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Das große Gebäude mit dem Schriftzug »Pharmason« über dem Eingang ist ein asymmetrischer Glasklotz. Die Linien zwischen den Glaselementen verlaufen in einem undefinierbaren Gitter über die Fassade. Nicht, dass ich Glasbauten oder moderne Architektur nicht mag – es soll ja auch interessante oder schöne neue Gebäude geben. Aber wenn man ein fünfjähriges Kind ein Raumschiff zeichnen ließe, käme das Gleiche dabei raus.

Normalerweise recherchiere ich vor einem Interviewtermin. Ich habe dann Informationen zu der entsprechenden Person gesammelt, mir Gedanken über relevante Fragen gemacht. Anschließend einen Fragebogen erstellt und die Fragen nach Themen gegliedert. Diesmal habe ich keinen Fragebogen. Keinen Interviewtermin. Ich weiß nicht einmal, mit wem ich reden soll oder kann.

Durch eine Drehtüre trete ich in den riesigen, mehrstöckigen Eingangsbereich. Ich schaue nach oben und muss an einen Ameisenbau von innen denken. Imposant, aber mit Wohlfühlen hat das hier nichts zu tun. Links der Empfang. Zwei Blondinen sitzen hinter einem großen, gebogenen Etwas, das wie ein Raumschiff im Raumschiff wirkt. Wahrscheinlich die Fluchtkapsel. Die rechte ist deutlich jünger, ich schätze sie auf Mitte Zwanzig. Dafür schaut die linke, die ihre Mutter sein könnte, in meine Richtung.

»Bitte«, ruft sie in einem auffordernden Ton.

»Hallo«, sage ich und gehe hinüber. Eine Fluchtkapsel als Empfang hat was, denke ich. Da wird man von der Architektur aufgefordert gleich wieder abzuhauen.

»Ich bin Hanno Hohenberg vom Magazin Epoche. Ich recherchiere gerade für einen Artikel über die Geschichte der Pharmazie in Wien.« Das ist nicht ganz korrekt, aber mit der Zeit habe ich gelernt, dass man mit nicht ganz korrekten Aussagen viel weiter kommt als mit der Wahrheit. »Ich bin auf ein Unternehmen in Wien gestoßen, Pharmazie Berger«, fahre ich fort. »Pharmason hat das Unternehmen vor über zwanzig Jahren gekauft. Ist jemand noch hier im Haus, der schon so lange dabei ist?«

Die Empfangsdame schaut mich mit ihren großen, blauen Augen an.

»Haben Sie einen Termin?«, fragt sie.

»Nein. Ich habe nur gedacht …«

»Am besten sprechen Sie mit unserer Personalchefin. Ich werde einmal schauen, was ich für Sie tun kann.«

Sie nimmt den Hörer ihres Telefons und tippt eine Nummer ein. Die junge Blondine hat noch nicht aufgeschaut, seitdem ich das Haus betreten habe. Sie bemalt gerade ihre Fingernägel. In Smaragdgrün. Sexy.

»Hallo Conny«, sagt die Ältere ins Telefon. »Du, da ist einer, der mit der Personalchefin reden möchte«, …, »nein, hat er nicht«, …, »und er hat gefragt, ob wir jemanden im Haus haben, der schon bei der Pharmazie Berger beschäftigt war?«, …, »haben wir keinen«, …, »das habe ich mir gedacht«, …, »was?«, …, »Conny!«, …, »genau! Dass ich auf den nicht draufgekommen bin«, …, »keine Ahnung«, …, »gut, sag ich ihm. Bis bald –«, …, »ja, das war toll«, …, »müssen wir unbedingt. Ich geb dir Bescheid. Bis bald! Bussi, ciao!« Sie legt auf und sieht mich an.

»Also«, sagt sie. »Die Conny, die Vorzimmerdame unserer Personalchefin, ist seit einundzwanzig Jahren hier im Haus.«

»Also, seitdem Pharmason in Wien aufgesperrt hat«, kommentiere ich.

