es heiß ist,
Glück ist Sonne nach dem Guss;
Glück ist, wenn ein Kind ein Eis isst,
Glück ist auch ein lieber Gruß.
Glück ist Wärme, wenn es kalt ist,
Glück ist heller Meeresstrand,
Glück ist Ruhe, die im Wald ist,
Glück ist eines Freundes Hand.
Glück ist eine stille Stunde,
Glück ist auch ein gutes Buch;
Glück ist Bier in froher Runde,
Glück ist freundlicher Besuch.
Glück ist niemals ortsgebunden,
Glück kennt keine Jahreszeit;
Glück hat immer der gefunden,
Der sich seines Lebens freut.
LK
Einen liebevolleren Beweis ihrer Zuneigung konnte Rudolf sich nicht vorstellen; er war überwältigt nach der Lektüre. Als Dankeschön brachte er ihr heute einen betäubend duftenden Strauß roter Rosen mit. Mit artiger Verbeugung drückte er ihn ihr in die Arme.
Die letzten Tage war schon sehr warmes Wetter, heute sollte es der Höhepunkt mit 30º werden. Was könnte man da Besseres anstellen als sich in eine Eisdiele zu setzen oder zum Baden begeben. Wie im Gedicht vom Glück geschrieben, besuchen Lotte und Rudolf ein Eiskaffee. Bereits zu dieser frühen Tageszeit haben sie Mühe, einen freien, geschützten Platz in einer Ecke zu finden. Beide lassen sich einen beachtlichen Becher Früchteeis schmecken.
»Dank di a, dass du mor des Varschl reime host, hats mi fei gefreit«.
Der Dialekt kam ihr trotzt des mehrjährigen Aufenthalts in Sachsen noch immer nicht glatt von der Zunge. Sie konnte es aber verstehen, was er sagte. Auf Hochdeutsch, im besten Hannoveraner Stil (die Leinestädter sollen das reinste, akzentfreieste Deutsch sprechen) antwortete sie »Das freut mich, dass es dir gefallen hat. Ich habe mir gedacht, dass es zu unserer Lebenslage passt«.
Nè Masse gab es zu erzählen, denn vier Wochen hatten sie keine Gelegenheit, sich zu sehen, sich liebevoll zu berühren. Das ist eine lange Zeit für Verliebte. Da ist die Erwartungshaltung hoch, so, als ob Kinder auf ihren Geburtstag warten. Oder das Weihnachtsfest.
Sie kamen sich immer näher. R.H. erzählte Lotte von einem Artikel in der Völkischen, fragte, wie sie darüber denkt. Die Frau hat eine scharfe Auffassungsgabe: »Die Versailler Verträge knebeln uns erheblich, viele Auflagen darin sind überzogen, nicht berechtigt nach meiner Auffassung, trotz dass Deutschland die kriegerische Auseinandersetzung 14/18 verloren hat. Aber dass das Judentum maßgeblich daran beteiligt sein soll, glaube ich kaum. Da hat dieser Adolf Hitler, der kleine Gefreite aus Österreich, sicher eine weit überzogene Meinung verbreitet«.
»Wenn ich durchaus die eine oder andere These von Hitler verstehen kann, weshalb er Juden derart diffamiert, ist mir auch nicht klar«, erwiderte Rudolf. Der Artikel wurde durch den >Völkischen Beobachter < in die Welt posaunt. Das Blatt hat eine Auflage von 20.000 Stück und erscheint als Tageszeitung, und weil die Gazette meist von mehreren Familien gelesen wird, werden allerhand Leute mit den Gedanken konfrontiert.
Lotte und Rudolf führten intensive Gespräche über das, was der Hitler da so von sich gab. Auch wenn beide durchaus unterschiedliche Ansichten über Zeitungsartikel und Gegenwartsprobleme vertreten. Es schuf aber nicht etwa Auseinandersetzungen gegenüber dem Thema. Sie haben nur differenzierte Meinungen zu solchen Ausführungen. Doch vermochten sie sich auch über andere Tagesthemen angeregt zu unterhalten.
Den ganzen Tag wollten sie aber keinesfalls mit Diskussionen verbringen. Man konnte weit Besseres an diesem strahlenden, heißen Tag unternehmen. Sie beschlossen, sich Abkühlung im naturbelassenen Freibad der Chemnitz zu verschaffen. Das Problem war nur, dass sie keine Badebekleidung dabei haben, denn an die Möglichkeit zum Schwimmen gehen hatten sie am Morgen beide nicht gedacht.
Zum Glück gibt es aber Geschäfte, welche Badekleidung verkaufen. Sie suchten sich also eines und kauften für sich das Passende. Damit werden sie sich im Bad dann gegenseitig überraschen. Die Badeanstalt liegt etwas außerhalb von Chamz, flussabwärts. Man kann dorthin mit der Straßenbahn fahren, aber ebenso zu Fuß auf den verschlungenen Pfaden an der Chemnitz entlangbummeln. Es ist nicht überaus weit.
Viele Kühlung suchende sind längst da. Das zwar großflächige, heute jedoch wegen des warmen Wetters überlaufene Schwimmbad ist gut besucht. Nur mit Mühe fanden die Verliebten ein ungestörtes Plätzchen.
Im prüden Sachsen war es nicht üblich, abseits von Familien freizügig bekleidet zu sein. Lotte hingegen kommt aus Norddeutschland, da dachte man längst etwas weniger verklemmt. Ohne lang zu überlegen, ging sie in eine der hölzernen, farbig angemalten Umkleiden und kam kurz darauf mit ihrem Neuerworbenen wieder heraus.
Es ist kein Bikini; die freistellenden Fetzen trug man damals noch nicht. Ihr Körperbau wäre aber durchaus dafür geeignet gewesen. Nein, es ist ein weiter Anzug, der vom Hals bis zu den Waden die Figur verhüllte. Es gibt diese Verkleidungen längs- oder quer gestreift in verschiedenen Farben. Lottes Maskierung sah aus wie eine Wespe. Von weiblichen Formen kann man rein gar nichts bemerken.
Rudolf musste nachziehen, wenn er nicht als Feigling gelten wollte. Auch er verzog sich in eines dieser kleinen Häuschen und kam mit einer der langbeinigen, gestreiften Badehosen wieder heraus, die wie ein Hemd selbst seinen Oberkörper bedeckte. Die Mode ist dem Zeitgeist angepasst, und so erlebten sich die beiden in einem ungewohnten Dress. Wenn sie nicht gewusst hätten, wer sich darin verbirgt, würden sie sich nicht erkannt haben. Heute lachhaft, so ein Outfit.
Zunächst kam ihnen ihre Situation recht unangenehm vor, doch die glühend strahlende Sonne zwang sie, sich Abkühlung zu verschaffen. Als sie dem Wasser wieder entstiegen, klebte das nasse Zeug an ihren Körpern und zeigte jetzt alle Konturen. Damit war der Bann gebrochen. Neidisch blickende Nachbarn erheiterten Lotte und Rudolf daraufhin nur noch. In dieser Weise freizügig bekleidet, hatten die beiden sich bisher nicht erblickt.
