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Rübenau

Rübenau war im Mittelalter ein kleines Dorf in unmittelbarer Nähe zur tschechischen Grenze. Es wurde in der Zeit um 1580 gegründet. Flößer und Köhler sind die ersten Bewohner dieses Weilers. Bereits 1571, noch bevor das Örtchen entstand, hatten sie mit dem Bau von Flößteichen begonnen.

Der Gebirgskamm war mit undurchdringlichem Urwald bedeckt, dem Miriquidi. Wölfe und Bären verbreiteten Angst und Schrecken. Nicht nur, dass nicht selten Ziegen und die nicht mit Geld aufzuwiegenden wenigen Rinder gerissen wurden. Es ist geradeso vorgekommen, dass Babys angefallen und getötet worden sind. Die Flößerteiche ermöglichten die Nutzung des Waldreichtums, und daher entstanden in den nächsten Jahrzehnten verschiedene Eisenschmieden. In späteren Jahren nannte man den Ort scherzhaft das »Dorf der Schmiede«. In und um Rübenau wurde in geringem Maße Bergbau betrieben, der aber nicht allzu ertragreich war. Profitablere Erzlager fand man in der weiteren Umgebung, in Freiberg, Marienberg und Annaberg.

Im 17.und 18.- Jahrhundert erzielte die Bevölkerung durch die Silber- und Kohleschürfungen im Erzgebirge ein den damaligen Verhältnissen entsprechend angemessenes Einkommen. Da gab es im Gebirge erhebliche Zuwanderungen zu verzeichnen. Die Leute kamen aus den verschiedensten Glaubens- und Himmelsrichtungen. Neue Orte und kleinere Städte, meist in der Nähe der Erz- oder Kohlezechen, entstanden.

Die Zugewanderten waren oft Protestanten, die aus dem Böhmischen vertrieben wurden. Der Katholizismus unter Ferdinand II. um 1620 gewann massiv an Bedeutung. Durch Vertreibungen sind in Böhmen ganze Dörfer entvölkert worden und verfielen nach einigen Jahren. Unter sächsischer Flagge erträumte man sich ein neues Leben.

Durch seine Kinderzeit im Gebirge war Rudolf zu einem hilfsbereiten, doch kritischen Jugendlichen herangewachsen. Hilfsbereitschaft in der Jugendzeit macht ihn zu einem gern gesehenen Zeitgenossen. Die Erziehung in einer Großfamilie und die Konfrontation mit dem Leid in den Kriegs- und frühen Nachkriegsjahren lassen ihn dann zu einem Skeptiker werden. Auch in den Jahren nach der SS-Zeit, vom Kriegsende 1945 bis zu seinem Tod in den Achtzigern, kümmerte er sich mit Empathie um andere.

Seit der Machtergreifung durch die Hitlerpartei von 1933 bis zum Ende des Hitlerregimes zeigte Rudolf ein zweites, abscheuliches Gesicht. Er mutierte unter Nazigenossen zum Herrn über Leben und Tod.

In der Vorkriegszeit genoss R.H. in seinem Heimatdorf nur eine dem Dorfleben angepasste Schulausbildung. Die war ihm allerdings keine Grundlage für einen besseren Lebensweg, wie er ihm vorschwebte. Angeborene Integrations – und Anpassungsfähigkeiten verschafften Kontakte zu einflussreichen Mitbürgern. Es verhalf ihm zum Parteiaufstieg, war ihm aber im Grunde völlig wesensfremd.

In Rübenau, das durch Eingemeindungen um 1900 etwa 2.100 Einwohner zählte, kannte man sich. Den Mitmenschen kam man zu Hilfe und ergänzte sich untereinander. In Notzeiten rücken Menschen enger zusammen, um sich gegenseitig zu stützen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl vergeht bei steigendem Wohlstand aber leider. Dann wird in erster Linie wieder nur an sich selber gedacht.

Die Familie, aus der Rudolf stammt, hat zur Nachbarsfamilie Grynszpan, deren Ahnen im 16. Jahrhundert unter Ferdinand II. aus dem Böhmischen vertrieben worden sind, eine intensive Freundschaft entwickelt. Bruno und Judith Grynszpan haben bloß vier Kinder, was nach damaliger Auffassung wenige sind. Sie erkannten frühzeitig, dass nicht Kinderreichtum ihr Leben im Alter absichert, sondern eine anständige Ausbildung der Sprösslinge. So können diese ihren Eltern einen zumeist sorgenfreien Lebensabend bereiten. Zumindest erhofften Vater und Mutter es sich. Denn an die erst durch Otto v. Bismark eingeführte Rentenversicherung hatte man vor dem 70. Lebensjahr keine Ansprüche.

