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ОглавлениеZehn Minuten vor sieben Uhr stehe ich in der Fasangasse. Mal schauen, was die Filme hergeben. Ich läute bei Top 38 an. Sofort meldet sich eine Mädchenstimme:
»Ja?«
»Ich bin‘s. Hanno.«
»Hi.«
Im gleichen Augenblick surrt der Türöffner und ich trete durch das schwere Holztor des Gründerzeithauses ein. Hinten in der Einfahrt finde ich die Stiege und im dritten Stock die Tür mit der Nummer 38. Ich läute erneut. Eine Sekunde später öffnet sich schon die Tür. Elisa strahlt mich an. »Hi«, sage ich. Sie zieht mich hinein.
»Hallo«, sagt ein zweites Mädchen, das gerade am Herd steht und kocht. »Ich bin Bernadette.«
Die hat was, denke ich, eigentlich interessanter als Elisa. Ich grüße zurück, aber sie wendet sich gleich wieder ihrem Kochtopf zu.
»Wir teilen uns die WG«, erklärt Elisa.
»Hab ich mir gedacht. Ich hab die Filme mit«, sage ich und tippe auf meine Tasche.
»Komm!«
Hier, in der Küche, die eigentlich ein großes Vorzimmer ist, gibt es drei Türen. Elisa lenkt zur mittleren und öffnet sie in einen großen Raum. Rechts steht ein Bett, an den Wänden befinden sich Regale und Kästen und in der Mitte des Zimmers steht ein Phonomöbel mit einem Fernseher drauf. Nicht der größte, aber ein Flatscreen. Davor hat sie auf einer Kiste den Super-8-Projektor aufgestellt. Ebenfalls einer mit Bildschirm. An der Wand lehnen zwei große Polster zum Sitzen.
»Da«, sage ich und gebe ihr die Filme in die Hand.
Elisa geht wortlos zum Apparat und bückt sich hinunter, um den ersten Film mit der Nummer Zwei einzuspannen.
»Hab gestern erst einen Film geschaut. Mein Projektor funktioniert hundertprozentig! Mit der Kamera können wir ein paar Hotspots abfotografieren.« Sie deutet auf die Spiegelreflex, die daneben am Boden liegt.
»Perfekt. Habe mich schon gefragt, wie wir das Filmmaterial auf meinen Laptop kriegen.«
»Digitalisieren geht auch irgendwie. Aber das kann ich nicht.«
»Wenn wir ein paar Bilder davon machen können, ist das schon super. Übrigens hat mich vorhin der Chef angerufen, ob ich die Filme bereits gesehen habe.«
»Dem kann auch nichts schnell genug gehen. Manchmal hat der richtig Torschlusspanik«, sagt sie und verzieht ihr Gesicht.
Ich setze mich auf einen Polster.
»Magst du was trinken? Rotwein?«, fragt sie.
»Gerne«, sage ich.
Sie verschwindet kurz aus dem Zimmer und kommt mit zwei bauchigen Gläsern und einer Flasche zurück.
»Haben wir zwar schon vorhin aufgemacht, ist aber noch fast voll.«
»Dekantiert, quasi.«
»Genau«, sagt sie und schenkt uns beiden ein.
»Na dann, Prost.«
»Auf den Film!«
Ich nehme einen Schluck. Ich kenne mich mit Weinen nicht besonders aus. Weiß nicht, wann einer eine Blume hat oder noch ein bisschen Säure vertragen könnte. Und kann auch all die Geschmacksnoten nicht herausschmecken, auf die man bei einer Weinverkostung aufmerksam gemacht wird. Ich kann nur unterscheiden zwischen einem Wein, der mir schmeckt und einem, der mir nicht schmeckt. Das ist ein richtig guter Roter. Elisa startet die Filmvorführung und setzt sich auf den Polster neben mir.
»Na dann schauen wir mal …« Der Bildschirm ist hell. »Meine Lampe funktioniert«, sagt sie und strahlt.
Dann kommt ein Bild. Ein Hörsaal. Ein älterer Herr mit grau melierten Haaren schiebt gerade die Tafel hinauf. Auf der Tafel ist irgendwas. Ein Bild? Ein Bild von irgendetwas.
»Halt!«, rufe ich. »Können wir noch einmal starten? Da war was an der Tafel.«
»Okay.« Elisa geht zum Gerät, spult den Film zurück und startet ihn erneut.
Wieder rutscht gerade die Tafel hinauf. Man sieht das, was darauf ist nur zur Hälfte und kann es nicht erkennen, weil die Tafel in Bewegung ist. Irgendwas langes Dünnes. Dann wendet sich der Vortragende den Hörern zu. Gesehen hat man die zwar noch nicht, aber ich nehme an, dass jemand im Hörsaal sitzt. Der Mann spricht, macht seinen Mund auf und zu. Aber man hört nichts.
