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Am nächsten Tag bin ich erst am späten Vormittag in der Redaktion. Ich habe alles erledigt und keinen Stress. Und auch schon über ein paar Themen für die nächsten Ausgaben nachgedacht.

Da gibt es diese Klinik auf den Malediven. Plastische Chirurgie für Fortgeschrittene. Medizinisch ist dort alles möglich. Etwa Implantate am Hinterkopf zur Kühlung des Gehirns und Steigerung der Synapsentätigkeit oder Schwimmhäute an Händen und Füßen, um schneller schwimmen zu können. Ein interessantes Thema, wobei die Internetseite nur ein Fake und alles von einem Künstler erfunden worden ist. Auch ist das ein bisschen zu eng verwandt mit meinem Cyborg-Thema in der aktuellen Ausgabe. Notiert habe ich es mir trotzdem.

Auf einer anderen Seite im Internet habe ich einen Artikel über das Ende der Physik gefunden. Physik hat mich zwar noch nie interessiert, aber warum ist sie am Ende? Ich habe mich ein bisschen durch den Artikel gelesen. Die Physiker sind schon immer auf der Suche nach einer Weltformel. Und die Stringtheorie liefert unendlich viele Lösungen und ist somit gescheitert. Ein schwieriges Thema. Mal schauen.

Auch interessant ist noch die Gladiatorenausbildung in Rom. In einer kleinen Arena an der Via Appia kann man sich zum antiken Kämpfer ausbilden lassen. Will ich mit Tunika und Sandalen in diese Arena? Warum nicht? Könnte witzig werden.

In den Redaktionsräumen herrscht reger Betrieb. Alle Kollegen starren in ihre Computer, sind tief in ihre Geschichten eingetaucht. Sie nehmen mich gar nicht richtig wahr, als ich zur Tür hineinschaue und »Hallo« sage. Da kommt kein »Na, auch schon da?« oder »Harte Nacht gehabt?« Man hört nur das Hämmern in die Tastaturen. Sonst ist es still. Elisa sehe ich nicht auf ihrem Platz. Vielleicht besser so. Ich hole mir einen Kaffee und gehe in mein Büro.

Besonders glücklich bin ich über meine neue Errungenschaft nicht. Was heißt Errungenschaft? Besser gesagt: Ich habe Elisa einen lange ersehnten Wunsch erfüllt. So fühlt es sich jedenfalls an. Dass das passieren würde, hat irgendwie schon die ganze Zeit im Raum gestanden. Ihre Wohnung, ihr Zimmer, ihr Bett. Und noch der gute Wein. Man könnte fast meinen, sie hätte das Ganze arrangiert, damit ich … mal langsam: Sie gehört zu einer kleinen Gruppe von Leuten, die so ein altes Abspielgerät besitzen. Woher hätte sie aber die Filme hernehmen sollen? Hat sie die vielleicht irgendwo gefunden und an Claudia geschickt? Mit der Bitte, sie mir zukommen zu lassen, falls Claudia irgendwas passiert? Dann hätte Elisa Claudia umgebracht und wäre ins Büro eingebrochen, nur um mich in die Horizontale …? Nein, das kann nicht sein. Sie hat einfach nur den Projektor bereitgestellt. Das wars.

Ich lehne mich im Sessel zurück und trinke in Ruhe meinen Kaffee. Soviel Zeit muss sein. Danach nehme ich den Laptop unter den Arm und gehe zum Chef hinüber. Seine Bürotür ist verschlossen.

»Wo ist er denn?«, frage ich Peter, der gleich neben der Tür zum Chefbüro sitzt.

»Sitzung mit der Geschäftsführung.«

»Da wird er danach wieder eine besonders gute Laune haben«, sage ich.

»Besser, ihm heute aus dem Weg gehen.«

»Geht nicht. Muss dringend mit ihm sprechen.«

Ich will, dass er sich die Fotos von den Filmen anschaut. Vielleicht erkennt er irgendwen oder irgendwas darauf. Einem anderen mag ich sie nicht zeigen. Noch nicht. Bisher wissen nur der Chef, Elisa und ich von den Filmen. Ich weiß nicht, ob Wolfgang gewusst hat, was in dem Päckchen drinnen ist, als er es mir gegeben hat. Ich gehe wieder zurück in mein Büro. Da liegen noch immer Claudias Aktenordner herum. Der gleiche Wirr-Warr wie gestern. Da hat noch niemand zusammengeräumt. Ich hebe einen Ordner auf. Spesenabrechnungen, Honorarnoten und ausgedruckte E-Mails. Wusste gar nicht, dass Claudia eine E-Mail-Ausdruckerin war. Aber halt! Da steht mein Name!

In meiner Abwesenheit soll Hanno mich vertreten.