Bruno ist ein traditionsbewusster Bergmann, hatte es zum Steiger gebracht, wurde aber 1901 durch eine Lungenkrankheit erwerbsgemindert. In den Schacht einzufahren und im Staub zu arbeiten konnte er nicht mehr. Schmalhans als Küchenmeister hat dann im Hause Einzug gehalten, und um das Überleben der Familie zu sichern, hatte man nach weiteren Erwerbsmöglichkeiten gesucht. Gemeinsam versuchte man es mit dem Holzschnitzhandwerk, das im Erzgebirge weit verbreitet ist.

Judith ist handwerklich geschickt. Sie kann die Einzelteile passgenau zusammenleimen und hat ein gutes Händchen, die Figuren zu bemalen. Neben der schweren Hausfrauenarbeit wird sie sich jetzt auch noch diesem anderen Erwerbszweig zu widmen haben.

Erzgebirgische Holz- und Weihnachtsspielsachen werden ebenso in Heimarbeit hergestellt wie Textilien. Bruno unterstützt seine Frau darin, indem er die Rohware von der Manufaktur in Olbernhau mit einer Tragekiepe abholt und die fertig bearbeiteten Sachen auf gleiche Weise wieder zurückbringt. Das sind immer beschwerliche, weite Wege zu der nächst erreichbaren Bahnstation. Ein schweres Tagewerk. Gemessen an dem Hauerlohn, den Bruno vor seiner Bergmannskrankheit ins Heim brachte, hat die Familie jetzt viel weniger zum Leben.

In der ersten Zeit dieser neuartigen Tätigkeit war Judith nicht perfekt in ihrer Arbeit. Deshalb ist ihr manches Werkstück nicht vollwertig bezahlt oder sogar völlig zurückgewiesen worden. Oftmals spielte da Schikane mit, wenn der Kalfaktor bloß nur Mängel gesucht hat, um einen geringeren Lohn zu zahlen.

Jetzt machte es sich lohnend bemerkbar, dass die Grynszpans 'nur' vier Kinder zu versorgen hatten. Im Abstand von etwa zwei Jahren sind die geboren worden. Pünktlich alle zwei Jahre lag ein frisches Kind in der Wiege.

Das Älteste von den vieren ist Anton. Im März 1905 kam er in Rübenau an, 1907 folgte ihm Emma. Mit tiefgründigen, verschmitzt strahlenden Augen schaute sie schon als Baby aus der Wiege, winzige Händchen, die nach allem griffen, was in ihre Nähe kam, entzückten ihre Eltern. Jedes unbekannte Gesicht brachte sie zum Lachen.

1909 kam dann Artur mit dem verkrüppelten linken Bein in diese Welt, welches ihm erhebliche Schwierigkeiten beim Laufen verursachen sollte. Von den Nazis wurde er später als nicht lebenswert eingestuft. Die sahen nur kerngesunde Menschen als vollwertige Volksgenossen an. Doch Artur wurde zum Liebling seiner Eltern.

Der Jüngste ist Joseph. Mag sein, dass man für diesen Sohn den biblischen Namen wählte, weil die Grynszpans eine gläubige Familie sind. Es ist ein Kinderquartett, das dem Elternpaar neben Sorgen, die es immer mal gibt, eine Menge Freude bereitete.

Als der Erste Weltkrieg durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo ausgelöst wurde, kamen schwere Zeiten für die Erzgebirgler. Durch die Grenznähe zur Tschechei ergaben sich oft Reibereien mit den Nachbarn der böhmischen Seite. Selbst Kinder trugen Kämpfe untereinander aus, denn sie kannten Schleichwege zwischen den Ortschaften Rübenau diesseits und Kalek sowie Necétin jenseits der Grenze. Sie bekämpften sich im Niemandsland, in den unermesslichen Wäldern des Gebirges, ohne recht zu wissen, weshalb denn eigentlich. Wenn die aus Rübenau sich eine Höhle gegraben hatten, kamen die Kaleker und zerstörten sie wieder. Oder die Jungs versteckten sich hinter undurchsichtigen Büschen und beschossen einander mit selbst gebauten Zwillen. Meist wurden kleine Kiesel als Geschosse genommen oder Eicheln. Gelegentlich aber auch, wenn die Wut über die Zerstörungen zu groß geworden war, ebenso Drahtkrampen, die gehörige Verletzungen verursachen konnten.