»Ist der Ton an?« frage ich.
»Ton ist voll an«, sagt sie. »Ältere Super-8-Filme haben keine Tonspur.«
Kein Ton? Das kann mühsam werden.
»Kennst du den?«, fragt Elisa.
»Noch nie gesehen«, antworte ich. »Den Hörsaal kenn ich auch nicht.«
Die Kamera fährt nach links, nach rechts und zoomt in der Mitte hinunter, fährt wieder zurück. In den Bankreihen sitzen etliche Leute. Ihre Haare sind grau.
»Die schauen nicht wie Studenten aus«, sagt Elisa. »Eher Seniorstudenten. Das Bild ist aber so verschwommen.«
Die Auflösung ist schlecht. Das habe ich schon vermutet. Natürlich kein gestochen scharfes HD- oder 4K-Bild. Nicht einmal PAL. Das Bild rauscht viel schlimmer. Die Farben wirken unecht, Details erkennt man so gut wie gar nicht.
»Liegt es an den alten Leuten, den Farben oder der grottenschlechten Auflösung, dass man denkt, der Film muss schon uralt sein«, sagt Elisa.
»Ich glaube, der ist uralt. Wer würde denn heute auf die Idee kommen, einen Film in der Qualität zu drehen?«
»Es gibt ein paar Künstler …«
»Künstler! Die setzen wohl auf die Ästhetik des Rauschens.«
»Da geht es mehr um den Inhalt der Filme.«
»Den man nicht erkennt, weil das Bild so schlecht ist?«, spotte ich.
»Hach! HD, 4K, HDR, 3D – das sind doch nur Kürzel für die Werbewelt.«
»Du bist ja eine richtige Fernsehtechnikerin …«
»Nicht wirklich. Ich habe nur ein Praktikum bei einem Technikmagazin gemacht.«
»Wann? Du bist bei uns Praktikantin?«
»Davor. Ich will viele Dinge ausprobieren.«
Ich frage nicht, ob sie vielleicht noch andere Praktika hinter sich hat. Zuzutrauen wäre es ihr. Was habe ich mit zweiundzwanzig gemacht? Ich bin von einem Studentenheimfest zum nächsten getorkelt. Ausprobiert habe ich, ehrlich gesagt, damals auch nicht viel. Ein paar Mal, wieviel Wodka in mich reingeht.
»Mach einmal ein Foto von dem alten Mann.«
Elisa nimmt ihre Kamera, zoomt und klickt. Der Vortragende macht seinen Mund auf und zu. Das erinnert an einen Fisch in einem Aquarium.
»Kannst du Lippenlesen?« frage ich.
»Nein«, sagt Elisa. »Ich denke, dass sich auch ein professioneller Lippenleser bei der Auflösung schwer tun wird. Da sieht man nur, dass der den Mund auf und zu macht. Genaue Lippenbewegungen aber nicht.«
Ich kenne niemanden, der sich auf das Auslesen derartiger Stummfilme spezialisiert hat. Und ein Lippenleser von der Polizei ist womöglich schwierig zu bekommen. Ich nippe wieder am Wein. Der ist nicht nur gut, der wird auch immer besser. Drum nippe ich nicht mehr, sondern trinke jetzt.
Im Film bewegt sich wieder was. Das heißt der alte Mann bewegt sich. Er dreht sich um und zeigt mit der Hand zur Tafel, die er vorhin nach oben geschoben hat. Leider ist die nicht im Bild. »Ein toller Kameramann«, bemerke ich. Aber dann fährt die Kamera doch langsam nach oben. Ganz langsam wandert das Bild, das noch immer den Mann zeigt, hinauf. Da kommt die Tafel. Dann ist der Rand des Bildes, das daran befestigt ist, zu erkennen. Ein Stückchen noch nach oben. Noch ein Stückchen. Noch ein Stückchen. Dann bleibt die Kamera in Position.
»Was ist das?«, fragt Elisa.
»Keine Ahnung. Das ist lang und spitz …«
Von dem Bild an der Tafel sieht man nur die untere Hälfte. Die Kamera zoomt nicht hin, man sieht nur ein Stück von einem spitzen, grauen Ding.
»Warum fährt die Kamera nicht noch ein Stückchen nach oben?«, frage ich.
»Vielleicht hat der Kameramann das Ding vorher schon die ganze Zeit gefilmt. Wir haben ja nur Teil zwei und drei der Trilogie.«
»Halten wir einmal fest«, sage ich. »Da sitzen ältere Leute in einem Hörsaal, ein Mann mit graumelierten Haaren trägt etwas vor. Anscheinend geht es um das Ding an der Tafel, das wir leider nur zur Hälfte sehen können …«
In diesem Augenblick wird der Bildschirm des Apparates weiß.
