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Die Arbeit am Artikel will nicht recht. Es ist der letzte, den ich für die aktuelle Ausgabe noch abgeben muss. Das sollte mich eigentlich beflügeln, weil ich danach – bis zur Sitzung am kommenden Dienstag – hier herinnen nichts zu tun habe. Die anderen Storys sind bereits fertig. Normalerweise bin ich eher ein Deadlinejunkie, der seine Texte erst kurz vor Druckschluss abgibt. Diesmal nicht. Aber dieser eine Text ist enorm umfangreich und aufwändig und seit Langem wieder einmal ein großer Artikel. Arbeitstitel: »Der Mensch wird zum Cyborg.« Dazu habe ich viel recherchiert, zwei Bücher gelesen, vier Wissenschafter interviewt und das ganze Material dann in eine sechsseitige Geschichte verpackt. Runter geschrieben habe ich die Story schon, der Text ist aber noch zu holprig. Jetzt muss ich gründlich drüber gehen, einen Vorspann schreiben und einen schönen Titel finden. Ich hole mir noch einen Kaffee. Am Ende soll ein Artikel so klingen, als würde man ihn frei von der Leber weg seinem besten Freund erzählen. Locker und leicht. Aber bis die Wörter so richtig flutschen – das wird noch dauern.

Ich muss ständig an meinem Computer vorbei hinüberschauen zu Claudias Platz. Ich kann mich nicht konzentrieren, weil ich an die vielen witzigen Momente hier im Büro mit ihr und gleichzeitig an das Begräbnis denken muss. Dann ist da noch dieses Kuvert, das mir Wolfgang nach dem Begräbnis gegeben hat. Zwei Super-8-Filme sind drinnen. Was ist da drauf? Hat der Inhalt der Filme mit Claudias letzten Recherchen zu tun? Wurde sie deshalb umgebracht? Und wo kriege ich einen Apparat her, mit dem ich mir die Filme anschauen kann? Haben wir so einen noch im Haus? Aus! Schluss! Eins nach dem anderen. Mach erst deinen Artikel fertig, Hanno! Für alles andere hast du nachher Zeit. Mühsam quäle ich mich also durch die Zeilen. Ich habe zu oft »auch« und »noch« verwendet. Die fliegen alle raus. Ich entdecke einige vage Formulierungen. Wenn etwas so ist, wie es ist, dann ist es so. Und nicht »vielleicht«, »wahrscheinlich« oder »vermutlich.« Ganze Sätze streiche ich und formuliere um. Kürze und schreibe einen ganzen Absatz neu. Ich streiche sogar ein paar meiner Lieblingssätze – »Kill Your Darlings« heißt diese Redigierregel. Ich weiß zwar nach all den Jahren noch immer nicht, warum man gerade seine Lieblingsformulierungen löschen soll, aber dem Text tut es gut. Drei Stunden später ist es endlich geschafft. Jetzt sitzten Text und Vorspann. Nur Titel will mir keiner einfallen. »Wir Cyborgs«, »Der Mensch 2.0«, »Homo cyborgensis«. Alles kein wirklicher Burner, zu lahm. Nachdenken. Manchmal habe ich einen passenden Titel schon beim Schreiben im Kopf. Manchmal sogar gleich, wenn ich ein Thema übernehme. Diesmal nicht.

Weil mich in den darauffolgenden Minuten noch immer nicht die Muse küssen will, rufe ich Dragan an. Unseren Hauswart.

»Challo? Was gibt’s?«

Dragan ist Kroate und seit einer Ewigkeit hier im Haus. Wenn man etwas braucht, muss man ihn nur anrufen. Ich erzähle ihm von den Super-8-Filmen und dass ich sie mir anschauen will. Er klingt nicht begeistert. Wahrscheinlich muss er, um so einen alten Projektor zu finden, das ganze Lager durchkramen.

