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Zwischen den Kriegen
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R.H. war im bisherigen Leben aus Rübenau kaum hinausgekommen. Nur gelegentlich wanderte er mal nach Kühnhaide oder Rothental, denn das sind jeweils Fußmärsche von 5 bzw. 8 Kilometer. Und der Rückweg ist auch nicht kürzer. Bis Kalek, direkt hinter der tschechischen Grenze, sind es dagegen bloß knappe drei km, doch der reguläre Grenzübergang ist stets mit erheblichen Schwierigkeiten und Kontrollen verbunden. Die Zöllner vermuten ständig, dass Waren irregulär den Schlagbaum passieren, denn dann entgehen dem Staat ja Zolleinnahmen. Deshalb hatte sich Anton Grynszpan als Kind und Jugendlicher zum Grenzschmuggler entwickelt. Er schleppte manche lebensnotwendigen Lebensmittel durch die Wälder in das heimatliche Dorf.
Das also ist die kleine Welt des Rudolf Haub. Die einflussreicheren Orte Marienberg und Olbernhau als nächste Bahnstationen liegen außerhalb seiner Reichweite, obwohl sie lediglich 12 bzw. 16 km entfernt sind. Die unbefestigten Wege dorthin sind beschwerlich, der Wanderer quält sich bergauf und bergab. Wenn es auch keine Felsenberge wie in den bayrischen Alpen sind–der Fußwanderer ist geschafft, wenn er die Entfernungen, meist auch mit einer Tragelast auf dem Rücken, bewältigt hat.
In der jetzt zwei-klassigen Volksschule Rübenau erhielten die Kinder weiterhin nur ein Grundwissen vermittelt, das eben mal ausreichte, die in der Gemeinde ansässigen Handwerke zu erlernen. Das reichteRudolf aber nicht. Deshalb sehnte er sich nach dem Krieg als 13-Jähriger in die für ihn unbekannte Welt, nach Marienberg. Als Klassenbester hatte er eine Empfehlung zur Mittelschule in der Kreisstadt erhalten.
Die gleichaltrigen R.H. und Anton Grynszpan schlagen ab dieser Zeit recht unterschiedliche Lebenswege ein. Rudolf auf der Realschule in Marienberg, Anton mit mäßiger Volksschulbildung in einem Hammerwerk bei Rübenau. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen von einem Leben nach dem Krieg.
Jüngling verließ R.H. seine Familie und den Heimatort, in dem er die Kindheit verbrachte. Unterkunft in Marienberg findet er bei einer Tante, der Schwester der verstorbenen Mutter. Der Hinterwäldler Rudolf kam in eine völlig andersartige Umgebung, in der er sich zunächst überhaupt nicht zurechtfand. Es ist nicht ohne Schwierigkeiten, von einer zwei-klassigen Dorfschule auf die Mittelschule einer kleinen Stadt zu wechseln; aber er hatte ein Ziel vor Augen. Er ist ehrgeizig, wollte mehr aus seinem weiteren Leben machen. Neben Mathematik und Sport interessierte ihn speziell die deutsche Geschichte. Anders als in der Zwergschule Rübenau würde ihm hier detaillierteres Wissen vermittelt werden.
Doch es barg eine Gefahr: Es gab in Marienberg Lehrkräfte, welche den soeben überwundenen Weltkrieg in ihrem Unterricht ideologisch behandelten. Davon aber hatte Rudolf keine Ahnung.
Realschuloberlehrer Böhm war so einer, und genau der wurde zum Klassenlehrer des unerfahrenen neuen Schülers. Der Zufall wollte es, dass der geschichtsdurstige Rudolf ausgerechnet auf einen Pädagogen traf, der dieses Wissensgebiet als seinen vorrangigen Lehrauftrag sah. Dadurch entstand eine schicksalsträchtige Symbiose. Die Weichen wurden neu gestellt.
Als hinterwäldlerischer Neuling kam R.H. in eine 4-stufige Realschulklasse. Nach sechs Jahren in der Volksschule hat er sich mächtig anzustrengen, um das Klassenziel mit der 10. Klasse zu erreichen, zumal der Unterricht in Rübenau wegen Mithilfe bei der Heimarbeit und in den grimmigen Wintern oft unterbrochen war. Rudolf hatte es schwer, auf das Niveau der neuen Schule zu gelangen.