»Dass iech dos drlahm ka« war die schamhafte Feststellung des Hinnerwalders R.H. aus Rübenau. Aber schön war es, der stundenlange Nachmittag im Freibad. Vom Baden konnten sie nicht genug bekommen, obwohl andere Leute neugierig herüberschielten. Der herrliche Tag ging in den frühen Abend über, und R.H. musste sehen, dass er seinen Zug zurück nach Freiberg bekam. Lotte brachte ihn zum Bahnhof– ein langer, verschämter Kuss zum Abschied. Hat sie wirklich niemand beobachtet? Das kommende Wochenende war fest eingeplant.
Der VÖLKISCHE BEOBACHTER ließ R.H. keine Ruhe. Auf der Rückfahrt hatte er wieder viel Zeit, die Seiten zu studieren. Ständig beschäftigten ihn die Reden des Adolf Hitler, die in gekürzter Fassung in dieser NSDAP-Parteizeitung abgedruckt sind. Weil Rudolf sich intensiv mit Geschichte überhaupt, mit aktuellen Vorkommnissen besonders befasste, kamen ihm manche Passagen aus den Beiträgen reichlich überzogen vor. Oder könnte er Verschiedenes bei seinem Lerneifer doch nicht präzise verstanden haben? Er kam nicht umhin, dieses und jenes genauer zu hinterfragen, denn es gibt einige Diskrepanzen zwischen den Redetexten und dem eingepaukten schulischen Wissen!
R.H. ist jemand, der keinesfalls alles für bare Münze nimmt; es muss schon in sich schlüssig sein. Wenn Hitler als rhetorisch gewiefter Redner in der NSDAP vom Weltjudentum und dessen Vernichtung sprach, hatte er besonders in Bayern regen Zulauf. Aufgrund seiner Agitationen, die keine Berechtigungen haben, erreichte Hitler 1921 den Vorsitz in der Organisation, die später als NS-Partei benannt worden ist. Bei der Reichstagswahl von 1928 erzielte diese als antisemitisch aufgestellte Vereinigung nur 2,6 % der Stimmen. Intern führte das zu der Anordnung, die Diskriminierung von Juden öffentlich nicht mehr zu propagieren.
Der junge Herr Haub bleibt bei seinen Zweifeln. Einerseits unterstützt er die Forderungen der National-Sozialisten nach Aufhebung der Versailler Verträge, weil Deutschland dadurch wirtschaftlich schwer geschädigt wird. Andererseits lehnt er die Argumentationen über Semiten ab. Nachvollziehen kann er nicht, dass eine altruistische Religion schuld an den vielen, monetären Verwerfungen sein soll.
Die bisherigen Anfeindungen auf den Rednerveranstaltungen sind offiziell nicht mehr erkennbar. Daher meinte der potenzielle Wähler, dass das Parteiprogramm in der Judenfrage geändert und die NS somit wählbarer geworden sei. Auch R.H. ließ sich davon täuschen.
Was gab es sonst an den langen Abenden, wenn man einsam und alleine wohnt. Fernsehen war noch nicht erfunden, Rundfunkempfänger besaß ebenfalls nicht jeder. Dazu es war es eine Zumutung, das Gekrächze darin zu hören. Wer konnte sich schon ein Grammofon leisten, um Musik von schwarzen Schellackplatten mit den feinen Rillen und dem überdimensionalen Schalltrichter zu 'genießen'. Diese Musikgeräte erinnerten fatal an die Hörrohre alter, behinderter Menschen. Da blieb nur der späte Spaziergang oder eben...... der Sport- oder Wehrsportverein. Hier brachte Rudolf sich mit voller Hingabe ein. Neben den Leibesübungen werden ihm poe à poe auch verschiedene Verwaltungsaufgaben übertragen. Er sei ja kaufmännischer Angestellter im Bergbaumuseum, da könne er doch solche Verwaltungstätigkeiten übernehmen! Na klar, ihm gefiel so was, da vermochte er zu zeigen, was er gelernt hat.
Derartige Aufgaben stärkten sein Selbstbewusstsein. Anders als in Rübenau gelang R.H. hier etwas zu bewegen, auch wenn er nur ein kleines Licht ist. Nach einiger Eingewöhnung wird man die Anforderungen höherstufen. Rudolf behagen solche Rollen, wie man sie ihm übertragen hat.
So kam er zunächst langsam, dann rascher, nachdem seine Fähigkeiten näher erkannt worden waren, in eine mitverantwortliche Position. Er bemerkte erstaunt, dass er sich vom Pimpf, der im Grunde nur Sport betreiben wollte, plötzlich in eine untere Führungsposition der NS-Partei versetzt wiederfand.
Das hatte er in dieser Art nicht gewollt, denn R.H. war bisher bewusst ein durch und durch unpolitischer Zeitgenosse. Aber man gab ihm zu verstehen, dass es erwünscht und für die sportliche wie berufliche Laufbahn vorteilhaft sei, sich der politischen Mitarbeit nicht zu verweigern. So fängt man also Mäuse, bemerkt Rudolf reichlich spät und war mit solchen Methoden keinesfalls einverstanden. Doch er liebte den Sport in der Wehrsportgruppe, und seinen Arbeitsplatz wollte er auch nicht gefährden. Daher musste er sich diesen sanften Winken mit dem Zaunpfahl beugen.
Nach relativ gefestigter Wirtschaftslage in den Jahren 1924 – 1928 zogen dunkle Wolken am Himmel auf. Die Weltwirtschaftskrise 1929 warf ihre bedrohlichen Schatten voraus, welche mit dem New Yorker Börsenkrach im Oktober begann. Industrieproduktionen fuhren weltweit massiv zurück. Neben vereinzelten Gewinnern in der Krise, die es immer gibt, waren aber viele europäische Völker, nicht nur Deutsche, von zunehmender bis extremer Armut betroffen. Wie stets, wenn sich Probleme ergeben, hat der 'kleine Mann' im Besonderen zu leiden. In derartigen Situationen haben vorwiegend die radikal orientierten Parteien vom linken und rechten Spektrum gewaltigen Zulauf. Allen voran die NSDAP, unterstützt von ihrem Vorkämpfer SA und den semimilitärischen Volkssportgruppen, setzte sich an die Spitze einer eigene Wege gehenden Volksbewegung.
Von den Zugpferden und rassistischen Rednern Hitler, Goebbels, Göring und Rosenberg, um nur einige zu nennen, wurde die NSDAP gezielt und aggressiv nach vorne gepuscht. Namentlich Adolf Hitler mit raukehliger, unsympathischer Stimme zog die Menschen eigenartigerweise in seinen Bann. Erklärlich war das wohl nur mit der Angst der Bevölkerung vor abermaliger Armut und Hungersnöten. Viele Bürger aus den unteren Bevölkerungsgruppen hatten in den Nachkriegsjahren und Zeiten der Hyperinflation solche Notzeiten erlebt, leider aber nicht das Wissen, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Bisher abwartend oder ablehnend eingestellte Volksgenossen fanden sich jetzt auf den Massenveranstaltungen ein. Wie auch R.H., als er sich wieder mal zu einem Besuch in Chemnitz aufhielt. Zuerst war es nur Neugierde, eventuell der Wunsch nach Abwechslung, einmal etwas anderes zu erleben als das ständige Aufsuchen von Kinos und Kaffees. Eine öffentliche Kundgebung war mal was neues.
