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ОглавлениеIch war noch nie in einem Kloster, denke ich. Vielleicht einmal in einem stillgelegten bei einer Ausstellung. Aber so richtig eben noch nicht. Obwohl ich schon ein paar Mal über einen Urlaub in einem Kloster nachgedacht habe. Eine Fastenwoche. Eine Woche Stille. Einkehr. Fernab von Computer, Telefon, Arbeit. Zur Entschleunigung – das wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Da kommt man sicher ganz geläutert heraus und widmet sich danach den wirklich wichtigen Dingen im Leben.
Die wirklich wichtigen Dinge … Welche sind das? Job, Geld, Familie? Momentan läuft bei mir im Job nicht alles rund. Hatte schon bessere Zeiten. Als ich bei dem Magazin eine Titelstory nach der anderen runtergetippt habe, hatte ich das Gefühl auf einer Anerkennungswolke durch das Leben zu schweben. Alles war so leicht und ist mir zugeflogen. Jetzt kümmere ich mich vor allem um den Kleinkram. Was nicht heißt, dass ich bei der nächsten Sitzung nicht eine Bombenidee auf den Tisch werfen und wieder zu alter Größe aufsteigen kann. Leserbrief habe ich schon lange keinen mehr bekommen. Keine Ahnung, ob die Leute meine Artikel mögen. Oder ob sie, wenn sie sich das Magazin kaufen, gezielt nach meinem Namen suchen, um sich als erstes gleich meine Geschichten reinzuziehen. Die Anzeigenheinis nennen unsere Leser »Zielgruppe«. Als Pazifist lehne ich diesen Begriff natürlich ab. Das Geld, das ich mit meiner Arbeit verdiene, könnte auch ein bisschen mehr sein. Aber Geld kriegt man immer zu wenig. Was die Familie angeht – natürlich habe ich eine Familie: Einen Vater, eine Mutter, eine Schwester. Auf der Suche nach einer geeigneten Partnerin bin ich seit zwanzig Jahren.
Vor mir liegt ein langgestrecktes Gebäude in Schönbrunn-Gelb. Ein Schild neben oder an dem großen Eingangstor gibt es nicht. Anscheinend legt niemand Wert darauf, sich auf einer Messingplakette der Welt hier heraußen zu präsentieren. Aber das muss das Kloster sein. Neben dem Tor ist eine Glocke. Ich läute an. Warte. Nichts. Ich drücke noch einmal den Knopf. Im gleichen Augenblick höre ich den Türsummer. Ich öffne die kleine, im großen Tor eingelassene Tür und trete in die Einfahrt. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Es umgibt mich eine Stille, wie ich sie schon lange nicht mehr gehört habe. Ich höre wirklich nichts. Das Tor ist schallisoliert, denke ich, und gehe ein paar Schritte. Geradeaus, am Ende der Einfahrt, ist ein eisernes Gitter. In der Mitte der Einfahrt, rechts in der Wand, noch eine Tür. Dort surrt ebenfalls der Türöffner. Ich mache einen schnellen Schritt, um die Tür noch im offenen Zustand zu erwischen und stoße sie auf. Dahinter führt eine Stiege ins Obergeschoß.
»Ja, bitte?«, höre ich. Oben steht ein kleiner, älterer Mann mit schütterem Haarwuchs. Er trägt eine braune Mönchskutte.
»Grüß Gott«, sage ich, obwohl ich diese Grußformel schon lange nicht mehr benutzt habe. Jetzt halte ich sie für angebracht. »Ich bin Hanno Hohenberg vom Magazin Epoche«, sage ich. »Ich recherchiere gerade für einen Artikel und …«
»Bitte kommen Sie doch herauf. Es freut mich sehr, dass einmal jemand von der schreibenden Zunft in unser bescheidenes Haus kommt«, sagt er.
Oben angelangt, führt er mich in einen großen Raum. Dort gibt es einen Schreibtisch mit einem Chefsessel dahinter, zwei Sessel davor und gegenüber eine grüne Couch, zwei Fauteuils und ein Couch-Tischchen. Er weist mir gleich den Weg dorthin.
»Bitte, Herr Hohen…?«
»…berg.«
»Ah, Hohenberg. Nehmen Sie doch Platz!«
Er setzt dabei ein süßliches Lächeln auf. Ein Lächeln und eine Tonart, wie man sie nur bei Vertretern der katholischen Kirche findet.