Wie es halt ist, wenn man sich in fremder Umgebung nicht auskennt, tritt man am Anfang oft in Fettnäpfchen. Manchmal werden die auch extra aufgestellt, um NEUE aufs Glatteis zu führen. Das ist zwar fies, aber alle Beteiligten, außer dem Opfer selbst, ergötzen sich daran.
Anders, als er es bisher kannte, fand der Unterricht hier getrennt nach Mädchen und Jungen statt, worüber Rudolf nicht im Bilde war. Er wird als Neuling einer 6. Klasse zugeteilt, doch man schickte ihn bewusst irreführend in eine Mädchenklasse. Da sitzt er, als einziger Junge, und hat sich allerhand Spott und Neckereien der Mädchen gefallen zu lassen. Bis die Klassenlehrerin ihn auf diesen Schabernack hinwies und er unter schadenfrohem Gelächter die Weiberklasse fluchtartig verließ.
Ein wüstes Gejohle empfing ihn gleichermaßen, als er dann verspätet in seiner ihm zugeteilten Klasse aufkreuzte, denn hier wusste man auch von dem Streich. Wenn Rudolf nicht ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein entwickelt hätte, wäre er möglicherweise umgehend wieder zurück nach Rübenau geflüchtet. Er aber sann auf Rache. Bei passender Gelegenheit würde ihm sicher eine geeignete Retourkutsche einfallen.
Oberlehrer Böhm ist Garant für Zucht und Ordnung in der Klasse. Als gedienter Soldat brachte er es bis zum Hauptmann. Er marschierte mit festen Schritten während des Unterrichts im Klassenraum auf und ab, hin und her, klopfte mit einem Rohrstock auf das Pult oder die Tische der Schüler und gelegentlich selbst auf die Hand- und Sitzflächen seiner Untergebenen. Er war typisch Respektsperson, duldete keine Flachsereien und Widerreden; Schummeleien schon mal gar nicht. Erwischte er jemanden mit einem Spickzettel, fand der sich für Stunden vor der Klassentür wieder. Er hatte Spott und Gemeinheiten anderer Pennälern zu ertragen.
Im Unterricht half solch diszipliniertes Regiment meistens, außerhalb der Schule aber ging man dem Herrn Böhm gerne aus dem Weg. Da kannte er kaum Freundschaften. Doch im Fach deutsche Geschichte war der Pauker ein ausgewiesener Experte. Und da R.H. für eben dieses Lehrfach bedeutendes Interesse zeigte, wurde er bald der Lieblingsschüler des Klassenlehrers. Beide fühlten sich bestätigt und anerkannt: Der Lehrer, weil er einen wissbegierigen Schüler für sein Lieblingsfach gefunden hatte. Der unbedarfte Pennäler wegen der Möglichkeiten, bei einem Fachlehrer sein bisheriges Wissen auf eine gehobene Grundlage stellen zu können.
Für die meisten Schulkinder ist Geschichte ein rotes Tuch. Wer interessiert sich schon für Alarich und die Horden der Mongolen. Niemand freudig, nur unter dem schulischen Zwang. Die Kreuzzüge der Ordensritter gegen die Sarazenen und die Jahrhunderte lange Besetzung der iberischen Halbinsel durch mohammedanische Araber fand kaum Interesse bei den Schülern. Pauken einschläfernder Jahreszahlen wäre für manchen Pennäler ein Grund, den Unterricht zu schwänzen. Rudolf aber konnte von diesen historischen Zeiten nicht genug erfahren.
Doch auch die nicht lange zurückliegende Vergangenheit, die aktuelle Weltlage und die sich daraus entwickelnde Zukunft ist Gegenstand des Unterrichts und von brennendem Interesses für R.H.. Böhm findet sich in seiner Unterrichtsgestaltung bestätigt, und der Neue hat einen Mentor, der ihm manches bisher Unbekannte nahebringt. Böhm ereifert sich darüber, wie schändlich die Siegermächte von 14/18 mit Deutschland umgegangen wären.