Lotte hatte sich länger schon im BDM, dem 'Bund deutscher Mädel', mit Hingabe betätigt. Nicht vom gradlinig denkenden Mitglied erkennbar, wurden die Teilnehmenden durch Rote-Kreuz-Kurse, Speisenzubereitung und hauswirtschaftliche Betätigungen auf die 'ehrbare' deutsche Hausfrau und Mutter vorbereitet.
Das Gegenstück dazu war die HJ, die Hitlerjugend, in der R.H. nicht Mitglied ist. Aus dem Jugendalter ist er herausgewachsen, als Sportbegeisterter schwitzt er vorzugsweise in den Volkssportgruppen. Dort kämpft er sich ab.
Der Bund deutscher Mädchen, die Hitlerjugend ebenso wie die Volkssport-Gruppierungen sind Unterorganisationen der NSDAP. Den nur auf ihren Sport fixierten Teilnehmern ist das aber zunächst nicht erkennbar. Daher ist es für Lotte und Rudolf Ehrensache, an dieser ersten Volksveranstaltung in Chamz teilzunehmen. Einwohner der am Nordrand des Erzgebirges liegenden Großstadt nennen sich selber Chamzer, während die Stadt auf Hochdeutsch Chemnitz heißt.
Stadtmittelpunkt ist der großflächige Marktplatz, bestens geeignet für Großveranstaltungen jeder Art. Und genau hier hielt die in der Reichstagswahl abgestrafte nationalsozialistische Partei im Spätsommer 1928 eine Großkundgebung ab. Wie in anderen Großstädten Deutschlands auch, sollte das Volk auf eine neue Politik eingestimmt werden.
Bei Goebbels als Hauptredner stand die derzeitig erkennbar sich verschlechternde Wirtschaftslage im Mittelpunkt. Unter wüsten Beschimpfungen von Goebbels sei dessen Auffassung nach Die Linke der Verursacher, die KPD mit ihren sozialistischen, von Karl Marx geprägten Ideologien. Karl Marx sei ein kommunistischer Jude, doch über das Judentum als solchem wurden in dieser Hetzrede bewusst keinerlei Andeutungen gemacht. Nach den Erkenntnissen aus der Wahlschlappe sollen die Anfeindungen der Grund für die geringe Akzeptanz der Partei sein. Das dürfe sich nicht wiederholen. Der Gedanke an eine weitere Abfuhr hat keinen Platz in der Gedankenwelt der Nazis.
Göbbels sprach von der wirtschaftlichen Lage und der damit verbundenen Armut in Deutschland, ging aber nicht darauf ein, dass es die Folgen des verlorenen Konfliktes von 14/18 sind.
Der Redner stellte es geschickt so dar, als seien ausschließlich die Siegermächte Schuld an der deutschen Misere. Die derzeitige Weltwirtschaftskrise sei einzig und allein auf die Spekulationsfreudigkeit der wirtschaftlichen Oberschicht zurückzuführen. Unterschwellig meinte er die Juden damit.
Bewusst unterdrückte Goebbels, dass das Kaiserreich die Hauptschuld am Ausbruch der Feindseligkeiten trug. Der Mord am Erzherzog in Sarajewo wäre nur ein vorgeschobener Grund für den darauf ausbrechenden Weltkrieg. Kein Wort auch erwähnte er darüber, dass von paramilitärischen Organisationen wie der SA eine erneute Aufrüstung betrieben wird. Viele der Kundgebungsteilnehmer stimmten den verklausulierten Redeinhalten lauthals zu. Aber es sind genauso massenhaft politische Gegner auf dem Platz. Handfeste Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern und Widersachern der NSDAP waren die Folge der Rede.
Die Nationalsozialisten sind es gewöhnt, angefeindet zu sein. Sie legen es sogar bewusst darauf an. Hier wie anderswo, wo die NSDAP Hetzreden hält, planen sie es ein. Die Parolen und Ansichten der Braunhemden werden ohne Rücksicht auf potenzielle Verletzte durchgepeitscht. Mit ihren Ordnern, verkappten Mitgliedern der SA, knüppelt man andersdenkende rücksichtslos nieder. Es war bereits so weit gekommen, dass die Staatsmacht der Weimarer Republik kaum noch Handhaben fand, den aggressiven Stil der Kundgebungen zu unterbinden.
Rudolf und Lotte als aufmerksame Zuhörer genossen am Ende der Massenversammlung in einem Gartenlokal noch eine Eisbombe und diskutierten über das, was sie inmitten der vielen Zuhörer erlebt hatten. Der Redestil des Joseph Göbbels gefiel Lotte überhaupt nicht. es klang fast so, meinte sie, wie wenn der Hitler im Radio spricht, mit krächzender, sich manchmal überschlagender Stimme. Zum Inhalt der Rede konnten Lotte und ihr Freund gewisse Gemeinsamkeiten finden.
Es gab reichlich Stoff zum Diskutieren unter R.H. und seiner Freundin. Was lässt die Zukunft für sie erwarten? Schwer zu analysieren, doch ein ereignisreicher Tag ging für beide zu Ende. Der Zug brachte Rudolf zurück nach Freiberg. Die ganze Fahrt über begleitete ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl.
*
Anton, der Rübenauer, befindet sich ebenfalls in Hochstimmung. Er durchlebt die Gefühle eines Homberich, eines Verliebten. Nie bisher war ihm ein Mädchen so begehrenswert vorgekommen. Das also ist die Liebe, für die man alles tut?
Der auf Amors Flügeln schwebende hofft, dass es mit der tschechischen Jana mehr als nur ein Techtelmechtel sein würde. Beide stellten viele menschliche Gemeinsamkeiten aneinander fest, die Chemie scheint zu stimmen und das, obwohl sie erst zweimal ein Treffen hatten. Anton war aber noch aus einem anderen Grund in freudiger Stimmung, denn der Arbeitgeber, die Nagel- und Waffenschmiede, erhielt in der letzten Zeit verstärkt Aufträge. Besonders war ein neuartig konzipiertes Gewehr nachgefragt. Es entwickelte sich zu einem wahren Verkaufsschlager. Das freute natürlich die Geschäftsleitung, doch womit war dieser plötzliche Boom zu erklären? Weitere Mitarbeiter wurden daher eingestellt, und die Stammbelegschaft profitierte von höheren Löhnen. Anton sah eine rosige Zukunft für sich, seine Familie Grynszpan. Sogar Jana schloss er schon darin ein.
Vater und Mutter hatten sich aus Altersgründen aus dem Geschäft mit den erzgebirglerischen Holzarbeiten zurückgezogen. Die Tochter Emma, die mit den schwarzen, listigen Augen und den gefühlvollen Händen, wie auch Bruder Artur, der Gehbehinderte, bearbeiteten jetzt diese Erwerbsquelle. Joseph, der Jüngste, ist 17 Jahre und hat den beschwerlichen Transport der Rohware von der Manufaktur aus Olbernhau übernommen. Die fertig zusammengeleimten, geschliffenen und bemalten Kunstwerke brachte er, ansprechend verpackt, auf gleichem Weg zurück.