»Bei der Pharmazie Berger hat sie nicht gearbeitet. Der Erich, unser Haustechniker, der Erich Pospischil, feiert in zwei Wochen sein 35-jähriges Berufsjubiläum. Und der war schon bei der Pharmazie Berger.«

»Super. Wie finde ich ihn?«

»Der ist sicher gerade irgendwo im Haus unterwegs«, sagt die junge Fingernägelpinslerin, ohne aufzuschauen.

Da klingelt der Lift, der gerade im Erdgeschoß angekommen ist. Der liegt gut fünfzehn Meter entfernt von der Empfangsdamen-Fluchtkapsel. Automatisch schauen wir alle drei hinüber. Zwei Männer im Anzug steigen aus und ein älterer Herr im blauen Overall. Die beiden Anzugmänner gehen zum Ausgang. Der Herr im Overall kommt auf uns zu. Er hat einen dicken Handwerkergürtel, an dem Werkzeug baumelt.

»Na, die Damen? Wie hammas?«, sagt er und lächelt sie an.

»Das ist der Erich. Der Erich Pospischil. Der Haustechniker«, flüstert mir die Empfangsdame zu. Der lehnt sich an die Fluchtkapsel und begutachtet die Fingernägelmalerei.

»Aaah«, macht er. »Frisch gestrichen! Da hat die Bettina heute noch was vor.«

»Nichts Verbotenes«, sagt sie und schaut von ihren Fingernägeln immer noch nicht auf.

»Na, da bin ich mir nicht so sicher«, sagt Pospischil und lacht.

»Erich?«, versucht die andere Empfangsdame seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Der junge Herr hier würde gerne mit dir sprechen.«

»Herr Pospischil?«, frage ich.

»Sie suchen mich?«, sagt er auf einmal ganz aufgeregt. »Ich hab der Polizei schon alles gesagt. Mit der ganzen Sache hab ich nichts zu tun.«

Ich schaue ihn an. Anscheinend habe ich dabei einen so verwirrten Gesichtsausdruck, dass er und die beiden Damen losbrüllen vor Lachen.

»Hahaha, der Erich kanns heute wieder«, sagt die ältere Blondine.

»Kleiner Scherz«, sagt Pospischil. »Was brauchst?«

Ich erzähle ihm die Geschichte mit dem Pharmaartikel. Und, dass ich eben jemanden suche, der schon bei der Pharmazie Berger gearbeitet hat.

»Äh, dann, kommen S´ einmal mit in mein Kammerl. Da können wir in Ruhe plaudern.«

Herr Pospischil geht voran. Er geht nicht zum Lift, sondern zu einer Stiege, die nach unten führt.

»Das mit der Polizei war ein guter Schmäh«, sage ich auf dem Weg dorthin.

»Aber weit nicht mein bester«, sagt er und lacht. »Mit der, Äh…, Polizei hab ich, Gott sei Dank, seit fünfunddreißig Jahren nichts mehr zu tun gehabt.«

»Was war vor fünfunddreißig Jahren?«

Wir gehen die Stiege hinunter.

»Damals ist hier noch das, Äh…, alte Berger-Haus gestanden. Da hat sich einer vom obersten Stock runter gestürzt.«

»Selbstmord?«

»Ich war damals erst seit ein paar Monaten im, Äh…, Haus. Das war vielleicht eine Sauerei! Einen ganzen Nachmittag hab ich gebraucht, um den Gehsteig wieder sauber zu kriegen.«

»Das haben Sie machen müssen?«

»Tatortreiniger hat es damals noch nicht gegeben.«

»Wer war der Selbstmörder?«

Unten ist ein langer Gang. Bei der dritten Tür bleiben wir stehen. An der Tür steht »Erich Pospischil«. Darunter: »Facility Manager«.