Die Mittel- bzw. Realschule Marienbergs ist ein in die Jahre gekommenes Gebäude. Zahlreiche Schülergenerationen haben die hölzernen Treppenstufen ausgetreten, die Toilettenwände mit schauderhaften Sprüchen und Zeichnungen verziert. Aus Geldmangel in der Nachkriegszeit hat die Stadtverwaltung notwendige Renovierungen nicht durchführen können. Daran störte sich R.H. weniger, er war es aus Rübenau weitaus primitiver gewohnt. Da gab es noch Plumpsklos mit Herzen in der Tür, nicht getrennt für Mädchen oder Jungen. Nur für den Lehrer – und es gab nur Einen hier– war ein eigenes Örtchen vorhanden, das sogar abschließbar war. AlsRudolf die Toilettenräume der Marienberger Schule benutzt, erinnert er sich an den Empfang und seine Rachegelüste. Eine derartige Schmach mag er nicht auf sich sitzen lassen. Hier zeigte sich zum ersten Mal eine sadistische Ader. Er hat eine perfide Idee.
Wofür leben Frösche? Doch nicht nur, um Fliegen zu fangen oder selbst als Futter zu dienen: Atemberaubend Streiche lassen sich damit aushecken, nur darf man dabei nicht erwischt werden. Als ein vom Dorf »Zugreister« kennt der Neue sich in der Natur aus und weiß deshalb, wo und wie er solche Amphibien einfangen kann. Er sammelt einige davon, verbirgt sie in einem unauffälligen Karton und bringt sie zur Schule mit. Aber nicht für den Naturkundeunterricht. Das Geschrei und Gekreische der Mitschüler auf den Toiletten ist durchdringend. Niemand hat herausgefunden, wer die Frösche in den Aborten ausgesetzt und verteilt hat.
Für Rudolf ist unerlässlich, sich im Rechnen – Mathe war noch kein gängiger Ausdruck – zu verbessern. Doch seine wahre Liebe ist Deutsch und Geschichte. Lehrfächer, die für viele andere abschreckend sind. In den Grundschulen lernte man nur das Wesentlichste. Die Namen Karl d. Große, Friedr. d. Große oder der nach Holland geflüchtete Kaiser Wilhelm II. sind ihm bewusst. Auch dass Deutschland eine Kolonialmacht neben England und Frankreich war und sich zur Industrienation entwickelt hat, lernte er. Hintergründe dazu und tieferes Wissen besitzt er nicht. Doch ausgerechnet das interessiert den jungen Schüler.
Nach einigen Monaten hatte der Dörfler sich eingelebt. Respekt verschaffte er sich durch Lerneifer und Hilfsbereitschaft gegenüber seinen Mitschülern. Prügeleien, wie sie in Rübenau gelegentlich vorkamen, erlebte er an dieser Penne keine. Hier gewinnt man mit erstklassigen Kenntnissen Vorteile, nicht durch Rabaukentum.
Lehrer Böhm findet Gefallen an dem Zugezogenen und gestattet ihm Zugang zu der vorzüglich ausgestatteten Bibliothek der Bildungseinrichtung, was eher nicht üblich ist. Rudolf nutzt das Privileg. Die Bücherei besitzt einen umfangreichen Fundus an Geschichtsbüchern, genau das, was den wissensdurstigen Neuen interessiert. Er wird Dauergast im Lesesaal. Höhere Mathematik mit Algorithmenrechnung liegt R.H. nicht so sehr. Davon lernt er just so viel, dass er dem Unterricht zu folgen vermag und nicht mit einer EINS oder ZWEI im Zeugnis nach Hause geht.
Hey, das sind doch Superzensuren. Nein, waren es nicht, denn in den Zwanzigern ist die beste Zensur die SECHS, die geringwertigste somit die EINS. Ihm genügten die Grundrechenarten. Das Fach Geschichte mit seinen zahlreichen Verzweigungen ist für Rudolf das wahre Leben. Mit den Bestnoten SECHS und FÜNF kann er hier glänzen.
Der Klassenunterricht in Geschichtsschreibung forderte ihn kaum. Er holt sich das Wissen gierig aus dem Lesesaal der Bibliothek. Aufbauend auf der Literatur des Mittelalters kommt er enger heran an die Zeit um 1900. R.H. beschäftigt sich intensiv mit den Jahren vor dem 1. Weltkrieg. Das ist dann fast selbst erlebte Geschichte, wobei Chronik auch immer politisch und finanzpolitisch zu sehen ist.