Wenn es einmal finanziell eng wurde, fühlte sich Anton als der Meistverdienende, der weiterhin im Elternhaus wohnt, verpflichtet, einzuspringen. Das gebot ihm seine christliche Erziehung, das Gefühl für Mitmenschlichkeit. Auch Jana wird das so an ihm empfunden haben. Das Problem allerdings ist die Unmöglichkeit, jederzeit Kontakt zueinander aufnehmen zu können. Es wird also stets nur zu spontanen Besuchen kommen, immer dann, wenn Anton freie Zeit hat. Und die ist knapp bemessen wegen der massenhaften Aufträge in der Firma.
Nach den beiden Treffen, die sie bisher genossen– zuletzt auf der Kirmes–, drängte es den Deutschen, Jana wiederzusehen. Er hatte nicht mehr die Befürchtung, dass ein anderer sie ihm abspenstig machen könne.
Drei lange Wochen waren es jetzt her, dass sie sich trafen. Anton kann es nicht erwarten, erneut zum Wohnort seines Schätzchens zu wandern. Am nächsten Sonntag wird er wieder frühmorgens losziehen, um die Freundin beim Kirchgang zu treffen.
Am Grenzübergang das bekannte Spiel:
»Morschn, Andon, do bischt jo wieda, bist a Homberich?, schie wieda nach Kalek?«
»Jo, `s pressiert«.
Die Wegstrecke ist überschaubar, das Wetter hervorragend, die Natur erwacht. Rechtzeitig zur Andacht erreichte er die Kirche. Und da kam sie, zusammen mit dem Vater, freudestrahlend auf ihn zu. Neidische Blicke der Dörfler trafen Anton. Miteinander betrat man in das Gotteshaus und wurde freundlich vom Pastr begrüßt. In einer der vorderen Bankreihen nahmen sie gemeinsam Platz. Auch wenn Anton nicht katholisch ist – Jana und ihr Vater störten sich nicht daran. Nach dem Gottesdienst, in dem der Pater beiläufig die bedrohliche Weltwirtschaftslage ansprach, verbringt man wie vor Wochen schon im Wirtshaus die Mittagszeit. Der Wirt erkannte Anton auch gleich wieder. Er freute sich über den deutschen Besucher, denn der ließ immer ein nettes Sümmchen zurück.
Die drei setzten sich wie selbstverständlich, wo andere bereits Platz genommen hatten, Jana nur unter Männern. Es war für Frauen nicht üblich, den Kirchgang im Gasthaus zu beenden. Die Weibsen haben gefälligst im Haus für das Mittagessen der Mannsbilder zu sorgen! Aber in diesem Fall war es verzeihlich. Anton ist Gast in Kalek, doch ihn jetzt bereits im eigenen Heim einladen?? Eventuell beim nächsten Besuch, mal sehen.
Die Tischrunde kam in ein angeregtes Gespräch, doch zunächst wurden Anton und Jana durch den Kakao gezogen. Das ist oft so, wenn zwei sich gefunden haben. Dann kamen bedrohliche Themen der Wirtschaftslage zur Sprache. Auf dreckige Witze, die Männer sonst so am Biertisch erzählen, verzichtete man heute weitgehend. Janas wegen.
Die Politik hat für Biertischgespräche immer herzuhalten, wenn sich daraus auch selten einvernehmliche Ansichten ergeben. Die großen Probleme werden anderswo zu lösen versucht. Doch ein Thema wurde hier heiß diskutiert, und zwar das Erstarken der rechtsgerichteten Parteien in Deutschland. Das flößt den Menschen in Böhmen zunehmend Angst ein, sobald sie von den Hasstiraden der Goebbels, Himmlers, Streichers und Hitlers hören. >Heim - ins - Reich - Parolen< der deutschsprachigen Grenzgebiete im Süden und Osten des Landes der Dichter und Denker werden immer lauter und offener ausgesprochen. Die Weimarer Republik fand kein Gegenmittel, weil sie in sich zerstritten ist.
Dieser deutsche Anton Grynszpan aus Rübenau wird doch nicht etwa ein verkappter Nazi sein? Ein Spion, der sich an Mädchen heranmacht, um über solche Kontaktpersonen an irgendwelche Geheimnisse oder nur die Ansichten der Bevölkerung heranzukommen? Man wird ihn beobachten müssen, auch wenn man so etwas dem liebenswürdigen Anton nicht zutrauen mag. Wer weiß es? Denn besonders, wenn jemand sich einschmeichelt, kann er gefährlich sein. Und das geht gut über eine Liebschaft. Ein Trojaner also.
Die Biertischpolitiker waren längst nach Hause gestiefelt, zu Muttern an den Mittagstisch. Nur Anton, Jana und ihr Vater ließen sich hier im Gasthaus verköstigen. Der Deutsche hat das nötige Kleingeld, und er sagte auch, weshalb.
Man kam auf Antons Arbeit zu sprechen, auf die Massenherstellung von Gewehren. Janas Papa sprach dabei einen schwerwiegenden Gedanken aus: Könnten diese vielen Schusswaffen etwa im Auftrag der paramilitärischen Organisationen, der SA und anderer, fabriziert werden? Fragen, die Anton sich bisher überhaupt nicht gestellt hat.
Das gibt ihm mehr als zu denken. Er grübelt, beginnt, manches differenzierter zu betrachten. Dass er aber als Spion beobachtet würde, kam ihm nicht in den Sinn. Doch heute war er mit seiner Freundin zusammen, Janas Vater hatte die Beiden nach dem Mittagessen sich selbst überlassen. Jana war ja inzwischen 22 Jahre, da konnte sie, auch in Böhmen, selbstständig über sich bestimmen.
Die jungen Leute genießen es, in der waldreichen Umgebung von Kalek den Nachmittag zu verbringen. Heute regnet es nicht wie beim letzten Besuch. Verwunschene Waldwege gehen sie entlang, auf einer Waldlichtung entdecken sie einen Baumstamm und lassen sich darauf von durch die Baumwipfel schimmernden Sonnenstrahlen verwöhnen. Vereinzelt schon rascheln Blätter von den Bäumen, wochenlange Trockenheit, aber auch der nicht mehr allzu ferne Herbst macht sich bemerkbar. Schwalben erjagen sich ihr Mahl hoch im Azur.
Jana ahnt nicht, dass man Anton insgeheim verdächtigt, hier etwas ausspionieren zu wollen. Auch wenn man sie informiert hätte–sie würde es schwerlich glauben. Anton ist ein zuvorkommender, zurückhaltender Mensch, immer freundlich, nie sich in den Vordergrund drängend. So jemand wird kein Spion sein! Oder etwa doch? Jana fühlt sich wohl. ja glücklich im Beisein Arnolds. Sie kuschelt sich in seine Arme, zärtlich streichelt er ihre dunkelblonden Haare aus der Stirn, küsst sie liebevoll auf ihre vorwitzige kleine Nase. Leider geht der wunderschöne Tag wieder dem Ende zu. Jana schlug ein weiteres Treffen vor, was für Anton ein Beweis ihrer Zuneigung ist. Hier im Wald busselte er sie, aber vor ihrem Elternhaus, wo er sie dann artig ablieferte, traute er es sich noch nicht.