Wir gehen in seinen Werkzeugraum. An den Wänden stehen Regale mit Kabeln, Steckdosen, Glühbirnen, sogar Rohre für Sanitäranlagen. Daneben hängen Werkzeuge an der Wand. Hinten im Raum steht ein Tisch mit einem alten Computer, Telefon, einer Kaffeemaschine und zwei Sesseln.

»Möchten Sie einen Kaffee?«

»Gerne.«

Er macht zwei Kaffee und stellt die beiden Tassen auf den Tisch.

»Sie haben vorhin von einem Selbstmörder erzählt. Wer war der?«

»Äh… DDr. Hermann hat er geheißen. Der hat damals die meisten Medikamente entwickelt. Der war damals angeblich der fähigste Mann im Haus.«

»Und dann stürzt er sich aus dem obersten Stock?«

Ich nehme den Kaffee und trinke einen Schluck. Pospischil kratzt sich am Hals.

»Genie und Wahnsinn liegen nah beieinander«, sagt er. »Der war angeblich ein, Äh…, ganz schwieriger Mensch.«

»Hatten Sie mit ihm zu tun?«

»Ich war, wie gesagt, erst seit ein paar Monaten im Haus. Habe ihn nur zwei- oder dreimal gesehen. Äh…, der war immer in seinem Labor.«

»Hat man einen Abschiedsbrief gefunden oder hat die Polizei –«

»Nein, nein«, sagt er und schüttelt den Kopf. »Das war völlig unklar warum der gesprungen ist.«

»Ist er vielleicht nicht freiwillig gesprungen?«

»Es hat damals ein Gerücht gegeben. Seinen zweiten Doktor hatte er in, Äh…, Gentechnik gemacht. Die war damals noch in den Kinderschuhen. Aber er hat angeblich in seinem Labor fleißig geforscht. Und es hat geheißen, er hätte schon damals mit dem, Äh…, Klonen einige Erfolge gehabt.«

»Aber das Klonschaf Dolly gab es erst 1997«, sage ich.

»Seine gentechnischen Arbeiten sind alle unter Verschluss geblieben. Nach seinem, Äh…, Selbstmord hatte niemand Interesse daran, seine Unterlagen aufzuarbeiten. Das war ohnehin schon schlimm genug für das Unternehmen. Hinter vorgehaltener Hand hat man gemunkelt, dass er sogar einen, Äh…, Menschen geklont haben soll.«

»Aber das ist noch heute verboten!«

»Das war nur ein Gerücht, das damals herumerzählt worden ist. Da muss nichts wirklich dran sein. Der DDr. Hermann ist ein sehr, Äh… , spezieller Charakter gewesen und nach seinem Selbstmord ist viel spekuliert worden.«

»Und Karl Berger?«, frage ich.

»Der Berger Karl. Ein feiner Herr.« Pospischil pfeift durch die Zähne. »Immer im Nadelstreif, immer, Äh…, etepetete. Der hat alle im Haus gekannt, mit allen geredet und alle gegrüßt – ganz anders wie heute …«

»Wie hat er auf den Suizid seines besten Mitarbeiters reagiert?«

»Das war für ihn ein schwerer Schlag. Äh…, er hatte es nicht leicht. Zuerst der Selbstmord von DDr. Hermann. Ein paar Jahre später ist seine Frau gestorben und dann ist es der Firma immer schlechter gegangen, bis er sie verkaufen hat müssen. Äh…, das war nicht einfach für ihn.«

»Warum ich eigentlich da bin: Ich habe zwei Filme zugespielt bekommen. Davon haben wir ein paar Fotoaufnahmen gemacht. Die möchte ich Ihnen zeigen. Vielleicht erkennen Sie jemanden darauf.«

»Vom Berger? Äh…, wie sind sie an die Filme gekommen?«, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Da bin ich selber noch am Recherchieren.« Natürlich habe ich die Filme von Claudia. Aber woher sie sie gehabt hat, weiß ich noch nicht.

Ich stelle meinen Laptop auf den Tisch, schalte ihn ein und klicke das Fotoordner-Icon an. Ich zeige ihm die Bilder. Er freut sich, als er den alten Berger und den Hörsaal sieht. Aber auf den anderen Fotos erkennt er niemanden.