Aus dem Altertum ist bekannt, dass Fehden stets Eroberungskriege waren, die dem Gewinner Zuwachs an Macht und Reichtum brachten. Aber irgendwann – das las Rudolf ebenfalls aus dem Schrifttum heraus – zerfielen solche Imperien wieder. Sei es aus eingetretener Dekadenz oder wegen Erstarkung bisher unterdrückter Gegner. Zerfall – manchmal erst nach Jahrhunderten – erlebten die Phönizier, Karthager, Ägypter, Griechen und Römer. Dschingis Khan mit seinem Mongolenreich ging unter. Stets verschwanden diese Reiche, weil andere sich weiterentwickelt hatten. Und das Eigenartige ist, wie R.H. erkannte, dass die Zeitspannen der Hochblüte solcher Staatsgebilde immer kürzer wurden.
Der Schüler wird fast zum jugendlichen Wissenschaftler. Intensiv beschäftigt er sich mit den geschichtlichen Abläufen und versucht, daraus naturgegebene Regeln herzuleiten. Nach 2 Jahren Studium der Materie ist der Pennäler in der Neuzeit angekommen. Er setzt sich jetzt mit dem Deutsch-französischen Krieg 1870/71 und der Zeit darnach auseinander. Der Auslöser für diese Auseinandersetzung war das Ansinnen von Napoleon III., König Wilhelm von Preußen zu drängen, ein Verbot auszusprechen, damit nicht Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen der Monarch von Spanien würde.
In den Augen des Volkes werden aus nichtigen Anlässen Konflikte angezettelt. Der ungebildete Untertan gibt mit Hurra für seinen Landesherrn eigenes Leben dahin. Mit dem Gesang: „Lieb Vaterland, magst ruhig sein, feststeht und treu die Wacht am Rhein“ zogen deutsche Truppen gegen die Franzosen in den Kampf.
Rudolf Haub aber ist fasziniert von diesen Vorgängen. Er identifizierte sich mit den Beschreibungen über die Feindseligkeiten. Vollzog gedanklich nach, wie sich die Regimenter des Norddeutschen Bundes und der süddeutschen Kleinstaaten gemeinsam gegen die französischen Nachbarn wandten. Auch hier waren wirtschaftliche Interessen der Auslöser zu den Konflikten, doch der gewöhnliche Volksgenosse kannte solche Überlegungen nicht. Er stürzte sich für seinen König in den Tod. Die Regimentsfahne war ihm heilig.
Jetzt konnte der Rübenauer auch ein gutes Stück nachzuvollziehen, wie es dem Vater im 1. Weltkrieg erging. Der nach den Kämpfen hochgradig kriegsversehrt entlassen worden ist und nur mit Gotteslohn sein Zuhause erreichte. Das Familienoberhaupt war so traumatisiert, dass er über eigene Kriegserlebnisse kaum gesprochen hat. Rudolf aber war wissbegierig und hatte endlich Gelegenheit, Hintergründe und Zusammenhänge zu erkennen.
Mit dem Sieg bei Sedan war der Feldzug keineswegs beendet. Kaiser Napoleon wurde zwar gefangen gesetzt und die Republik in Paris ausgerufen. Über die Schlacht bei Sedan 70/71 las Rudolf, wie Napoleon III. nach dem verlorenen Gefecht in einem Brief an den preußischen König schrieb: »Da es mir nicht vergönnt war, inmitten meiner Truppen zu sterben, lege ich meinen Degen in die Hände Eurer Majestät«.
Was für ein Pathos, und was für ein Unsinn dieser Konflikt doch war. Der Kampf um Paris begann erneut und wurde mit der Übergabe der Stadt am 28. Januar 1871 beendet. Die Franzosen wollten die Kapitulationsbedingungen der Deutschen jedoch nicht akzeptieren, was wiederum zum 1. Weltkrieg und der nach dessen Ende diktierten Reparationsbedingen durch England und Frankreich führte. Das war dann der Auslöser für den späteren Aufstieg des Adolf Hitler. Und ebenso die Verblendung Rudolfs. Doch dem soll jetzt nicht vorgegriffen werden.