»Denn guet Omd un Glig aaf« sind ihre Abschiedsworte, und »i hob di liab« sagte Anton sehr verschämt. Sie winkten sich zu, und somit ist er um die nächste Ecke verschwunden. Von den Dorfjugendlichen hat er niemanden mehr gesehen, die haben sich offenbar damit abgefunden, dass Jana für sie verloren ist. Es gibt ja schließlich weitere Mädchen im Ort, doch so eines wie Jana? Warum musste der Deutsche bloß hierher kommen!
Von den Erlebnissen des Tages beflügelt, ist für ihn die Strecke bis zur Grenze schnell geschafft. Längst bekannte Begrüßungsworte: »Do bischt jo wieda« und die Antwort »jo, itze giehts hamm« wurden gewechselt. Seine Eltern freuten sich, dass Anton ohne Blessuren und mit lachenden Augen wieder in Rübenau ist. Natürlich sind sie wissensdurstig, etwas über die Errungenschaft des ältesten Kindes zu erfahren, aber sie warten ab, bis er selber darauf zu sprechen kommt. Derzeit ist er noch nicht bereit dazu.
Die nächste Arbeitswoche beginnt wie üblich früh um sechs. Obwohl Anton darüber erfreut ist, eine Menge Arbeit zu haben, Gedanken macht er sich durchaus, was mit den vielen Gewehren passiert. Zunächst hatte er gemeint, dass es Ausrüstungen für Jäger wären, und dann, für Privatpersonen. Doch diese Vielzahl und auch die Kaliber sprachen dagegen. Also würde es sich faktisch um militärische Aufträge handeln, wie man es in Kalek vermutet. Das macht ihm Sorgen angesichts borstiger werdender Sitten im politischen Alltag.
Viele Parteien kämpfen um Anerkennung und weitere Mitglieder, und besonders aggressiv die 1925 wieder gegründete NSDAP. Aus ihrem Splitterparteien-Image sollte sie herauskommen und durch giftige Werbung Zuläufe bekommen. Dazu dienen die allerorten abgehaltenen öffentlichen Veranstaltungen. Ihre Gegner werden gnadenlos niedergeknüppelt. Adolf Hitler übernahm erneut den Vorsitz dieser rechtsradikalen Partei, nachdem er vorzeitig aus der Haft entlassen worden ist.
In Rübenau, Marienberg und den umliegenden Orten ist weiterhin alles bedächtig. Es gibt hier keine emotionell aufgeheizten Parteiveranstaltungen, in den nahe gelegenen Städten Dresden, Leipzig und Chemnitz aber durchaus. Weil es in Rübenau so beschaulich ist, hatte Anton von den aufflammenden Hetzkampagnen bisher nichts mitbekommen. Er ist völlig ahnungslos, geht seiner Arbeit nach und freut sich des Lebens. Er wartet ungeduldig auf das verabredete Wiedersehen mit Jana.
Zwei Wochen Vorfreude– wie die Zeit doch schleichend vergeht, wenn man etwas Glückseligkeit herbeisehnt. Genauso ergeht es Kindern, wenn sie auf ihren bevorstehenden Geburtstag oder auf Weihnachten warten. Haben ihre liebevoll geschriebenen und verzierten Briefe an den Weihnachtsmann ihn auch erreicht?
Das Eigenartige allerdings ist, dass mit zunehmendem Alter die Zeit immer geschwinder dahineilt – nicht wirklich, aber in der Wahrnehmung. Wie kann das sein? Da haben sich schlaue Zeitgenossen bereits lange den Kopf drüber zerbrochen. Bücher sind geschrieben worden über das Phänomen, doch eine wissenschaftliche Erklärung hat man dafür bisher nicht gefunden.
Na ja, die vierzehn Tage bis zum Wiedersehen vergehen auch, und Anton machte sich am Sonntagmorgen erneut auf Tour. Ist ja nicht allzu weit, das schafft er mit langen Wanderschritten ruck, zuck. Es war schon kühler geworden, der Wald ist durchsichtiger. Die obligatorische Flachserei an der Grenze, dann war er bald in Kalek an der Kirche. Er war verfrüht angekommen, weil er weiter ausgreifend gewandert war. Daher setzte er sich–war ja günstiges Wetter, wenn auch ein wenig frisch am Morgen–, auf eine Bank vor dem Gotteshaus und wartete.
Viele Kirchgänger kamen und traten in das Kirchengebäude ein. Das etwas schüchtern klingende Glöckchen läutete, einige Leute grüßten Anton – aber Jana und ihr Vater tauchen nicht auf. Sie sind doch verabredet, deshalb versteht er nicht, weshalb sie nicht erscheint. Kann es sein, dass die Liebelei so abrupt endet? Es fröstelt ihn, er fühlt sich wie bestellt und nicht abgeholt. Ich werde mich in Jana doch nicht derart getäuscht haben, sinniert Anton. Wird sie und der Alte, vielleicht auch andere, am Ende meinen, dass Anton wahrhaftig spioniert? Ärgerlich ist er nicht, nur unglücklich, abgrundtief betrübt.
Aus der offen stehenden Kirchentür hört er die kath. Liturgie, aber einsam hineingehen mochte Anton nicht. Er ist ja kein Katholik. Soll er zu Janas Elternhaus gehen? Er weiß ja, wo es steht. Wenn man ihn allerdings tatsächlich versetzt hat, würde er dort keinen Einlass finden. Er wartete weiter und hoffte, dass er eine Erklärung, in welcher Form auch immer, dafür erhält, weshalb seine Jana nicht gekommen ist.
Die Begründung kam dann um die Kirchenecke. Es war Janas Vater. Mutterseelenallein. Anton bekam einen Schreck; war da was passiert?
Papa Plicka begrüßte Anton recht freundlich, ja vertraut wie immer, und sagte ihm den Grund, warum die Tochter nicht mitgekommen ist: Sie hat sich bei einem Treppensturz einen Mittelfußknochen gebrochen und dazu ein Nackentrauma erlitten. Da kann sie natürlich nicht außer Haus, und deshalb schlug Janas Vater dem jungen Mann vor, sein Mädel Daheim zu besuchen.
Da wird Anton nicht Nein sagen. Er freut sich zutiefst auf das Wiedersehen, wenn die Umstände auch nicht erfreulich sind. Es hätte alles noch erheblich schlimmer kommen können, sagt Vater Plicka. Dass sie sich bei diesem Sturz nicht das Genick gebrochen hat, kann nur mit ihrem festen Glauben an Gott zusammenhängen. Ist die Meinung ihres Vaters.
Jana wartet freudestrahlend auf Anton, doch mit Tränen im Gesicht. Selbst Antons kann das Feuchte in seinen Augen nicht verbergen. Das passiert ihm, dem kräftigen Mann, höchst selten.