»Film zu Ende«, sagt Elisa und krabbelt nach vorne, um die Filme zu wechseln. Eigentlich gar nicht so uninteressant, wie sie sich bewegt. Aber ich bin nur zum Filmschauen da.
Der zweite Film läuft an. Man sieht wieder den Vortragenden.
»Wer ist der Kerl?«, frage ich.
»Vielleicht ein Uni-Professor. Oder ein Arzt.«
Im Film fährt die Kamera wieder durchs Publikum. Sie zoomt auf einige Zuhörer, die Auflösung ist aber so schlecht und weil die Leute nur nach vorne schauen, sind keine Gesichter zu sehen. Keiner schaut in die Kamera oder macht irgendwelche Späßchen. Alle Köpfe sind stur nach vorne gerichtet. Zum Vortragenden, zum negativen Podium des Hörsaals. Jede Bühne, auf der eine Zwei-Mann-Schlager-Kombo »Du hast mich tausendmal belogen« spielt, ist erhöht. Doch das Wissen wird weltweit in Hörsälen vermittelt, in denen der Vortragende und somit der, der das Wissen besitzt, unten ist. Und die Nicht-Wissenden oben sind. Darüber sollte man einmal nachdenken.
»Mach bitte doch ein Foto von den Zuhörern. Obwohl man sie nur von hinten sieht.«
»Okay.«
Elisa krabbelt wieder zum Apparat, lässt den Film ein Stückchen zurück, dann wieder normal ablaufen. Und macht ein Bild von den Hörern. Auf einmal hebt der Vortragende seine rechte Hand.
»Der macht jetzt aber keinen Hitlergruß?«, sagt Elisa empört.
»So alt ist der Film auch wieder nicht.«
»Aber das könnten doch Altnazis sein, die sich da zusammengerottet haben.«
»Ich bin sicher, dass die Leute dann irgendwann gemeinsam ein altes, verbotenes Lied gesungen hätten, um der konspirativen Runde eine gewisse feierliche Stimmung zu verleihen.«
»Wir haben ja keinen Ton«, sagt Elisa.
»Wenn die ein Lied gesungen hätten, hätten wir das gemerkt. Und die Kamera hätte das singende, womöglich dabei stehende, Publikum gezeigt.«
»Vielleicht haben sie das im ersten Teil gemacht.«
»Vielleicht.«
»Darum haben wir den auch nicht.«
Haben wir ihn deswegen nicht? Warum war in dem Kuvert keine Filmspule mit einer Eins drauf? Der Vortragende macht ein paar Schritte zur Seite.
»Da ist was«, rufe ich. »Kannst du kurz anhalten?«
»Yepp.«
Elisa krabbelt erneut zum Apparat und drückt einen Knopf, der Film stoppt. Dort, wo der Mann die ganze Zeit gestanden hat, ist jetzt etwas an der Wand zu erkennen.
»Foto!«
»Was ist das?«, fragt Elisa während sie knipst.
»Ein Graffiti ist es nicht. Vielleicht irgendein Wappen, ein Logo?«
»Für ein Wappen hat es nicht die übliche Schildform.«
»Dann ein Firmenlogo. Irgendwie kommt mir das Zeichen bekannt vor. Aber keine Ahnung woher.«
Jetzt fährt die Kamera von dem alten Mann in den Publikumsbereich. Ein Mädchen steht auf und geht die Stufen hinunter. Der alte Mann nimmt ihre Hand und führt sie in die Mitte des Podiums. Es sieht so aus, als würde er sie vorstellen.
»Vielleicht ist das seine neue Assistentin? Ich mache ein Foto.«
»Und er ist Archäologieprofessor. Gemeinsam waren sie auf Expedition und haben dieses komische Ding, das wir nur zur Hälfte gesehen haben, gefunden. Aufgabe fertig, Rätsel um den Stummfilm gelöst.«
Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese junge Frau nur die Assistentin des alten Herren ist und sie deshalb vor dem Publikum vorgestellt wird. Assistenten sind nur der Schatten der Leute, die im Licht stehen.
»Aber irgendwer muss sie sein, sonst hätte sie der Kerl nicht nach vorne geholt«, sagt Elisa.
Ja, irgendwer muss sie sein. Irgendwer muss auch der Kerl sein. Irgendetwas muss auch das Ding an der Tafel sein. Und irgendetwas muss hinter diesen Rätseln stecken, sonst hätte ich die Filme gar nicht von Wolfgang bekommen. Worum geht es darin? Woran war Claudia dran? Warum hat sie mir die Filme überhaupt zukommen lassen? Ich muss das wissen. Ich trinke mein Glas aus. Guter Stoff. Elisa schenkt nach.