70/71 sind 26 Festungen in Frankreich erobert und 370.000 Gefangene, darunter Turkos und Zuaven, gemacht worden. Doch was sind Turkos, was sind Zuaven? In schlauen Büchern las Rudolf: Turko ist der Spitzname für algerische und tunesische Kämpfer in der franzmännischen Armee, und ein Zuave war ein Soldat des päpstlichen Kirchenstaates, der eine exotisch anmutende Uniform mit Schärpe trug. Die Zuaven kämpften zeitweise unter französischem Kommando und sind als gefangene Papistische in Berlin zur Schau gestellt worden. Fremdartige Menschen als Schauobjekte und der Vatikan als Kriegsteilnehmer!
Nach Kriegsende wurde das Deutsche Reich ausgerufen, das zunächst aus 26 Kleinstaaten bestand. König Wilhelm nahm die ihm angebotene Kaiserkrone an, erster Reichskanzler war Fürst Bismark. R.H. geht in der Historie auf, verschlang Bücher über Bücher und bastelte sich sein Bild von den Friedensjahren ab 1871 zusammen.
Das Deutschland als Kolonialmacht bereicherte sein Wissen, und als Kind erlitt er, wie das Kaiserreich unter Wilhelm II. auf den nächsten Feldzug, den 1. Weltkrieg zusteuerte. Die Auswirkungen erlebte er dann selber mit.
Ob Kaiser Wilhelm durch den Ausbau der Flotte und des Heeres die Absicht verfolgte, andere Länder zu bekriegen, ist nicht glaubwürdig belegt. Vorrangig beabsichtigte er wohl, Deutschland abzusichern und unangreifbar werden zu lassen. Die Insel Helgoland tauschte der Kaiser mit England gegen Teile von Kenia und Uganda in Afrika ein. Er verpflichtete sich dazu, nicht weiterhin Einfluss auf Sansibar zu nehmen. Das Kaiserreich baute die Felseninsel in der Deutschen Bucht dann zu einem Flottenstützpunkt neben Wilhelmshaven aus. Eine englische Bastion in Reichweite der Hafenstädte Hamburg und Bremen war ihm ein Gräuel. Von hier hätte Albion den Seeverkehr Deutschlands nachhaltig blockieren können.
So jedenfalls hat Rudolf es in der Schulbibliothek studiert. Germania ist im 20. Jahrhundert zu einer Großmacht aufgestiegen, das unter den anderen einflussreichen Staaten England, Russland und dem wieder erstarkten Frankreich zunehmend Neider fand. Aus der Kleinstaaterei ist ein wichtiger Nationalstaat entstanden.
Mit Missgunst und Angst ist das politische Attentat von Sarajewo zu erklären, das dann zum Ausbruch des 1. Weltkrieges führte. Die Hintergründe dazu verinnerlichte sich R.H. während der Schulzeit, die er 1922 im Alter von 18 Jahren mit akzeptablen Prüfungszeugnissen beendete.
Der Heranwachsende ist aber noch nicht volljährig. Den Status erreichte man erst mit einundzwanzig Lenzen. Daher musste sein Vormund, die Tante, bei der er die Schuljahre über wohnte, zustimmen zu dem, was er nach der Schulzeit lernen wolle. Denn die Eltern lebten nicht mehr. Ein Studium kam für ihn nicht infrage. Dazu fehlten ihm die aristokratischen Voraussetzungen und demzufolge die finanziellen Mittel. Ihm blieb nur die Ausbildung in einem Handwerk oder im kaufmännischen Bereich. Die Entscheidung fiel für eine Berufslaufbahn mit weißem Kragen.
Eine Lehrstelle fand der Jugendliche durch Vermittlung des Oberlehrer Böhm im Büro des Bergbaumuseums Freiberg. Rudolf nahm Abschied von Marienberg und seiner betagten Tante.
»Glig aaf!, liaber Jung, in Fribarg bist wiedr a Uhiesschr (Fremder). Loß dr annern fei lorxn, schee wars miet dr. Bist an gudds Berschl.«
»Dank di, Tante, war schee bei dr, hinnewider kimm i vor - bie, denn kehr mor mohl ei!« Den sächsischen Dialekt konnte er nicht verbergen, musste sich aber für die Zukunft mehr auf das Hochdeutsche konzentrieren.
Auf der Schiene fuhr er wieder ein Stück weiter in unbekanntes Land, und die schulische Bildung half ihm, weitere Herausforderung anzunehmen. Wenn auch die politischen Zeiten und das wirtschaftliche Leben immer unsicherer wurden, wollte der Jüngling sich auf die Forderungen des Daseins einstellen. Freiberg war ein neuer Schritt in den Alltag für R.H..