Falls es doch so ein Gerät im Haus geben sollte, wird Dragan es finden und – wie ich ihn kenne – sicher eine Stunde, wenn nicht sogar länger, fürs Suchen und Bringen brauchen. Genug Zeit also für den perfekten Cyborg-Titel. Zuerst aber noch ein Kaffee. Ich trinke zu viel Kaffee. Seitdem ich mit dem Rauchen aufgehört habe, muss ich hin und wieder meine Hände beschäftigen.

Zehn Minuten später tippe ich »Die Evolution des Menschen« in die Tastatur, drücke auf Speichern und schicke die Story ab. Der Titel ist in Ordnung. Vielleicht nicht der beste oder originellste, aber in Ordnung. Die Arbeit für das aktuelle Heft ist somit erledigt. Da klopft es an der Tür. Dragan kommt mit einem Super-8-Projektor herein. Ein Projektor mit Bildschirm. Sieht aus wie ein alter, kleiner Fernseher.

»Scheiße, was denn da passiert?«, sagt er zur Begrüßung.

Ich erzähle ihm vom Einbruch und dass die Polizei schon da war.

»Herr Hohenberg immer ganz vorne dabei«, feixt er.

Dann stellt Dragan den Super-8-Projektor auf meinen Tisch. Er wirkt etwas abgekämpft. Wie immer. Wahrscheinlich macht er, wenn er zu uns herauf muss, schnell zwanzig Liegestütze, damit er ein paar Schweißperlen auf der Stirn hat. Er steckt das Gerät an die Steckdose und schaltet es ein.

»Strom«, sagt er. »Was willst schauen?«

Ich gebe ihm eine der beiden Filmspulen. Sie sind nummeriert. Mit »2« und »3«. Er fädelt den Film in den Apparat ein und drückt auf »Start«. Der Film läuft. Aber nichts tut sich. Der Bildschirm bleibt dunkel. Dragan drückt verschiedene Knöpfe des Gerätes.

»Hm«, sagt er. »Film läuft, aber nix Bild.«

Er drückt noch einmal an den Knöpfen herum. Der Bildschirm bleibt dunkel. »Glaube Lampe kaputt«, murmelt er. »Hm …«, sagt er schließlich. »Gerät uralt. Heute alles digital … Aber vielleicht wir haben andere Lampe. Muss schauen.« Und geht zur Tür hinaus.

Ich bin irgendwie froh, dass Dragan das nicht zusammengebracht hat. Ich hätte für das gleiche Ergebnis eine gute Stunde gebraucht und wäre danach vollkommen frustriert gewesen. Wenn Dragan das Ding nicht zum Laufen bringt, dann schafft das niemand sonst. Er ist ein Mann vom Fach, sein zweiter Vorname wahrscheinlich Schukostecker. Der kennt sich aus. Ich habe zwar ein gewisses technisches Grundwissen – kann immerhin ein iPhone von einem iPad unterscheiden –, aber wenn Komplikationen auftreten – und die treten eigentlich immer auf – bin ich froh, dass es Experten gibt.

Da klopft es schon wieder an der Tür. Es ist ständig was los in diesem Irrenhaus. Ich frage mich, wie ich in den vergangenen Jahren all meine Artikel fertig stellen konnte.

»Hallo, störe ich?«, haucht es zur Tür herein. Elisa, unsere Praktikantin. Sie sieht das Durcheinander bei Claudias Platz und mich zerknirscht am Schreibtisch lehnen. »Was ist denn da los?«, fragt sie.

Ich erzähle auch ihr von dem Einbruch und der Polizei.

»Wie war das Begräbnis gestern? Du warst ja dort.«

»Es hat geregnet.«

»Und du wieder ohne Schirm?«

Als Pazifist lehne ich jede Art von Waffe ab.

»Ich war waschelnass.«

»Und sonst?«

»Nichts«, raunze ich.