Die E-Mail schrieb sie vor vier Jahren. Damals war sie ein paar Monate auf Recherche in Südamerika. Adressat ist der Chef. Also hatte Claudia schon vor langer Zeit eine gute Meinung von mir. Dass sie mich sogar dem Chef als ihre Vertretung vorgeschlagen hatte, wusste ich gar nicht.

Dann höre ich jemanden im Redaktionszimmer poltern. Der Chef ist zurück. Er schreit irgendwas, das ich nicht verstehe. Wegen Verkaufsschwächen im Kiosk, Werberückgängen und den Ideen der Anzeigenheinis hat er sicher schlechte Laune. Ich warte deshalb lieber noch fünf Minuten.

Elisa ist noch immer nicht da. Vielleicht hat sie irgendwo einen Interviewtermin. Mit dem Laptop unter dem Arm schlendere ich erneut zum Chefbüro hinüber. Peter schaut mich mitleidig an. Egal. Ich klopfe an und trete ein.

Vor mir sitzt ein kleines Männchen, das sich hinter seinem großen Schreibtisch verkriecht.

»Sitzung gehabt?«, frage ich und heuchle ein wenig Interesse am finanziellen Zustand unseres Unternehmens.

»Was gibt’s?« Der Chef schaut nur kurz von seinem Computer auf und will anscheinend nicht darüber reden. Umso besser.

»Die Filme. Ich habe sie angesehen.«

»Wer hat denn heute noch so ein altes Gerät?«

»Elisa. Von ihrem Vater.«

»Elisa.« Er schmunzelt.

Er hat mich damals bei der Weihnachtsfeier mit ihr eng umschlungen gesehen. Wie die ganze Redaktion übrigens. Ich will nicht, dass er auf dumme Gedanken kommt und nachfragt. Daher sage ich gleich:

»Der Film muss vor dreißig oder vierzig Jahren aufgenommen worden sein. Leider gibt es keinen Ton.«

»Weißt du, worum es darin geht?«

»Keine Ahnung. Aber wir haben von den Hotspots Fotos gemacht.«

»Fotos, abfotografiert von einem Super-8-Film?«

»Keine technische Meisterleistung, ich weiß. Aber ich habe sie mit.«

»Zeig einmal her.«

Ich stelle den Laptop ab, öffne ihn, klicke auf das Icon des Fotoordners und zeige ihm das Bild des alten Vortragenden.

»Das ist …, das ist …, den kenn ich!«, sagt der Chef.

Weil aber von ihm nichts mehr kommt, drücke ich zum Bild mit den Leuten im Saal.

»Die kenne ich nicht. Weiter«, sagt er.

Dann das Logo an der Wand.

»Moment. Das ist das Firmenlogo von …, von …, von …«

Ich zeige ihm auch noch das Mädchen und den Pfarrer.

»Die beiden kenne ich nicht. Aber der Typ – das ist ein Pfarrer, oder? Der ist ganz schön in Fahrt.«

Ich öffne die Bilder einzeln und platziere sie nebeneinander.

»Genau … Das ist der Chef der Firma!« sagt er und deutet auf das Bild des Vortragenden und auf das Logo. »Das war irgendein Pharma-Unternehmen in Wien. Ich hab in meinen Anfangsjahren einmal ein Interview mit dem Kerl gemacht. Wie hat der geheißen? Und wie die Firma?«

Der Chef klopft mit dem Zeigefinger auf seine Nasenspitze. Er denkt angestrengt nach. Das sieht man ihm an. Normalerweise beim Deligieren oder Zurechtstutzen hat er ein völlig unnahbares Befehls-gehabe. Jetzt ist er ein ganz anderer Mensch. Er will mir helfen. Ich fühle mich plötzlich gleichgestellt … Er gibt die Themen vor, ich schreibe die Artikel. Ganz einfach. Und am Abend gehen wir gemeinsam auf ein Bier. Ein ganz normaler Mensch. Ein netter Kerl. Eigentlich. Der Chef.

»Fällt mir jetzt der Name nicht ein. Wiener Pharmaunternehmen. Da findest im Google sicher was. Bitte, danke.«

Vielleicht sollte ich mir das mit dem Bier noch einmal überlegen.

Wieder zurück in meinem Büro tippe ich »Wiener Pharmaunternehmen« in die Google-Suchzeile. 156.000 Treffer. Zu viele. Ich klicke die Bildersuche an. Bilder von Logos, sterilen Glashäusern, weißen Kitteln in Labors. Aber das eine Logo, das ich suche, ist nicht dabei. Ich scrolle runter. Nichts. »Weitere Bilder öffnen?« Natürlich. Als ich zum dritten Mal den Button anklicke, fällt mir ein Satz eines Internetmenschen, den ich einmal interviewt habe, ein. »Die dritte Seite der Google-Suche ist die unnötigste im ganzen Netz«, hat der damals gesagt. Weil sie niemand anschaut. Ich scrolle weiter hinunter. Plötzlich ist da ein Logo, das genauso aussieht, wie das Logo in dem Film. Ich klicke drauf. Das Bild poppt auf. Darunter steht: »Pharmazie Berger«. Das muss der Name des Unternehmens sein!