Jana trägt einen Gipsverband am Fuß, und um den Hals hat sie eine Nackenkrause gelegt. Ihr Votr stand dabei und freute sich mit den Beiden über ihr Wiedersehen. Da gab es eine Menge zu erzählen, wie das mit dem Treppensturz passieren konnte, welche Schwierigkeiten sie hatten, ins Krankenhaus nach Chomutov zu kommen. Und dann das Umgehen mit der Behinderung hier im Hause. Da geht alles nicht so wie gewohnt von der Hand, doch das wird wieder heilen. Und jetzt steht Janas Vater ihr bei, wie es umgekehrt auch gewesen wäre.
Anton erzählte von seiner Arbeit, von den Massen an Gewehren, die hergestellt werden, von Ängsten über die Verwendung. Und von der Familie soll er viele Grüße bestellen.
Man wunderte sich über Antons Nachnamen: Grynszpan. Das ist doch eine tschechische Benennung. Und er klingt jüdisch. Man könnte Namens - und Familienforschung darüber betreiben. Das aber ist bekannt: Antons Vorfahren sind im 16. Jahrhundert von Ferdinand II. aus Böhmen vertrieben worden, weil sie keine Katholiken waren und nicht konvertieren wollten. Das ist vielen so ergangen, damals. Doch wie kamen sie zu dem für Deutsche so fremd klingendem Namen?
Jetzt wurde etwas ganz Normales in Angriff genommen: Es ist ans Mittagessen zu denken. Vater, Jana und Anton machen sich an die Arbeit, jeder nach seinen Fähigkeiten.
Der eine schält Kartoffeln, der andere richtet den Braten zu, und Jana putzt im Sitzen das Gemüse. Gemeinsam werden sie ein Festessen zaubern. Bald ziehen herrliche Gerüche durchs Haus, und bei einem Glas Wein genießen sie dann das Mahl. Ein normaler Sonntag wurde zum Festtag. Drei Menschen laben sich und sind glücklich.
Bei schwerwiegenden Gesprächen über die ungewisse Zukunft läuft der Tag dahin. Anton kümmert sich fürsorglich um die verletzte Jana. Mit einem Spaziergang kann es heute leider nichts werden, doch gab es als Ausgleich dafür ein gutes Abendessen. Anton machte sich zu vorgerückter Stunde niedergedrückt und beglückt zugleich auf den Heimweg nach Rübenau.
Ein weiteres Treffen vereinbarten sie für das kommende Wochenende, und wenn es passte, wären auch Antons Eltern mit eingeladen. Das bekam er noch mit auf den Weg, und so etwas nennt man grenzüberschreitende Liebe. Als Anton mit der Einladung an Vater und Mutter zu Hause ankommt, sind Bruno und Judith erfreut und aufgeregt. Das erste Kind hat sich offenbar >grenzenlos< verliebt. Sie freuen sich mit ihm, ebenso die Geschwister, doch die können kleine Neckereien nicht sein lassen.
»Saa eemol, wie fühlst di wu a Homberich?« oder »Jo, so is ds Lahm in de Uhiesschr« (Ja, so ist das Leben in der Fremde).
Die nächste Arbeitswoche verlief schleppend, aber das kennt man. Stets, sobald man sich auf etwas freut, wird die Zeit zum Weltall. Sie dehnt sich ins Unendliche. Doch die Arbeit fordert Arnold. Und oft macht er sich Gedanken über die Unmengen von Gewehren, die das Werk verlassen.
*
Ähnlich ergeht es Rudolf in Freiberg. Kaum konnte er es erwarten, wieder Chemnitz und seine Lotte besuchen zu dürfen, doch wenn hier drei- oder vier Wochen zwischen den Treffen liegen, kann man sich immerhin schreiben. Es flatterte so mancher Brief von Chamz in Richtung Freiberg und umgekehrt. Nicht immer sind sie einer Meinung in ihren Ansichten. Nur, von Waffenherstellung hatte R.H. keine Ahnung.
Das mag auch mit den unterschiedlichen Geburtsorten zusammenhängen. Lotte ist aus einer Hafenstadt, die im Mittelalter der Hanse angehörte, nach Chemnitz gekommen. Die Wirtschaftslage im Norden ist stets etwas weniger angespannt, selbst in den vergangenen, wirtschaftlich schwierigen Jahren. R.H. stammt aus dem verarmten Erzgebirge. Da hat man durchaus andere politische Vorstellungen. Radikalere oft, wenn man mit geringerem Wohlstand aufgewachsen ist. Ein höherer Lebensstandard vermindert Aggressivitäten, überall auf der Welt. Rudolf war stets ein liebenswürdiger und besonnener junger Mann, der Umgang in der Wehrsportgruppe hatte ihn aber doch unmerklich verändert. Besonders, was seine Wahrnehmungen in Bezug auf die Parteienlandschaften betrifft.
Nach den sportlichen Übungen trifft man sich regelmäßig zum Gedankenaustausch, wie die politischen Vorträge bei einem Bierchen am runden Tisch genannt werden. Die immer mehr parteipolitisch gefärbten Äußerungen, welche zur Sprache kommen, fielen bei R.H. zunehmend auf fruchtbaren Boden.
Redegewandte Leute sind es, die sich darauf verstehen, das Gedankengut der NSDAP und der SA den mit offenen Ohren dasitzenden Sportlern einzuimpfen. Mancher übernahm kurzerhand die vorgetragenen Thesen. Es wurde freilich alles so überzeugend dargestellt, dass an den Osterhasen glaubende am Wahrheitsgehalt nicht zweifeln mochten.
Rudolf hingegen machte sich Gedanken, vielleicht deshalb extra intensiv, weil er sich eingehend mit Geschichte auseinandergesetzt hatte. In all den Jahren auf der Realschule in Marienberg auch mit spezieller Wirtschaftsgeschichte. Sein Geschichtsoberlehrer Böhm hatte ihm umfangreiches Wissen beigebracht, das ihn jetzt zum Nachdenken anregte. Aber war das womöglich etwas ’braun’ eingefärbt? Auf jeden Fall hatte es Spuren in R.H. hinterlassen.
Das Kalenderjahr 1928 neigte sich dem Ende zu. Es naht die Advents- und Weihnachtszeit. Im Erzgebirge begeht die Bevölkerung sie besonders eindrucksvoll. Jede Familie schmückt dann Fenster und Wohnstuben mit Tannengrün und Kerzenlicht. Traditionelle, handgeschnitzte, kunstvoll bemalte Schwibbogen, Nussknacker, Engelpyramiden, Raachermanndl und Engelfiguren werden wie jedes Jahr wieder aus dem Sommerschlaf erweckt und versetzen die Menschen in eine feierliche Vorweihnachtsstimmung. das leibliche Wohl wird auch nicht außer acht gelassen. Erzgebirgischer Mandel- und Rosinenstollen wird gebacken. Erregende Düfte ziehen durch die Räume. Die Rezepte dazu werden von Mutter zu Tochter weitergegeben und sind oft ein gut gehütetes Familiengeheimnis.