Mir ist bewusst, dass das die häufigste Antwort ist, die Männer Frauen geben, wenn sie fragen, was denn los sei. Woraufhin Frauen mit einem eigenen Sinn, den sie nur für die Bewertung der Antwort auf diese eine Frage entwickelt haben, sofort wissen, dass »Nichts« eine vollkommen unvollständige Aussage ist. Ein männlicher Kollege hätte vermutlich: »Wir müssen wieder einmal auf ein Bier gehen«, gesagt und es dabei belassen. Frauen sind da hartnäckiger. Elisa kommt näher. Sie streicht mir mit der Hand durch die Haare. Das hat sie seit der letzten Weihnachtsfeier nicht mehr getan. Ja, wir hatten da was. Aber nur geschmust. Sonst nichts. Sie ist blond, schlank, mittelgroß, aber vierzehn Jahre jünger als ich, steckt mitten im Studium, ist unsere Praktikantin, und eigentlich viel zu bieder. Wenn ich damals nicht so betrunken gewesen wäre … Seitdem glaubt sie, dass da irgendetwas ist. Zwischen uns.

»Geht der noch?« Sie hat den Super-8-Apparat entdeckt.

»Film läuft, aber nix Bild.«

»Ah, Dragan war schon da«, sagt sie und lacht.

»Er sucht noch eine andere Lampe.«

»Lampe?« Sie geht zu dem Apparat und schaut ihn sich an. »Was machst du mit dem alten Ding?«

»Wolfgang, Claudias Mann, hat mir gestern nach dem Begräbnis ein Päckchen gegeben. Da waren zwei Filme drin.«

»Von Claudia?«, fragt sie.

»Von wem sonst?«

»Was ist drauf?«

»Keine Ahnung.«

Sie schaltet den Apparat ein.

»Dragan hat schon alles versucht. Die Lampe ist kaputt.«

Aber sie lässt sich nicht beirren, überprüft das Kabel, schaltet das Gerät ein und aus.

»Also der hat Strom. Müsste eigentlich funktionieren.«

Wenn Dragan schon alles ausprobiert hat, was macht sie da? Sie schaut sich nochmals das Gerät und die Kabelverbindung an und dreht an den Schaltern herum.

»Na geh, Drecksding!«, sagt sie ungeduldig und klopft mit der flachen Hand drauf. Aber auch das bringt nichts, der Bildschirm bleibt dunkel. »Vielleicht ist gar nichts auf dem Film drauf«, sagt sie.

»Gib mir mal den Film.«

Elisa spannt ihn aus, wickelt ihn auf und gibt ihn mir.

Ich schaue ihn mir von allen Seiten an. Schwarzes Plastik und der Filmstreifen. Ein normaler Super-8-Film. So wie ich ihn aus meiner Kindheit in Erinnerung habe. Ich spule ihn ein bisschen ab. Und halte den Film gegen das Licht der Deckenlampe. Da ist was drauf. Aber was? Nicht zu erkennen.

»Und wenn Dragan keine Lampe findet?«

»Dann muss ich herumfragen, wer noch so ein altes Gerät hat. Wahrscheinlich niemand. Heute ist alles digital.«

Egal, was auf dem Film drauf ist, die Suche nach einem passenden Abspielgerät wird mich wohl mehr herausfordern als der Inhalt.

»Ich hab so einen Apparat«, sagt sie.

»Und das sagst du erst jetzt?«

In diesem Augenblick klingelt das Telefon. Mit einem schlichten »Dragan«, meldet sich der Hauswart. »Habe ganze Lager gesucht«, sagt er. »Nix Lampe.«

»Ich habe mittlerweile schon einen anderen Apparat gefunden«, dabei schaue ich Elisa mit zusammengekniffenen Augen an. Sie lächelt.

»Gut. Wenn du was brauchst …«, sagt Dragen.

Ich lege den Hörer langsam auf – im Büro telefonieren wir noch mit alten Tisch-Tasten-Telefonen.

»Du hast so ein Ding?«, frage ich Elisa.

»Ein uraltes Gerät. Von meinem Vater. Als ich in die WG gezogen bin, habe ich es mitgenommen. Du musst nur zu mir kommen«, sagt sie mit einem Augenaufschlag.

Und das ist auch der Haken an der Sache.

»Wann?«, frage ich.

Jesses Erbe

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