Anton, der älteste Sohn der Grynszpans, hatte kurz vor Beginn der Kampfhandlungen, als er gerade neun Jahre alt war, aber auch Freunde 'driiben', wie es auf Sächsisch hieß. Allerdings war diese Freundschaft aus der Not geboren. Im Nachbarland gab es Waren des täglichen Bedarfs erheblich preisgünstiger zu kaufen, und deshalb wurde Anton in jugendlichen Jahren zum Schmuggler. Ganz alleine trug er in einem für ihn viel zu großen Rucksack, der aus kräftigem Leinen bestand und dementsprechend schwer war, Fleisch und andere Metzgerware nach Rübenau hinüber.

Es sind verschlungene Pfade, die er oft zu begehen hatte, anstrengend und gefährlich. Durch Unterholz und über kleine Bäche, immer in Angst, keinen Grenzwächtern in die Arme zu laufen. Doch er war gewitzt und ließ sich nie erwischen. Im dunklen Wald machte er allerdings oft mit Bäumen Bekanntschaft, denn eine Taschenlampe durfte er natürlich nicht benutzen. Er kam auch mal mit verstauchtem Knöchel nach Hause.

»Andon« sagte seine Mutter im bestem erzgebirgisch, wenn wieder eine Schmuggeltour anstand, »Schie wieda giehts heit ins Beems. Bist scho huppetil? (aufgeregt) Do giebts no a Ohmbrud, u dee giehts los. Un ziag dei Lodn a, is fei an Hundswatre. Glig aaf, un bis bälde.«

»Bis bälde, Mutt.«

Bei Einbruch der Nacht musste er los, vorzugsweise bei Dreckwetter. Da war es wahrscheinlicher, nicht entdeckt zu werden, weil selbst Zöllner Menschen sind, die nicht unbedingt bei 'Hundswatre' das trockene Revier verlassen. Manchmal kämpfte er sich auch bei Vollmond durch das Gestrüpp des Unterholzes, stets angstbesetzt lauschend, ob nicht doch ein Grenzwächter unterwegs ist. Gelegentlich ahmte er den Laut der Rehe oder eines Uhus nach, um dann auf eine Reaktion zu warten. Aber man hat ihn nie erwischt.

Wenn er wieder mit einem Rucksack voller günstiger Lebensmittel heil und unerkannt zurück war, gab es für einige Tage reichhaltigere Rationen auf dem Küchentisch. Da Grynszpans eine selbstlose Nachbarschaft zu den Haub`s pflegten, bekam die Nachbarsfamilie stets etwas von den begehrten Schmuggelwaren ab.

Rudolf und Anton Grynszpan sind Freunde im fast gleichen Alter. Sie verbrachten ihre geringe Freizeit oft zusammen, nur auf Schmuggeltour schleichen die beiden nicht gemeinsam. Dabei konnte Anton keine Mitwisser gebrauchen.

Emma als die Zweitgeborene versuchte bereits früh, ihrer Mutter bei den Heimwerkerarbeiten zur Hand zu gehen. Als Fünfjährige bereits vermag sie erstaunlich gut mit Pinsel und Farbe umzugehen. Nussknacker, Engel und Rächermandln, von Judith ausgesägt, geschliffen und zusammengeleimt, bemalt sie perfekt. Mit feinsten Strichen zaubert sie Konturen auf das Holz. Schon in dem zarten Alter entwickelte sie ein ungewöhnliches Geschick darin, und es werden kaum noch Erzeugnisse vom Kalfaktor zurückgewiesen oder geringer entlohnt.

»Hast widr gudde gemachat, Emma, bist a fei gueds Mad«. Das Lob von Mutter und Vater stärkt ihr Selbstbewusstsein und lässt ihre Augen leuchten. Bald wird sie zur Schule kommen, leider nur in die Einklassige von Rübenau.

Not schweißt bekanntlich zusammen. Deshalb hatten die Nachbarsfamilien Haub und Grynszpan wie zu anderen Personengruppen des kleinen Grenzdorfes ein einvernehmliches, fast freundschaftliches Verhältnis. Oft saß man an lauen Sommerabenden gemeinsam vor der Haustüre oder in kalten Winternächten am knisternden Holzofenfeuer zusammen. Dann wurden Geschichten erzählt und klangvolle erzgebirgische Weisen gesungen. Das Lied vom »Vugelbeerbam« war immer dabei.

Vier Kriegsjahre mit seinen extremen Hungerjahren hinterließen tiefe Wunden. Auch in Rübenau auf deutscher und Kalek auf tschechischer Grenzseite. Als dann die Wirren der frühen 20er Jahre überstanden sind, änderten sich langsam die Verhältnisse in Rübenau. Leider auch die nachbarschaftliche Verbundenheit zwischen den Familien Haub und Grynszpan. Man nahm unterschiedliche Interessen wahr.

Vom Krieg und vom Frieden

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