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Hä? Was ist denn da …? Mein Büro … Schränke sind aufgebrochen, Aktenordner aufgerissen, Schnellhefter zerfetzt, Zettel zerrissen, dazwischen liegen Magazine und Zeitschriften. Alles übereinander, untereinander, durcheinander. Und unsere Tischbildchen, die paar Kakteen und Überraschungseier-Figuren, die wir über die Jahre hinweg gesammelt haben, irgendwo am Boden verstreut. Was für ein Saustall! Claudias Computer ist weg. Claudia … Ihren Arbeitsplatz hat es am ärgsten erwischt. Meiner gegenüber schaut noch relativ geordnet aus. Dort herrscht der normale Wahnsinn. Auf meiner Seite sind keine Schränke offen. Da hat jemand was gesucht. Bei Claudias Sachen. Aber wer? Was? Und warum? Seit einer Woche war sie nicht mehr da. Waren die Einbrecher auch in den anderen Redaktionsräumen? Ich schaue hinüber. Liegt viel herum, schaut aber doch ganz normal aus. Ich muss den Chef anrufen. Aber der schläft sicher noch. Was würde er auch sagen? Ruf die Polizei! Und dann einen langen Vortrag halten. Dass die Pressefreiheit in unserem Lande gefährdet sei und so weiter. Die Zeit, mir das anzuhören, will ich mir nicht nehmen. Ich rufe gleich die Polizei. Eine halbe Stunde später stehen zwei Herren in dunkler Uniform vor der Eingangstür. Ich lasse sie herein.

»Benny?«, frage ich. Einer der beiden sieht einem meiner ehemaligen Schulkollegen verdammt ähnlich.

»Hanno?«, fragt er. »Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen.«

Wir schütteln lange die Hände.

»Du warst, glaube ich, zwei Klassen über mir. Im Sportunterricht waren wir aber immer zusammen«, sage ich.

Er klopft mir auf die Schulter.

»Ich kann mich an jedes Tor, das du mir geschossen hast, erinnern.«

»Echt?«

»Waren es zwei oder drei?« Er grinst. »In den ganzen Jahren …«

»Das waren mindestens vier«, sage ich und lache. »Äh, … ich wusste gar nicht, dass du bei der Polizei …«

»Chefinspektor«, sagt Benny. »Heute ist Not am Manne. Der Staatsbesuch.« Er deutet auf den zweiten Polizisten. »Mein Kollege Jurek.«

Ich schüttle auch seine Hand.

»Also …«, sagt er. »Es wurde eingebrochen?«

Ich zeige zu meiner offenen Bürotür. Er schaut sich zuerst die Eingangstür an. Macht sie auf und zu und beugt sich hinunter zum Schloss.

»Hier gibt es keine Einbruchsspuren. Ist dir etwas aufgefallen, als du hereingekommen bist?«

»Nein.«

»Und bei deiner Bürotür?«

»Auch nicht. Die Tür ist mit einem Magnetschlüsselsystem gesichert.«

Ich halte ihm meinen Schlüsselbund hin und ziehe das kleine Ding mit dem runden Metallteil heraus.

»Solche Schlüssel kann man nicht nachmachen«, sagt Benny.

»Das heißt … sie haben einen gehabt?«

»Von dem ist auszugehen. Aber wir wissen noch nicht, ob es mehrere Täter waren.«

»Natürlich.«

So kenne ich ihn gar nicht. Beim Fußball haben sie ihn immer ins Tor gestellt, weil er nicht unbedingt … Egal.

»Schaut euch einmal drinnen um. Ich mach mir einen Kaffee.« Den vierten. In der Zeit, in der ich auf die Polizei gewartet habe, habe ich schon drei getrunken. »Kommt auch die Spurensicherung?«, frage ich ins verwüstete Büro hinein.

»Wir sind die Spurensicherung«, antwortet Benny.

Während der Automat surrt, höre ich sie drinnen reden. Mit meinem Automatenkaffee stelle ich mich in den Türrahmen. Die beiden schauen sich in dem Durcheinander um. Jurek macht mit einer kleinen Kamera Fotos.

»Ist irgendetwas Besonderes in den letzten Tagen passiert?«, fragt mich Benny.

»Claudia, meine Bürokollegin, ist gestorben.«

»Wann ist das passiert?«

»Der Chef hat uns gestern gesagt, dass sie umgebracht worden ist. Und dass man sie schon in der vergangenen Woche gefunden hat. Mehr hat er nicht gewusst. Da müssten deine Kollegen mehr wissen.«

»Werde mich mit denen gleich kurz schließen«, sagt Benny, holt ein Mobiltelefon aus der Tasche, wählt eine Nummer und telefoniert.