Im Haus der Witwe eines Freundes von Böhm erhielt er eine Unterkunft. Der Verstorbene, ebenfalls ein Lehrer, war wenige Tage vor Ende des Krieges in Frankreich gefallen. Rudolf Haub ist 1924 zu einem 18-jährigen, kernigen, blauäugigen blonden Jüngling herangewachsen. Ein Arier, wie er genau ins Weltbild der N.S.D.A.P. passt.
Durch die Ausbildung im Bergbaumuseum erwarb er sich Kenntnisse im kaufmännischen Bereich, und die wurden durch seine spätere Integration in die Nazipartei vervollständigt. Er war in der Lage, mehr als 1+1 zu addieren. Doch seinen geschichtlichen Interessen konnte er bei der Tätigkeit im Museum nicht weiter nachgehen. Hier war sein Aufgabengebiet mit der Darstellung der verschiedenen Erzfördergruben des Erzgebirges ausgefüllt.
Rudolf hat keine näheren Kontakte in die alte Heimat mehr. Die liegt zwar vor seiner Haustür, als jugendlichem Mittzwanziger interessierten ihn jedoch die politischen Verhältnisse der jungen Republik mehr als das dörfliche Leben in Rübenau.
Die NSDAP war in den Jahren vor 1933 eine ganz normale, dem deutschen Volkstum sich verpflichtende Partei. Das brachte ihr viele Anhänger, denn sie versprach und suggerierte dem Mann auf der Straße, ihn aus der wirtschaftlichen Misere herauszuführen, in die das Land hineingeraten war. Das war dringend erforderlich, weil das verarmte germanische Volk am Hungertuch nagte, doch die Methoden zur Wiederauferstehung sind keinesfalls demokratisch.
Zunächst wurde das radikale, die „arische Rasse“ hervorhebende Gedankengut der NSDAP deutlich unter Verschluss gehalten. Es war den nicht der Führungsriege zugehörigen Parteimitgliedern unbekannt, und dem kleinen Mann (und der Frau) schon gar nicht. Auch R.H. wird davon keine Kenntnis besessen haben.
Bereits als 20-Jähriger fühlte er sich zum Militär hingezogen, zunächst landete er aber nur in den Fängen der sozialistischen Arbeiterpartei. Er sah darin Möglichkeiten zum persönlichen Aufstieg, und daran wollte das neue Mitglied unbedingt teilhaben. Er trat in die S. A. ein und entwickelte sich in der Folge zu einem Janus, einem Mann mit zwei Gesichtern.
In kinderreichen Familien war es üblich, dass die Erstgeborenen zuerst das Haus zu verlassen haben. Es sei denn, es ist ein Sohn, der eine vorhandene Landwirtschaft oder einen Betrieb übernehmen soll. In der Hausgemeinschaft Haub ist Rudolf der Älteste, doch die Heimarbeit mit Textilien bot für ihn keine Zukunftsperspektive. Nachgeborene Kinder lösen sich vom Elternhaus, nachdem sie ihren kriegsverletzten Vater bis zu seinem Tode versorgt hatten. Drei weitere Geschwister waren frühzeitig verstorben. Es verblieben jetzt nur zwei herangewachsene Schwestern des R.H. im Haus der Kinderzeit.
Aber es ist eine Frage der Zeit, bis sie ebenfalls die Türen von außen schließen werden, es sei denn, sie fänden hier den Mann ihres Lebens. Schwierig genug wird es sein, weil es bessere Arbeitsmöglichkeiten nur in den größeren Städten Dresden, Chemnitz oder Leipzig gibt.
Der Zechenbetrieb im Rübenauer Ortsteil Einsiedel war schon lange zum Erliegen gekommen. Bruno Grynszpan als ehemaliger Steiger hatte jedoch gute Verbindungen zu einem Hammerwerkbetrieb, wo Gerätschaften für den Ackerbau, Nägel und Schellen sowie sogar Schrotgewehre für die Jägerschaft gefertigt werden. Es ist ein zwar lang ansässiger Betrieb, aber doch ein in die Jahre gekommener. Die Maschinen waren nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik. Im Krieg wurde hier auch Gewehrmunition hergestellt.