R.H. möchte seine Lotte gerne mit diesem alten, gewachsenen Brauchtum bekannt machen. Wenn er wieder nach Chams fährt, wird er ihr vorschlagen, in den Tagen vor und zwischen den Feiertagen Rübenau zu besuchen. Im Elternhaus, in dem noch zwei der Schwestern wohnen, würden sie mit Sicherheit unterkommen können. Nur die Anreise wäre etwas beschwerlich, denn von Chemnitz wird man mit der Hauptbahn nach Flöha reisen, da umsteigen und mit einer Nebenbahn bis Marienberg zuckeln. Ab dort entweder zu Fuß oder mit einem Pferdeschlitten auf gefrorenen Wegen, die gewöhnlich in tief verschneiter Landschaft verlaufen, Rübenau erreichen. Sie würden ein herrliches Wintererlebnis genießen. Und er käme nach langer Zeit auch mal wieder nach daheim.
Lotte fällt ihm um den Hals, als er sie mit diesem Vorschlag überrascht.
*
Anton hat eine anstrengende Arbeitswoche hinter sich gebracht. Trotz Neueinstellungen im Betrieb hatten die Mitarbeiter zusätzliche Überstunden zu leisten. Es wunderten ihn weiterhin die hohen Auftragseingänge. Wozu will man die Mengen an Gewehren und Pistolen bloß alle nutzen? Dazu kam neuerdings eine Unmasse an Sohlennägeln, die unter Berg- und Soldatenstiefel geschlagen werden, um sie rutschfester zu machen, die Ledersohlen außerdem auch langlebiger zu erhalten. Ist es beabsichtigt, dass jeder Schritt unüberhörbar laut ist? Einerseits freut er sich über diese Arbeitsauslastung, andererseits bereitete es ihm Sorge um die friedliche Zukunft seiner Heimat. Was steckte dahinter?
Er schaffte guten Lohn nach Hause. Manchmal erfuhr man von sich verschlechternden Auftragslagen in anderen Wirtschaftszweigen. Wird die erfreuliche Konjunktur der vergangenen vier Jahre bald ihr Ende finden? In der zu einem florierenden Betrieb entwickelten Schmiede merkte man davon nichts.
Das Wochenende stand vor der Tür, und die Familie Grynszpan, zumindest ein Teil von ihr, war zum Besuch in Kalek bereit. Anton ist huppetil, kräftig aufgeregt, wenn er daran denkt, mit den Eltern den Weg nach Kalek langzulaufen, um dann an der Tür von Jana zu klingeln! War er ein Mann auf Freiersfüßen? So weit war es noch keineswegs, aber die Liebe hatte ihn ordentlich gepackt.
Er schaute zurück in seine Kinderzeit, sah sich, wie er als Konfirmand, mit Hut, vor Vater, Mutter und Geschwistern her, zur Kirche zottelte. Das ist zwar bereits eine ganze Weile her, doch das Gefühl überkam ihn erneut, verstärkte sich zudem, als dann am Sonntagmorgen wahrhaftig der Ausflug anging. An der Zollstation haben wieder bekannte Leute Dienst, und das war ein gefundenes Fressen für die, als Anton mit seinen Eltern über die Grenze wollte:
»Do schau her, do kimmt dr Homberich mit sei Leit. Morschn, gehdsn?«
»Jo, gudde gehdsn«
»giehts na Kalek, in dr Kerch?«
»Jo, gieh mr«
»In dr katholisch Kerch? Oha!«
»Woans oha?«
Das hätten sie hinter sich, 3 Kilometer im besten Sonntagsstaat würden sicher zu schaffen sein. Trefflich gelaunt und fröhlich, die Huppetitl, die Aufregung, hat Anton abgelegt. Auf diese Weise kamen die Rübenauer rechtzeitig zum Kirchgang in Kalek an. Drei Leute von driiben - ist die Kirche da abgebrannt?, frotzelte man.
Die Kaleker sind alle recht freundlich, und der Pastr begrüßte sie mit Handschlag an der Kirchentür. Jana war erwartungsgemäß nicht da, doch ihr Vtr schon. Auch er hieß die Ankömmlinge herzlich willkommen und setzte sich mit ihnen auf eine der hinteren Kirchenbänke. Antons Eltern hatten ebenfalls keinerlei Hemmungen, eine Kirche der anderen Konfession zu besuchen. Unüberwindliche Unterschiede in der Liturgie zwischen evangelisch und katholisch bestehen doch nicht, sind den Grynszpans jedenfalls nicht bekannt. Wenn die Ausstattungen der kath. Gotteshäuser pompöser sind, mag das seine Berechtigung haben. Martin Luther hat mit der Kirchenreform jedoch erreicht, dass der protestantische Kirchgänger dem Gottesdienst verständnisvoller zu folgen vermag. Insbesondere dadurch, dass die Predigt in deutscher Sprache, nicht mehr in Latein, gehalten wird.
Es war verabredet, nach der Andacht heute nicht das Wirtshaus aufzusuchen, denn Jana wartet zu Hause. Sie ist naturgemäß ebenso aufgeregt wie der Besuch. Die Eltern ihres Anton kennenzulernen, zerrt an den Nerven. Aber beim Vorbereiten des Mittagessens lenkte sie sich ab, und als es bald darauf an der Türe klingelt, ist sie ganz Hausfrau.
Als üblichen Begrüßungsfloskeln wohlmeinend ausgetauscht waren, bat der Votr in die Wohnstube. Jana trägt noch ihren Gehgips, die Halskrause braucht sie nicht mehr anzulegen. Anton erhält einen schüchternen Begrüßungskuss.
Nach einem obligatorischen Willkommenstrunk legte sich die anfängliche Befangenheit, wie es bei derartigen Gegebenheiten oft ist. Man kam zu entspannten Gesprächen, bis Jana erschreckt aufsprang, weil sie sich an ihre Küchenarbeit erinnerte. Judith, Antons Mutter, folgt ihr in die Küche, um Jana nicht alleine vor der Speisenzubereitung stehen zu lassen.
So bilden sich zwei Gruppen, männliche und weibliche. Die beiden Frauen haben ihr Gesprächsthema in der Kochstube, über Pott un Pann und Wisch und Wasch, die drei Männer in der guten Stube bei Beems Bier un een hochprozentgs Wassr im Stampf. (Schnapsglas) Die Älteren haben gleich ihr Thema, weil sie Bergleute waren. Da gab es allerhand zu erzählen.
Jeder hatte unter Tage im Laufe der Jahre gefährliche Situationen erlebt, aber ebenso Bergmannsfeste in blumiger Natur. Solche Feste wurden hüben wie drüben nach überlieferter Tradition gefeiert. Dann hatte der Bergmann Gelegenheit, dafür zu danken, dass er immer wieder heil aus dem Berg ausgefahren ist. Die Dankgottesdienste auf dem Dorfplatz sind nicht nur für die Hauer ein feierliches Ereignis im Jahresablauf, sondern die Gesamtheit der Dorfgemeinschaft freute und beteiligte sich daran. Von schweren Verletzungen sind beide verschont geblieben, nur Bruno hatte wegen seiner Staublunge frühzeitig nicht mehr unter Tage schaffen können.
Kohle- und Silbererzabbau wurde in vielen Erzgebirgs-Revieren weitgehend aufgegeben, weil im gesamten Gebirge nicht mehr lohnend. Lediglich im Revier Schneeberg wurde bis 1956 Wolfram gefördert, in Marienberg und weiteren Städten wie Schwarzenberg, Schneeberg und Pöhla in geringem Umfang der Abbau von Uranerz, jedoch erst in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg.