Das war vielleicht ein Schock … Claudia. Die beste Kollegin, die ich mir hätte wünschen können. Nicht nur, weil sie fast nie da war und ich das Büro für mich allein gehabt habe. Wenn sie einmal herinnen war, ist dauernd der Schmäh gelaufen und Musik im Hintergrund. Unser Büro war das Partyzimmer der Redaktion. Und jetzt ist sie tot. Wer, wann, wo, wie und warum haben gestern alle gleichzeitig den Chef gefragt. Aber der hat eben nicht viel gewusst. Vielleicht weiß Benny jetzt mehr.

»… okay«, höre ich ihn sagen, als er auflegt.

»Und?«, frage ich.

»Weißt du, woran sie zuletzt gearbeitet hat?«, übergeht er meine Frage.

»Nein. Claudia war das letzte Mal vor einer Woche da. Genau … gestern vor einer Woche. Am vergangenen Montag. In der Zwischenzeit kann sie alles Mögliche aufgerissen haben.«

»War sie irgendwie anders? Ist dir was aufgefallen?«

»Nein. Gut aufgelegt. So wie immer. Und? Weißt du was?«, frage ich erneut und nippe an meinem Kaffee.

»Es gibt natürlich einen pathologischen Befund. Aber der ist unter Verschluss. Der Einbruch könnte mit ihrem Tod zusammenhängen. Laufende Ermittlungen, du verstehst.«

»Aber ihr Begräbnis war gestern.«

»Sie wurde schon bestattet?«, fragt Benny.

»Ich war als einziger von der Redaktion dort. Wir haben gerade Schlussproduktion. Das Heft muss fertig werden. Außer Wolfgang, ihren Mann, hab ich niemanden gekannt.«

Er deutet auf den leeren Platz am Tisch. »Die Einbrecher haben ihren Computer mitgenommen?«

»Ich glaube nicht, dass sie besonders wichtige Sachen darauf gespeichert hatte. Sie hat meistens zuhause gearbeitet, hat nur die Ausstattung und die Bildtexte hier herinnen gemacht.«

»Herr Chefinspektor! Das müssen Sie sich ansehen«, sagt der andere Polizist.

Benny dreht sich zu seinem Kollegen. Dieser zeigt auf ein paar offene Aktenordner am Boden.

»Es gibt jede Menge Fußspuren. Die sind da überall draufgestiegen«, erklärt er.

»Aufnehmen!«

»Hab ich schon. Meine erste Analyse hat ergeben, dass es sich um drei Täter gehandelt haben muss. Da!« Er zeigt auf drei offene Aktenordner am Boden.

»Drei verschiedene Schuhprofile …«, murmelt Benny. »Sehr gut, Jurek!«

Dann dreht er sich zu mir und fragt: »Und die anderen Räume?«

»Hab ich schon hineingeschaut«, sage ich. »Sehen aus, wie immer.« Ich gehe zur rechten Tür, öffne sie. »Wenn du willst?«

Benny schaut in den Raum, geht ein paar Schritte hinein, bleibt stehen, kommt zurück und schaut sich auch den anderen Redaktionsraum an, in den ich mit meinem Schlüssel reinkomme.

»Da waren sie anscheinend nicht. Welche Geschichten macht ihr so?«, fragt er, als er sich langsam wieder zu mir dreht.

»Politik, Geschichte, Science, Wirtschaft, Menschen. Alles quer durch die Bank.«

»Ich hab euer Magazin, glaube ich, irgendwann einmal beim Zahnarzt durchgeblättert. Hatte deine Kollegin ein besonderes Ressort?«, fragt er.

»Nein, aber der ist immer irgendwas eingefallen.« Ich trinke meinen Kaffee aus.

»Und du?«

»Ich hatte meine großen Momente. Gleich, als ich zum Magazin gekommen bin. Damals hab ich eine Titelstory nach der anderen geschrieben.«

»Und jetzt?«

»Momentan kümmere ich mich um den Kleinkram … Ankündigungen und so.«

»Dem Superjournalisten fehlt also die große Story?«, sagt Benny und schmunzelt.

»Hat der Superbulle große Fälle?«, beiße ich zurück.

»Nananana! Glücklicherweise sind wir hier in Wien. Da ist alles gemütlich.«

Wir gehen wieder in mein Büro. Jurek ist noch mit den Aktenordnern beschäftigt.

»Wo ist eure Toilette?«, fragt Benny.

»Am Gang. Die Tür gegenüber.«

Ich gehe mit ihm auf den Gang hinaus, deute auf die Tür. Er geht hinein. Ich lasse meinen leeren Kaffeebecher in den Bechersammel-Container rutschen. Ein paar Minuten später kommt er zurück.