»Das Mädchen dürfte recht schüchtern sein«, sagt sie. »Es windet sich richtig im Rampenlicht.«
Der jungen Frau scheint die Aufmerksamkeit, die sie jetzt hat, nicht zu gefallen. Sie hält ihren Kopf die ganze Zeit gesenkt und schaut nur hin und wieder kurz ins Publikum.
»Vielleicht wollte das Mädel nicht auf die Bühne. Bekannt werden …«, sagt sie.
»Oder es hat davor noch nie auf einer gestanden.«
Es sieht so aus, als würde der alte Mann etwas erklären. Etwas, das mit dem Mädchen und dem Ding auf dem Bild zusammenhängt. Er schaut dabei immer wieder zur Tafel. Aber wenn das Mädchen davor noch nie auf einer Bühne, vor Publikum gestanden hat und sich dabei sichtlich unwohl fühlt, warum tut der Alte ihr das an? Warum will er den Leuten im Saal, seinen Freunden oder Geschäftspartnern – oder wer auch immer die sind – das junge Ding überhaupt vorstellen? Was haben diese Leute davon?
Das Bild ruckelt, als hätte jemand gegen die Kamera gestoßen.
»Was ist jetzt?«, schreckt Elisa auf.
Die Kamera schwenkt vom Vortragenden schnell ins Publikum. Dort steht ein schwarz gekleideter Mann und fuchtelt mit den Armen. Er scheint sehr wütend zu sein und etwas in Richtung des alten Mannes und des Mädchens zu schreien.
»Der regt sich aber ordentlich auf.«
»Mich würde interessieren, was der schreit«, sage ich. »Hast du ihn schon geknipst?«
Die Kamera schwenkt zurück zum Podium. Der alte Mann ist völlig ruhig, das Mädchen scheint verwirrt, rauft sich die Haare und hält sich die Ohren zu.
»Anscheinend passt dem Typen irgendwas nicht. Und dem Mädchen passt nicht, dass der sich so aufregt.«
»Dann wird der alte Mann auch kein Archäologieprofessor sein. Und das Mädchen nicht seine Assistentin«, räumt Elisa ein.
Die Kamera schwenkt wieder zum Störenfried ins Publikum. Der hat sich aus seiner Bank gedrängt und bewegt sich in Richtung Kamera.
»Na, jetzt gibt’s Action«, sagt Elisa.
Der schwarzgekleidete Mann, der ganz unten gesessen ist, springt auf eine Bank, dann auf ein Pult und weiter von Pult zu Pult nach oben. Die Leute um ihn herum schrecken zur Seite.
»Ist das ein Pfarrer?«, fragt sie.
Er hat einen weißen Kragen. Jetzt sieht man das große Kreuz, das er um den Hals trägt. Der Mann ist der Kamera schon ganz nahe gekommen.
»Noch ein Bild!«, rufe ich.
»Was hat der vor?«
In dem Augenblick erreicht der Mann im Film die oberste Sitzreihe des Hörsaales. Er brüllt irgendetwas und holt mit der Hand aus. Dann ist der Bildschirm dunkel, die Aufzeichnung zu Ende.
»Was war das jetzt?«, fragt Elisa.
»Das jüngste Gericht für die Kamera.«
»Und von wegen: Da ist ein weißes Licht am Ende des Tunnels. Wenn eine Kamera stirbt, ist der Bildschirm schwarz.«
»Auf der Rolle ist sonst nichts mehr drauf?«, frage ich.
Wir lassen den Film bis zum Ende durchlaufen. Aber der Bildschirm bleibt dunkel. Unverbrauchtes Filmmaterial.
»Gibst du mir einmal die Kamera?«
Elisa reicht mir die Spiegelreflex. Auf dem kleinen Monitor klicke ich die Bilder der Filme durch. Recht gut geworden sind sie nicht. Ziemlich dunkel. Aber man erkennt darauf, worum es geht.
»Ich kann sie dir auf dein Handy schicken?«, sagt sie.
»Schick sie mir via E-Mail. Ich hätte sie lieber auf meinem Laptop.«
Viel haben wir nicht in Erfahrung bringen können. Die Leute, die in dem Film vorkommen, kenne ich nicht. Und so alt wie das Filmmaterial ist, dürften die meisten schon verstorben sein. Was die ganze Sache nicht einfacher macht. Der einzige Anhaltspunkt ist dieses Firmenlogo. Das kommt mir bekannt vor. Aber keine Ahnung woher. Vielleicht weiß der Chef was damit anzufangen, wenn ich ihm morgen die Bilder zeige.
»Magst du noch Wein?«, fragt Elisa. »Gerne«, sage ich.
Zwei Stunden später ziehe ich mich wieder an und fahre nachhause.