»Ich bin Bruder Gregor. Der Cellerar hier in unserem Kloster. Ich kümmere mich um die wirtschaftlichen Angelegenheiten«, sagt er und lächelt weiter. »Aber weil wir so wenige Besucher haben und mein Büro gleich hier neben dem Eingangstor ist, auch der Pförtner. Was führt Sie zu uns?«
»Ich recherchiere gerade für einen Artikel und hätte ein paar Fragen an Bruder Vi–«
»Möchten Sie Tee? Ich hab mir gerade einen gemacht.«
»Tee? Gerne«. Ich habe schon genug Kaffee an diesem Tag getrunken.
Bruder Gregor geht hinter den Schreibtisch, schenkt Tee in ein Häferl und bringt seines und meines zum Tisch. Auf beiden Häferln ist ein Bild der Basilika von Mariazell.
»Sie suchen Bruder wie?«, er schaut mich fragend und noch immer süßlich lächelnd an.
»Bruder Vincent«, sage ich.
Seine Miene verfinstert sich.
»Bruder Vincent …«, sagt er leise. »Das ist leider nicht möglich.«
»Nicht möglich?«, frage ich.
»Der Herr hat Bruder Vincent vor drei Wochen zu sich geholt.«
»Bruder Vincent ist tot?«, bricht es aus mir heraus. Vielleicht ist meine Reaktion ein bisschen zu heftig. Bruder Gregor schaut mich mit schmalen Augen an.
»Erst letzte Woche haben wir seinen Leichnam bestattet. Seine Seele wohnt jetzt bei Gott.«
Endlich habe ich einen gefunden, der mir die Filme erklären hätte können, und dann ist der tot. Ich mache wahrscheinlich einen derartig enttäuschten Eindruck, dass Bruder Gregor ganz sanft sagt: »Sie wollten ihn etwas fragen?«
»Wie ist er gestorben?«
»Bruder Vincent ist ganz ruhig von uns gegangen. Er ist in seinem Bett entschlafen. Er ist nach der Vesper in seine Zelle gegangen und am Morgen nicht zur Rorate erschienen. Da haben wir nachgeschaut. Er ist in seinem Bett gelegen, als würde er schlafen.«
»Ein schöner Tod«, sage ich.
»Den seinen gibt’s der Herr im Schlaf«, sagt Bruder Gregor und zwinkert. »Sie haben gesagt, dass Sie für einen Artikel recherchieren. Womit hätte Ihnen Bruder Vincent helfen können?«
»Ich hätte ein paar Fragen gehabt und war gespannt auf seine Antworten.«
»Suchen wir nicht alle nach Antworten in unserem Leben?«, sagt er und hält seinen Kopf schief. »Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Soll ich ihm die Bilder zeigen? Wen wird er erkennen? Bruder Vincent. Er wird sagen, dass er ihn noch nie so gesehen hat. So in Rage. So aufgebracht. Wie von einem Dämon besessen. Vielleicht wird er sich darum bemühen, dass am Grab von Bruder Vincent ein Exorzist ein Ritual abhält, um den armen Toten posthum von bösen Geistern zu reinigen. Auch, um sicher zu gehen, dass nicht ein satanisches Wesen am Klosterfriedhof schlummert, das jederzeit in einen anderen Geistlichen einfahren könnte … Er wird sonst niemanden auf den Fotos erkennen. Nein, die zeige ich ihm nicht.
»Kann ich sein Zimmer sehen?«, frage ich stattdessen.
»Seine Zelle?«
»Ja, seine Zelle. Ist die –«
»Nun, das ist eine reichlich ungewöhnliche Frage.«
Bruder Gregor schaut mich irritiert an. Ich versuche es mit einer Notlüge. Wieder einmal. Und erzähle ihm von dem Pharmazie-Artikel, Berger und Pharmason. Und von dem Selbstmord.
»Sie glauben, dass Sie in seiner Zelle eine Antwort finden?«
Ich nehme noch einen Schluck von dem langweiligen Früchtetee, um ihn wohlwollend zu stimmen.
»Ich sollte dem Abt Bescheid geben … Aber der ist verreist …«, murmelt er. »In Gottes Namen«, sagt er und steht auf. Er geht zu einer Tür hinten im Raum. Ein Gang liegt dahinter mit ein paar weiteren Türen. Er schwenkt zur Stiege. »Benutzen wir doch den Kreuzgang. Bei dem schönen Wetter«, sagt er.
Im Hof sitzen drei weißhaarige Männer in Mönchskutten, schweigend vertieft in kleine Büchlein. Wir gehen den Kreuzgang entlang. Es ist nur ein kleiner Hof. Und auch der Kreuzgang ist kurz.