Anton als ältester Sohn soll nach seiner Schulzeit in Rübenau jetzt in das Erwerbsleben eintreten. Der Vater half ihm, eine Lehrstelle in diesem Hammerwerk zu bekommen. Anton wäre ja gerne ebenfalls Bergmann geworden, doch die Tradition des Hauers in Rübenau ist mit Schließung der Silberzeche ausgestorben. Es blieb ihm in dem abgelegenen Bergdorf nur der Beruf eines Schmiedes.
Er ahnt, dass er ein schweres Berufsleben vor sich haben wird. Aber besser Feinschmied als gar keinen Broterwerb, denn zum Holzschnitzer hatte er kein Talent. Als 14-Jähriger beginnt Anton 1920 die Lehre als Nagel- und Waffenschmied. Auch auf ihn traf zu, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind.
Schabernack ist im Handwerk weit bekannt. Gleich am ersten Arbeitstag trug man dem neuen Lehrjungen auf, sich einen Hammer mit Gummistiel zu besorgen, mit dem man um die Ecke schlagen könne. Und für seinen Lehrmeister habe er Bier in Holzflaschen zu organisieren, weil das äußerst potenzfördernd sein soll. Doch was wusste ein so heranwachsender Bursche zu der Zeit denn, worum es sich bei Potenz handelt. Hat das etwa irgendetwas mit Wachstum zu tun? Weil Anton beide Sachen aber nicht auftreiben konnte, verurteilte man ihn zu einem Ulk. Er wurde barfuß in einem Wasserbottich stehend an einen Pfahl gefesselt. Es ist alter Aberglaube unter Schmieden, dass, wer nach dieser Tortur nicht erkrankt, als Lehrling für den Beruf des Waffenschmiedes ausgezeichnet geeignet sei. So denkt und handelt man seit uralten Zeiten.
Der neue Stift ist, zwar grün hinter den Ohren, doch beileibe nicht töricht, sondern aufmerksam und gewitzt, was er stets auch als Schmuggler bewiesen hatte. Sogar am 'Schandpfahl' nutzte er die Situation für sich aus und analysierte das Verhalten seiner zukünftigen Kollegen.
Es gab Schadenfreudige, die sich an ihre eigene Lehrzeit erinnerten. Sie hantierten mit glühenden Nagelrohlingen vor Antons Gesicht, um ihm Angst zu machen. Doch auch Mitfühlende waren in der Firma, die ihm während der zweistündigen Zeit am Pranger mit Aufmunterungen, Erfrischungen und Wassergüssen Erleichterung verschafften. Er musste, von Kopf bis Fuß durchnässt, wie ein glühendes Stück Eisen gehärtet, die Zeit der Demütigung überstehen.
»’So wird man hart wie Kruppstahl’ und ’Lehrjahre sind keine Herrenjahre’, das wirst du so oder so noch merken,« rief man ihm zu. Nach mehr als zwei Stunden befreite man Anton dann endlich. Jetzt hatte er seine Feuertaufe hinter sich und wurde in die Betriebsgemeinschaft aufgenommen, wenn er denn nicht erkrankt. Auf diese Art und Weise hat man angehende Lehrlinge auch in anderen Berufen auf die Schippe genommen. Natürlich ist er zunächst der 'Stift', unterster in der Betriebshierarchie, und hat zu tun und lassen, was die Kollegen von ihm fordern. Aber – es stählte ihn, erzeugte Kraft und Mut für die folgenden Jahre.
So war es damals – als Lehrbub – Azubi nannte man die Lehrlinge erst sehr viel später, in den 80ern nach dem Zweiten Weltkrieg, der sich fern am Horizont bereits abzuzeichnen begann. Noch sonnte sich die Wirtschaft in einem Zwischenhoch.
Anton ist der Laufbursche für alles- er hatte Bier heranzuschleppen, die Werkstätten auszufegen, Zugpferde zu versorgen, Kohlen zu schippen und für gelegentliche Watschen herzuhalten. Lehrjahre sind eben nicht Herrenjahre. Lehrlingslohn erhielt er nicht und durfte nur froh sein, keinen Ausbildungsgroschen zahlen zu müssen. Dass Handwerksmeister Ausbildungslohn forderten, war noch nicht lange her.
Anton lernt in einer kleinen Firma, einer Zwischenform von Handwerk und Industriebetrieb. Da hatten die Mitarbeiter gewisse Vorteile, weil dieses Hammerwerk noch patriarchalisch geführt wurde.