Die beiden Ex-Bergleute erzählten auch Geschichten vom Rübezahl, dem Berggeist, der außer im Riesengebirge zuweilen auch im Erzgebirge aufgetaucht ist. Er ist fest im Gedankengut der Grubenarbeiter des Gebirges sowohl aufseiten der Deutschen wie der Tschechen verankert.
Vater Plicka fabuliert es so:
»Rübezahl entführte die Königstochter Emma, die er heiraten will, in sein unterirdisches Reich. Mit Rüben, die Emma in jede gewünschte Gestalt verwandeln kann, versucht er ihre Sehnsucht nach ihrem Zuhause zu stillen. Doch die Runkelrüben verwelken, weil keine Liebe damit verbunden ist. Schließlich verspricht ihm Emma ihre Hand, wenn er ihr die Zahl der Rüben auf dem Feld nennt. Gelingt ihm dies nicht, muss er sie freigeben. Sofort macht der Berggeist sich an die Arbeit. Um auch zweifelsfrei zu sein, dass die Anzahl stimmt, zählt er gleich ein weiteres Mal, kommt aber zu einem anderen Ergebnis. Er flucht und schreitet ein drittes Mal über die Felder.
Während dessen flieht die Gefangene auf einer zum Pferd verwandelten Zauberrübe zu ihrem Prinzen Ratibor und verspottet den Geist mit der Anrede als Rübezahl. Daher wird der sehr zornig, wenn er mit diesem Spottnamen bedacht wird und rächt sich mit gelegentlichen Verwüstungen auf den Feldern. Manchmal ist er aber auch eine hilfreiche Spukgestalt«.
Über solchen und ähnlichen Erzählungen vergeht die Zeit. Die Weibsen haben das Mittagessen fertiggestellt. Sie hatten ebenfalls allerhand zu plaudern, wie es sich ergibt, wenn man (Frau) sich kennenlernt und sympathisch ist. So war es hier. Judith und die 22 - jährige Jana verstanden sich auf Anhieb. Antons Mutter ist mit der Wahl ihres Sohnes mehr als einverstanden.
Die Beiden haben eine original böhmische Mittagstafel gezaubert: Lendenbraten mit Knödeln. Als Nachtisch gibt es Powidknödel, die mit Pflaumenmus gefüllt sind. Wer möchte, bekommt zur Verdauung noch einen oder zwei Becherovka, das ist ein Karlsbader Kräuterlikör mit bittersüßem Geschmack. Gerne auch einen Turek, Kaffee, zubereitet auf türkische Art, wie er hier zu jeder Tageszeit getrunken wird.
Vater und Jana Plicka durchleben die Zeit nach dem folgenschweren Feldzug finanziell nicht besonders angenehm. Trotzdem hatten Votr und Tochter alles unternommen, um ihre Gäste aus Deutschland zu verwöhnen. Tschechen sind für ihre Gastfreundschaft bekannt, und hier lag ja nun noch ein zutiefst bewegenderer Grund vor – die Besiegelung der Freundschaft zwischen Jana und Anton, im weitläufigen Sinn auch beider Familien.
Bei anregenden Gesprächen vergeht die Zeit stets wie im Fluge, es wird allmählich Abend. Da es im Jahreskalender bereits weit fortgeschritten ist, der Herbst sich mit Stürmen, Kälte und Regengüssen eingestellt hatte, dunkelte es schon früh. Die Runde hat bei informativen und bedrohlichen Gesprächsthemen völlig die Uhrzeit vergessen. Grynszpans hätten genau genommen lange wieder aufbrechen wollen. Es war ihnen peinlich. »itze giehts hamm«.
»Saad net narrsch, blebt do, s` gibt no a Ohmdbrud un a Jagertee uffn Wag«.
Die Rübenauer kamen nicht umhin, zum Abend zu bleiben. Es gab dann zum Abendbrot nicht nur ein Glas Jägertee, sondern auch einen ordentlichen Schuss Strohrum hinein, damit es den Leuten bloß nicht kalt wird auf dem Heimweg.
Darüber wurde es noch später, und der Mond schien keineswegs helle. Und Wegebeleuchtung gibt es keine.
»Glig aaf un kimmt gudde haam, un bis bälde«
»Danke für de schie Tog, un Glig aaf«
Eine Nachtwächterlaterne benutzt man nicht mehr, und eine Taschenlampe war vergessen worden, doch das bemerkte man erst, als sie bereits aus Kalek heraus sind. Zurücklaufen und sich eine Taschlampl ausleihen mochten die Wanderer jedoch auch nicht.
Es ist so spät, dass die Rübenauer die Zollstation erreichten, kurz bevor der Grenzübergang für den Tag verriegelt wurde. Sie hatten Schwierigkeiten auf dem Heimweg, einmal, weil es stockeduster war, und der hochprozentige Jagertee machte auch ganz schön imedim, auf Hochdeutsch duselig. Mit lautem Gesang verscheuchte man dreistimmig den Rübezahl, der hinter den Bäumen lauerte.
Und was sagte der Zöllner? »erschte Bier, un schu ware se bsoffn. Ha, ha. Un e Flasch Strohrum i de Tasch inne, he?«
»Ne, ham mer net, nischt, nur inne dr Moong«
»Na, denne kimmt man gudde hem«
»Ja, so gutt will«.
Mit einem gehörigen Brummschädel kamen die Dreie dann zuhause an. Es war ein wunderschöner Tag, und die nächtliche Wanderung wurde zum Erlebnis, weil der Geist, nicht nur der Rübezahl, vertrieben werden konnte. Für Anton wurde es nur eine kurze Nacht, da er am frühen Morgen wieder raus musste, weil die Arbeit ruft. Doch die Erinnerung an den gestrigen Tag stimmte ihn froh. Nur die Gedanken daran, was mit den ungewöhnlich vielen Schusswaffen, die im Werk produziert werden, geschieht, ließen ihm keine Ruhe.
*
Rudolf kam zu einem weiteren Zusammensein nach Chemnitz. Sofort sprach er wieder von der Idee, mit Lotte zur Weihnachtszeit einen Besuch in Rübenau zu machen. Sie ist begeistert, auch und insbesondere die umständliche Anreise reizte sie. Besonders die Aussicht auf eine Schlittenfahrt im hohen Schnee. Das kannte sie von der Norddeutschen Tiefebene ja überhaupt nicht. Selten nur gab es da wegen der maritimen Nähe einen tiefverschneiten Winter.
Etwas Abenteuerlust hatte sie immer schon im Blut, sonst wäre sie ohne fremde Hilfe gewiss nicht nach Chemnitz gezogen. Es würde jedoch eine Weile dauern, mit der Reise ins Gebirge, denn noch hat der Herbst das Sagen. Bevor es ins Gebirge gen wird, ist noch eine Großdemonstration in Dresden angekündigt, an welcher R.H. unbedingt teilhaben will. Würde Lotte auch dahin mitkommen? Es wäre ihre erste gemeinsame Kurzreise.