»Ist in Ihrem Magazin nicht einmal eine Artikelreihe über die bekanntesten Reliquien erschienen?«, fragt Bruder Gregor.
»Vor vier Jahren. Die Reihe habe ich gemacht.«
Ich hatte versucht, das Mysterium um einige berühmte Reliquien zu lüften. Das Grabtuch von Turin war dabei, das Schweißtuch der Veronika, der Titulus Cruzis, die Heilige Lanze. Dafür hatte ich mit einigen Wissenschaftern und Priestern gesprochen, um auch auf die Bedeutung der jeweiligen Reliquie hinzuweisen.
»Allerdings …«, setzt Bruder Gregor an. »Ihren Recherchen zufolge sind alle Reliquien, über die sie geschrieben haben, Fälschungen aus dem Mittelalter.«
»Das …«, sage ich, »das haben sämtliche wissenschaftliche Forschungen ergeben.«
»Das haben Sie in Ihren Artikeln ausführlich beschrieben. Auch die Bedeutung jedes einzelnen heiligen Stückes. Was mir gefehlt hat, war der Glaube.«
»Äh…«
»Glauben Sie an Gott, mein Sohn?«
Oh, mein Gott, denke ich. Auf diese Frage habe ich hier herinnen gewartet. Ich habe in meinem Leben viel darüber nachgedacht. Gibt es überhaupt einen Gott? »Nicht Gott hat den Menschen erschaffen, sondern der Mensch hat Gott erschaffen« heißt es bei Nietzsche. Dem kann ich was abgewinnen. Stephen Hawking kam zu dem Schluss, dass durch den Urknall erst Raum und Zeit entstanden sind. Wenn also vorher nichts war, kann es auch keinen Gott geben. Aber es ist mir ein Rätsel, wie sich das Leben auf der Erde – und nur auf der Erde – entwickelt hat. Vom Einzeller bis hin zum computerbauenden Homo Sapiens. Diese Gedanken schießen mir durch den Kopf, während ich mir eine passende Antwort zusammenreime. Als ich merke, dass Bruder Gregor schon zu lange auf meine Reaktion warten muss, sage ich: »Ich denke, ich habe meinen Glauben verloren.«
Bruder Gregor schaut mich streng an.
»Aber ich glaube an eine übergeordnete Macht, die hinter allem steckt.«
Bruder Gregor setzt wieder sein süßliches Lächeln auf und sagt: »Sie werden Ihren Glauben wieder finden, mein Sohn.«
Wenn ihm meine Antwort nicht gepasst hätte, hätte er es sich vielleicht noch einmal anders überlegt und mich doch nicht in die Zelle gelassen. Wir treten aus dem Kreuzgang durch eine Tür und steigen wieder eine Stiege hinauf. Ein weiterer Gang und etliche braune Türen. Vor einer Tür bleibt er stehen. »Das war Bruder Vincents Zelle«, sagt er und öffnet sie langsam.
Das Zimmer ist klein. Ein Bett, ein Regal an der Wand, ein Tisch, ein Sessel, ein Kasten und eine Kommode. Nichts liegt herum, als hätte schon jemand aufgeräumt. Aber da das hier keine forensische Tatortuntersuchung ist, ist mir das egal. Ich gehe zum Wandregal. Schaue die Bücher durch.
Ein paar theologische Schriften stehen in dem Regal und natürlich die Bibel. Ich schaue zum Tisch. Der hat keine Laden. Auf dem Tisch liegt eine Schachtel Pralinen und ein A4-Ausdruck. Eine Ausstellung in einer Galerie.
»Hat sich Bruder Vincent öfter Ausstellungen angeschaut?«
»Er ist hin und wieder zu einer gefahren. Aber in letzter Zeit nicht mehr.«
Ich gehe zum Kasten, öffne ihn. Drei braune Kutten, Unterwäsche, ein schwarzer Anzug. Dann schaue ich noch zur Kommode. Ich mache die erste Lade auf. Socken, Männerstrümpfe, weitere Unterwäsche. In der zweiten Lade sind Medikamente und medizinisches Gerät. Ich schiebe die Lade wieder zu. Sperrig ein bisschen. Bruder Gregor schaut mir zu. Er hätte auch sagen können, dass ich nicht in die Laden hineinschauen darf. So ziehe ich schon die nächste auf. Darin sind ein paar kleine Statuetten, ein paar Heiligenbildchen – nichts, was mir weiterhelfen könnte. Dann bleibt noch Lade Nummer vier. Darin liegen drei Papierstapel. Bruder Gregor beugt sich über meine Schulter.