Patriarchen sind die Eigentümer und unumschränkte Herrscher in ihrem Betrieb. Sie fühlten sich dann allerdings auch persönlich verantwortlich für die bei ihm Beschäftigten. Das äußerte sich so, dass der Betriebsherr zwar willkürlich oft äußerst geringe Löhne zahlte, sodass Arbeiter und ihre oft umfangreichen Familien kaum aus der Lohntüte leben konnten. Andererseits gab es Unterstützung bei Lebenseinschnitten wie Krankheit oder Tod. Zu Geburten erhielten die Mitarbeiter gelegentlich ebenso finanzielle Hilfe, doch geschah das immer auf freiwilliger Basis. Gewerkschaften und Tariflöhne waren kaum bekannt oder hatten als Berufsvertretungen keine große Macht. Nur den Kapp-Putsch 1920 wehrten sie gemeinsam ab.
Die Nagelschmiede hatte nach dem 1. Weltkrieg Hochkonjunktur, die Waffenschmiede nicht. Noch nicht. Nägel und Schrauben wurden für viele Zwecke eingesetzt.
Kaum zu glauben, welche Vielzahl unterschiedlicher Nagelarten es gibt. Gewöhnliche Drahtstifte hat man bereits lange Zeit maschinell hergestellt. Nur besondere Ausführungen, Ziernägel zum Beispiel, ließen sich in keine Form pressen. Die sind weiterhin mit handwerklichem Geschick geschmiedet worden.
Anton hatte keinerlei Probleme, mit schweren Hämmern und unförmigen Zangen umzugehen. Doch auch das feingliedrige Arbeiten machte ihm Spaß. Nach den ersten Monaten als Bierholer und Werkstattausfeger erkannte man seine Fähigkeiten. Und er war ehrgeizig. Nicht nur kunstvolle Stifte versuchte er herzustellen, sondern ebenfalls Ornamente, Wandteller und kleine Kettenanhänger als Schmuckstücke, aus Schmiedeeisen, nicht aus Gold oder Silber. Der jugendliche Lehrling war kaum ein Jahr in der Ausbildung, da hat man dessen hochgradige Begabung erkannt. Der Lehrmeister ließ ihm neben der Arbeit als Nagelschmied auch die Freiheit, in andere Richtungen zu experimentieren. Heimlich durfte er an Bohrversuchen üben, denn der Betrieb dachte daran, auch die bislang verbotene Schrotflintenproduktion wieder aufleben zu lassen.
Antons Schwester Emma entwickelte ungeahnte Fähigkeiten bei der Bemalung von Holzfiguren. Mutter schliff und leimte die Figuren zusammen wie eh und je, und Vater Bruno machte nach wie vor den Zuträger mit seiner Kiepe.
Die beiden letztgeborenen Arthur und Joseph absolvierten ihre Schulpflicht, weiterhin in der zwei-klassigen Volksschule Rübenau. Der Bruder mit dem verkrüppelten Bein hat Probleme, weite Wege zurückzulegen. Auf der Lehrstellensuche gab es für ihn keine bemerkenswerte Berufsauswahl. Er würde sich nur für einen der sitzenden Berufe Schneider, Uhr- oder Schuhmacher entscheiden können. Doch das wird noch dauern. Arthur wurde oft gehänselt, denn Kinder bringen es leicht fertig, grausam zu sein. Artur musste sich ständig Humpelfüßler nennen lassen, wie Brillenträger >Brillenschlange<. es half nichts, den kräftigeren Bruder um Hilfe zu bitten. Danach wurde es nur weit übler. Doch deshalb sich zu prügeln, verabscheute er.
Die Grynszpan-Familie hält zusammen, wenn es mit den Nachbarn Haub auch immer weniger Gemeinsamkeiten gibt. Die größte Not ist momentan überwunden, und daran wird man dann ungern erinnert. Leider leidet darunter die Verbundenheit, die Allen zugutekam. Es war hier vorwiegend die Sippe der Haubs, die sich aus der Nachbarschaftshilfe zurückzog. Dazu trug vermutlich bei, dass die früher eng befreundeten Rudolf und Anton schulisch, gedanklich und beruflich unterschiedliche Wege eingeschlagen haben.