Ich tippe »Pharmazie Berger« in die Suchzeile. Deutlich weniger Treffer. Wikipedia-Eintrag gibt es keinen, Facebook-Seite auch nicht. Nicht einmal eine Homepage. Vielleicht ist es ein altes Unternehmen und heißt jetzt anders. Viele Treffer führen zu Medikamenten, die heute von anderen Firmen hergestellt werden. Eine Firma wird besonders oft genannt: Pharmason. Das ist doch dieser weltweite Pharmakonzern, der auch eine Niederlassung in Wien hat. An dem hässlichen Gebäude bin ich schon öfter vorbeigefahren. Wieder auf Seite drei finde ich einen zwanzig Jahre alten Artikel einer Wiener Tageszeitung, der irgendwann eingescannt und ins Netz geladen wurde. Dieser Seite-drei-Internetmensch, dessen Name ich vergessen habe, muss ein Idiot sein. Ich klicke den Artikel an. Ein Bild eines Hauses ist zu sehen. Darauf sieht man zwei Männer, die gerade die Buchstaben von »Pharmazie Berger« an der Hauswand befestigen. Es könnte auch sein, dass sie diese abmontieren. So ist es, denn die Schlagzeile darunter lautet: »Pharmazie Berger an Pharmason verkauft.«

Daher also die vielen Pharmazie Berger Medikamente von Pharmason. In dem Artikel steht, dass es nach langen Jahren sinkenden Umsatzes und vielen Restrukturierungsmaßnahmen der Firma nicht gelang, gegen die Globalisierung der Pharmaindustrie als kleiner, lokaler Produzent anzukommen. Der Gründer sei untröstlich, dass er sein Lebenswerk aufgeben müsse. Über dreihundert Angestellte würden ihren Job verlieren und so weiter und so fort. Ganz unten ist ein kleines Bild, das einen alten Mann zeigt. Es ist der gleiche, wie der Vortragende im Hörsaal in den Filmen. »Gründer Karl Berger« steht neben dem Foto.

Na, bitte! Geht doch! Ich überlege kurz, ob ich dem Chef eine E-Mail schreiben soll. Tippe aber schon »Pharmazie Berger« und »Karl Berger« in die Suchzeile. Wieder wenige Treffer. Diesmal auf Seite vier finde ich die Firmengeschichte. Die Eltern von Karl Berger hatten eine Apotheke. Sie brauten im Hinterzimmer Medikamente selbst zusammen. Mit der Zeit wuchsen Nachfrage und Geschäft, sodass der Sohn, Karl, als er die Apotheke in den 1950er Jahren übernahm, sich nach größeren Räumlichkeiten umschaute. Er übersiedelte in ein neues, großes Gebäude und gründete ein Pharmaunternehmen. Ein Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. Darunter steht noch ein langer Absatz über die Medikamente, die im Labor der Firma entwickelt wurden, den ich aber nur überfliege. Die immer stärkere Konkurrenz machte Berger zu schaffen. Dass mit der Globalisierung billige Medikamente von Übersee hierher den Weg finden würden, hatte er nicht geglaubt. Er war ein Mann vom alten Schlag. Der Markt wurde schließlich überschwemmt und Berger musste verkaufen.

Viel mehr ist von der Firma nicht im Netz zu finden. Karl Berger gibt es viele, aber über den gescheiterten Wiener Pharmamenschen finde ich nichts mehr auf den nächsten Seiten. Wonach soll ich jetzt suchen? Moment! Was mache ich da eigentlich? Meine Arbeit für die aktuelle Ausgabe ist erledigt. Ich habe bis nächsten Dienstag in der Redaktion nichts zu tun. Habe eigentlich Urlaub. Und jetzt soll ich mich mit diesem Filmrätsel beschäftigen? Das hat er sich wohl so gedacht, der Chef. Aber ich will selber wissen, was dahinter steckt. Auch wegen Claudia. Vor allem wegen Claudia. An dieser Sache muss etwas dran sein. »Was großes«, hat sie selbst dem Chef gesagt. Aber was? Wie kriege ich jetzt noch mehr Infos zu meinen Filmen? Das Mädchen und der Pfarrer. Die kennt keiner. Und das komische Ding an der Tafel? Vielleicht hat das irgendetwas mit den Habsburgern zu tun. Wien und Habsburger ist normalerweise immer ein Treffer. Aber wo fange ich zum Suchen an? In der Kapuzinergruft? In der Hofburg? Und der Hörsaal? Es ist eigentlich egal, wo dieser Vortrag stattgefunden hat. Ich beschließe, Pharmason, dem Nachfolgeunternehmen der Pharmazie Berger, einen Besuch abzustatten. War Claudia etwa dran, einen Pharmaskandal aufzudecken?

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