»Das sind wahrscheinlich Korrespondenzen aus seiner Zeit als Cellerar. Vincent war mein Vor-Vorgänger«, sagt er.
»Die hat er aufgehoben?«
Ich nehme einen Stoß heraus, blättere ihn durch. Eine Rechnung von Handwerkern, ein Schreiben von einem anderen Kloster, eine Rechnung vom Lebensmittellieferanten – belangloses Material. Ich lege den Stoß wieder zurück und nehme den zweiten heraus. Theologische Abhandlungen.
»Hat er in seinem Leben etwas publiziert?«
»Davon weiß ich nichts.«
Ich lege den Stoß wieder zurück und nehme den letzten und niedrigsten heraus. Als ich ihn aus der Lade hebe, bleibt ein kleiner Zettel, der unter dem Stoß gelegen ist, liegen. Ich nehme den Zettel heraus.
Links oben steht »Pharmazie Berger«. Es ist eine Einladung. »… würde ich mich freuen … zu einem besonderen Vortrag …« Zeit des Vortrages: 7. April 1983. Ort: Hörsaal im Gebäude der Pharmazie Berger. Absender der Einladung: Karl Berger. Persönlich. Worum es in dem »besonderen Vortrag« geht, steht nicht auf dem Zettel. Sofort lege ich ihn wieder zurück, will mir nichts anmerken lassen. Es ist mir egal, was sich Bruder Gregor denkt. Aber ich will ihm nicht das Ganze erzählen, die Fotos zeigen und, und, und. So verbrüdern will ich mich mit ihm nicht. Schlimmstenfalls kriege ich noch so einen lanweiligen Tee.
»Ein Zettel?«, fragt Bruder Gregor und greift in die Schublade, um das Stück Papier herauszunehmen.
Er hat bemerkt, dass ich den Zettel länger in der Hand gehalten habe. Länger als man brauchen würde, um das Gedruckte darauf zu lesen.
»Irgendeine Einladung«, sage ich.
Er betrachtet den Zettel, ich blättere den letzten Stoß, den ich neben die Schublade gelegt habe, durch. Es sind Gebete.
»Hat Bruder Vincent Gebete gesammelt oder die hier selbst verfasst?«, frage ich.
»Lassen Sie sehen.« Er legt den Zettel mit der Einladung in die Lade zurück.
»Da steht Pharmazie Berger drauf«, sagt er.
»Hab ich gesehen. Aber die Zeit stimmt nicht. Der Selbstmord war im Jahre 1993. Also zehn Jahre danach.«
»Ach so.«
Er nimmt ein Stück Papier mit einem Gebet darauf. Natürlich passt 1983 perfekt in die Zeitleiste. Und der Selbstmord von DDr. Hermann war auch 1983. Aber das muss er nicht wissen.
»Das kenne ich nicht. Dieser Vincent …«, sagt er schmunzeld.
Auf den anderen Zetteln sind auch nur Gebete und Lobpreisungen an verschiedene Heilige. Der Vielgötterglaube in einem katholischen Kloster.
»Wir werden das alles in ein paar Wochen sichten. Und vielleicht ist ja hier etwas dabei, ein Text, ein Gebet, das wir dann in unseren Kanon mit aufnehmen. Das Verborgene schlummert in Vielen von uns. Und nur der Herr kann es ans rechte Licht führen.«
Ich lege den Stoß wieder in die Schublade und stehe auf.
»Hm«, sage ich. »Dann hat Bruder Vincent seine Geheimnisse mit ins Grab genommen.«
Bruder Gregor schaut mich fragend an. »Welche Geheimnisse?«
Es scheint, als hätte ich sein Interesse geweckt. Idiot. Ich. Bruder Gregor sitzt den ganzen Tag in seinem Büro und hat jede Zeit der Welt, um nachzutüfteln.
»Das sagt man doch so oder?« Ich schaue ihn an und versuche zu lächeln. Auch wenn es mir schwer fällt.
»Ach so.« Er setzt wieder sein katholisches Grinsen auf.
Glück gehabt, denke ich und gehe zur Tür. Bruder Gregor legt den Zettel in die unterste Schublade, schiebt sie zu und folgt mir. Am Weg zurück will er nichts von mir wissen. Die drei alten Herren sitzen noch in der Sonne im Hof. Im Kreuzgang kommt uns ein alter Mönch entgegen. Er hat seine Kapuze zurückgeschlagen. Auch sein Haar ist ganz weiß.