»Auf der Toilette waren sie nicht. Dort gibt es keine Spuren.«

»Mir ist gerade was eingefallen«, sage ich. »Als ich vorhin …« Ich schaue auf meine Armbanduhr. »Vor fast einer Stunde … Als ich vor dem Haus über die Straße gegangen bin, hätte mich beinahe ein Auto überfahren.«

»Was …?«, fragt Benny und runzelt die Stirn.

»Ich habe das Auto nicht kommen hören. Wenn es die Straße entlang gefahren wäre, hätte ich es gehört. Das muss vorm Haus, direkt vorm Eingangstor gestartet und weggeschossen sein.«

»Du meinst –«

»Ich weiß es nicht«, sage ich.

»Kannst du das Auto beschreiben?«

»Ein dunkelblauer BMW. W 9731 BF.«

Benny notiert das Kennzeichen auf einem Notizblock. »Kann aber auch Zufall sein. Wir werden uns die Sache anschauen.«

Sein Kollege packt ein paar von Claudias Aktenordnern zusammen.

»Die müssen wir mitnehmen. Das sind die mit den Fußspuren«, sagt er. »Es gibt noch ein bisschen Papierkram zu erledigen. Drinnen sind wir fertig.«

»Ihr habt gar keine Fingerabdrücke genommen und auch nach keiner DNS gesucht?«

»Du schaust zu viele Krimis«, sagt Benny und lacht.

Im Tatort im Fernsehen ist der Pathologe oder der Forensiker oft wichtiger als der Hauptkommissar selbst. Und der Bösewicht ist immer schon nach eineinhalb Stunden gefasst. Würde mich wundern, wenn die beiden auch so flott wären.

Jurek kommt mit einem Block. Wir nehmen noch das Protokoll auf. Alles, was ich Benny erzählt habe, will er noch einmal wissen und schreibt es auf. Dann sind meine technischen Daten gefragt: Name, Adresse und Telefonnummer – weil ich die Polizei gerufen habe. Danach verabschieden sich die beiden.

»Hanno«, sagt Benny beim Rausgehen und hält mir seine Visitenkarte hin. »Falls dir noch was einfällt.«

»Oder damit wir uns auf ein Bier verabreden können. Müssen wir unbedingt einmal machen.«

Bennys Kollege grinst. Dann sind sie weg. Das Ganze hat keine dreiviertel Stunde gedauert.

Wieder allein im Büro setze ich mich auf meinen Sessel. Was ist da los? Claudia ist umgebracht worden. Und dann bricht noch jemand hier ins Büro ein? Ist sie bei ihrer Recherche irgendjemandem auf die Füße getreten? Hat sie irgendwas herausgefunden, was sie nicht rausfinden hätte sollen?

»Was ist denn da passiert?« Mit offenem Mund steht der Chef in der Tür. »Hast du was gesucht, Hanno?« Er hat sein blaues Sakko an und kratzt sich am Kopf. Zwischen seinen drei grauen Haaren.

»Ich nicht«, antworte ich. »Da hat jemand eingebrochen.«

»Bei uns in der Redaktion?«

»Nur hier im Büro. Die waren bei Claudias Platz«, sage ich.

»Du musst sofort die Polizei verständigen.«

»Die war schon da und hat alles aufgenommen.«

»Die war schon da? Seit wann bist du denn herinnen?«, fragt er und stellt seine Tasche auf meinen Tisch.

»Ich bin früh rein gefahren, weil ich meinen letzten Artikel fertig machen wollte.«

»Und was sagt die Polizei?«

»Dass der Einbruch anscheinend mit Claudias Tod in Verbindung steht. Weißt du, woran sie zuletzt gearbeitet hat?«

»Sie hat mir vor einer Woche nur erzählt, dass sie hinter einer großen Story her ist. Näheres wollte sie mir erst später sagen.«

»Welche große Story?«

»Darüber zerbreche ich mir schon die ganze Zeit den Kopf.« Er greift sich mit der Hand an die Stirn. »Sie hatte so viele Themen. Da kann sie an allem dran gewesen sein … Nicht einmal eine Andeutung hat sie gemacht.«

»Ja, wenn die hinter irgendetwas her war, dann war sie verschwiegen wie ein …«

»Ich weiß auch nicht, wie man damit umgeht.«

»Es ist furchtbar«, sage ich.

»Wie war das Begräbnis gestern?«

»Der Pfarrer dürfte sie gar nicht gekannt haben. Der hat nur Standardsätze runtergebetet. Und es hat geregnet.«

Er schaut auf das Durcheinander. »Was haben die nur gesucht?«

Ich greife in meine Tasche, hole ein großes, orangefarbenes Kuvert heraus und sage: »Vermutlich das hier.«

Jesses Erbe

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