Ich hatte große Hoffnungen in den Mann gesetzt. Aber er erkennt nur seinen alten Chef und den Hörsaal, den es im Pharmazie-Berger-Haus gegeben hat. Wie soll ich dahinter kommen, worum es in den Filmen geht, was da passiert und ob das, was passiert, irgendwie den Mord an Claudia erklären kann oder für meinen Job, für das Magazin verwertbar ist, wenn mir niemand weiterhelfen kann?

»Äh…, haben Sie vielleicht noch ein anderes Bild von dem?«, fragt er. Er hat lange auf das letzte Bild, den wild gestikulierenden Pfarrer, gesehen.

»Hm. Ich glaube nicht.«

In dem Ordner auf meinem Computer sind nur die Fotos, die ich ihm schon gezeigt habe. Ich klicke auf Mail und schaue noch einmal die Bilder durch, die mir Elisa geschickt hat. Da entdecke ich eine neue E-Mail von ihr. Mit einem weiteren Anhang. »Noch ein Bild. Hab ich vorhin vergessen«, hat sie dazu geschrieben. Ich klicke das Bild an: Das Gesicht des Pfarrers ganz nah.

»Ja …, Moment! Den kenne ich«, sagt Pospischil und beugt sich zum Bildschirm.

»Wer ist das?«

»… aber der Name …« Er krazt sich an der Stirn.

»Versuchen Sie sich zu erinnern.«

»Vincent!« ruft er und deutet auf das Foto. »Genau! Auf dem Bild, das ist der Vincent! Der Bruder Vincent!«

»Bruder Vincent?«

»Das ist Bruder Vincent, ganz sicher!«

»Wer ist Bruder Vincent?«

»Äh…, zehn Minuten von hier ist ein Kloster. Als ich beim Berger angefangen habe, wurde das renoviert. Aber die Elektriker haben gepfuscht. Dann habe ich es gerichtet. Der Vincent war der – na, wie sagt man – ich weiß es nicht mehr, welchen Titel er gehabt hat. Äh…, er hat sich um die wirtschaftlichen Angelegenheiten dort gekümmert.«

»Wissen Sie, ob Bruder Vincent noch in dem Kloster ist?«

»Das weiß ich nicht. Ich war ein paar Mal drüben und habe was repariert. Und ihm dann gesagt, wenn sie einmal was brauchen, sollen sie sich wieder bei mir melden. Äh…, ein halbes Jahr später hat sich dann ein anderer Bruder gemeldet. Bruder Vincents, Äh…, Nachfolger. Der hat mich nur einmal angerufen. Vielleicht hat ihm irgendwas an meiner Art oder meiner Arbeit nicht gepasst. Der war ein bissl ein Komiker. Seitdem war ich nicht mehr drüben.«

»Wie komme ich ins Kloster?«

»Rechts einfach die Straße hinunter. Äh…, zehn Minuten lang. Dann stehen Sie davor.«

»Na dann werde ich mich aufmachen«, sage ich und klappe meinen Laptop wieder zusammen.

Pospischil bleibt sitzen. Ich verabschiede mich und bin schon auf dem Weg zur Tür.

»Bevor ich es vergesse: Falls Ihnen noch etwas einfällt.« Ich krame in meiner Umhängtasche und ziehe eine verbogene Visitenkarte heraus, biege sie zurecht und gebe sie ihm. »Das ist meine Handynummer. Da bin ich immer erreichbar.«

Normalerweise bin ich nicht so der Visitenkartentyp, der seine Karten austeilt. Da gibt es welche, die bei der Tür hereinkommen und als erstes gleich einmal allen ihre Karten in die Hand drücken. Zu neunundneunzig Prozent landen die mir in die Hand gedrückten Visitenkaraten im nächsten Papierkorb. Ich hoffe, dass Pospischil das nicht auch so tut.

Jesses Erbe

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