»Bruder Martin«, sagt Bruder Gregor und hält ihm die Hand zur Begrüßung hin.
»Bruder Gregor«, sagt der andere Mönch mit weinerlicher Stimme.
»Bruder Martin war Vincents engster Vertrauter«, sagt er zu mir. Und zu Bruder Martin: »Darf ich vorstellen: Herr Hohenberg. Journalist vom Magazin Epoche.«
Ich strecke meine Hand aus. Bruder Martin fasst sie, aber nur ich drücke beim Händedruck zu. Bruder Gregor erzählt ihm, warum ich hierher gekommen bin.
»Sie kannten Bruder Vincent gut?«, frage ich Bruder Martin.
»Wir sind beide ungefähr zur gleichen Zeit hierher gekommen.«
»Ist Ihnen in seinen letzten Tagen, Wochen irgendetwas an ihm aufgefallen?«
»Im Sommer sind wir oft auf den Bänken hier im Innenhof gesessen. Sonst war er bei seinen Kräutern im Garten. Aber einmal, … da hat er zum Kardinal müssen.«
»Zum Kardinal?«, fragt Bruder Gregor.
»Das weißt du gar nicht?«
»Wann war das?«, fragt er.
»Vor ungefähr vier Wochen«, antwortet Bruder Martin.
»Was hat er beim Kardinal gemacht?«, frage ich.
Bruder Martin erzählt eine lange Geschichte. Bruder Vincent wäre vor mehr als dreißig Jahren schon einmal beim Kardinal gewesen. Damals hätte er sich selbst um den Termin bemüht. Er wollte dem Kardinal von irgendetwas berichten. Aber der Kardinal hat ihm nicht geglaubt. Danach war Bruder Vincent gebrochen. Er hat sein Amt als Cellerar niedergelegt und sich von da an nur mehr dem stillen Gebet und dem Kräutergarten gewidmet.
»Was hat Bruder Vincent dem Kardinal berichtet?«, frage ich.
»Das weiß ich nicht«, sagt Bruder Martin. Er wendet sich zu mir: »Seit ein paar Jahren haben wir einen neuen Kardinal, wie Sie bestimmt wissen. Und der hat Vincent zu sich bestellt. Aber worum es bei diesem Gespräch gegangen ist, weiß ich auch nicht.«
»Er war also bei zwei Kardinälen …«, sage ich vor mich hin.
»Ich habe viel darüber nachgedacht. Vielleicht war es so, dass der neue Kardinal Vincents Unterlagen von seinem ersten Besuch gefunden hat. Und dann Genaueres darüber wissen wollte.«
»Was für Unterlagen?«, frage ich.
»Das weiß ich leider nicht«, sagt Bruder Martin betrübt. »Ach ja, da fällt mir wieder was ein. Vincent hatte danach noch Besuch.«
»Wann?«
»Kurz vor seinem Tod«, sagt Bruder Martin leise und schaut zu Boden.
»Hatte er öfter Besuch?«, frage ich.
»Wir leben sehr zurückgezogen«, erklärt Bruder Gregor. »Und haben generell wenig Kontakt mit der Welt außerhalb unserer Klostermauern.«
»Wer hat ihn besucht?«, frage ich.
»Das hat er mir nicht mehr gesagt. Am nächsten Morgen war er …«
»Vincent war ein alter Mann«, sagt Bruder Gregor. »Und alte Männer sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist.«
»So ist es«, sagt Bruder Martin mit seiner leisen Stimme. »Tut mir leid, dass wir Ihnen nicht behilflich sein konnten.«
»Als Journalist bin ich Leerläufe gewohnt.«
Bruder Martin schüttelt meine Hand. Diesmal kräftiger, als vorhin. Bruder Gregor grinst mich an und gibt mir ebenfalls die Hand zum Abschied. So einen schlaffen Händedruck habe ich noch nie bekommen. Es fühlt sich an, als ob man ein warmes, nasses Tuch auswringt.
»Der Herr möge Ihnen auf all Ihren Wegen beistehen«, sagt er. Und, als ich mich schon zum Gehen umdrehe: »Wenn Sie Fragen zu Ihrem Glauben haben, bin ich gerne bereit, sie Ihnen zu beantworten. Jederzeit.«
»Werde ich mir merken«, sage ich und gehe zur Einfahrt.
Bruder Vincent war zweimal beim Kardinal. Was hat er dem alten Kardinal sagen wollen? Was sind das für Unterlagen, von denen Bruder Martin gesprochen hat? Und wer war dieser mysteriöse Besucher?