Читать книгу Ich komme ja wieder! - Hans Schneiderhans - Страница 6
Die Nachricht
ОглавлениеAm Ostersonntagmorgen um halb acht klingelte es.
Meine Eltern saßen mit dünnen Decken um die Schultern auf ihrer Bettmatratze. Sie ließen sich gern Zeit nach dem Meditieren. Doch bei diesem Schrillen der Türglocke sprang mein Vater wie gestochen auf, stürzte die schmale Holztreppe hinunter in die Diele und lief zum Erker im Wohnzimmer. Von dem vorstehenden Fenster im ersten Stock aus konnte man unbemerkt auf die Straße hinuntersehen.
Zwei Streifenpolizisten in voller Montur standen vor der Haustür.
Scheiße, dachte mein Vater und drückte auf den Türöffner neben dem Fenster. Das Haus mit den hohen Zimmerdecken war in einer Zeit gebaut worden, als es noch keine Gegensprechanlagen gab.
Zwei Tische waren zu einer langen Tafel zusammengestellt. Es war eingedeckt für das Osterfrühstück mit meiner Oma, den Tanten, Onkeln, Cousinen.
Auf der Treppe hinunter ins Erdgeschoss zog mein Vater die weite Baumwollhose hoch.
Mit ernsten Mienen standen die Polizisten dann vor meinem unrasierten Vater.
»Guten Morgen«, sagte er und erwartete, dass der Beamte mit den abstehenden Ohren eine Frage stellen würde wie: »Wissen Sie, wem das Auto vor Toreinfahrt XY gehört?«
»Können wir hereinkommen?«, fragte der Beamte.
Einen Polizisten einfach in die Wohnung lassen? Könnte ja jeder kommen. Nur mit Hausdurchsuchungsbefehl.
»Worum geht es?«, fragte mein Vater.
»Das möchten wir nicht im Hausflur besprechen«, antwortete der Beamte.
Inzwischen stand auch meine Mutter auf dem Treppenabsatz hinter meinem Vater.
»Es ist Ostersonntagmorgen«, sagte sie. »Was wollen Sie?«
Der Beamte starrte auf seinen Zettel.
»Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrem Sohn gesprochen?«, fragte er.
»Mit welchem?«, fragte mein Vater.
»Mit Till«, sagte der Beamte.
Mein Vater schaute hinauf zu meiner Mutter. Er spürte, dass die Sache ernst war, überlegte, was es sein könnte, und dachte, ich sei in Südamerika beim Kiffen erwischt worden. Typisch mein Vater.
»Wir haben am Donnerstag mit ihm telefoniert«, sagte meine Mutter.
Meine Eltern schauten sich an.
»Okay«, sagte mein Vater und führte die Polizisten ins Wohnzimmer.
Mein Vater und ich erzählen Geschichten nicht schnurgerade, wir erzählen in Bögen. Ein Fluss fließt in Windungen dahin, sogar ein Lichtstrahl, das Muster an Geradlinigkeit, biegt sich entlang der Gravitationslinien. Wenn man genauer hinschaut, dann umspielt der Lichtstrahl in seiner Wellenstruktur die Linie. Schaut man noch genauer hin, dann springen permanent Lichtquanten aus einer Potenzialität in eine Realität und umgekehrt – aber an dieser Stelle unterbreche ich meinen Vater. Er weiß nicht genau, wovon er da spricht.
Jedenfalls schreiben wir die Geschichte nicht nur auf, um Fakten mitzuteilen. Mein Vater möchte baden in ihr. Am liebsten würde er den Fluss der Zeit einfach anhalten.
Am Ende der langen Ostertafel saßen auf der einen Seite die beiden Polizisten und sagten erst mal nichts.
Auf der anderen Seite saßen meine Eltern und waren ebenfalls still. Mein Vater duckte sich, als würden gleich Steine fliegen.
Was der Polizist dann sagte, war das Schlimmste, was ein Polizist sagen kann.
Er sagte: »Till ist verstorben.«
Der zweite Polizist sah meinen Vater mit gespanntem Gesichtsausdruck an. Er schien jeden Augenblick damit zu rechnen, dass mein Vater aufspringen, ein Beil packen und den Tisch mit allen Osterhasen in Stücke hauen würde.
Meinen Vater erinnerte dieser Blick des Polizisten an eine andere Situation in diesem Wohnzimmer. Mein Bruder Lukas hatte eine Familienkonferenz einberufen und sagte: »Ich will mein Studium abbrechen.«
Meine Blicke hätten ihn angesprungen wie Tiger, erzählte mir hinterher mein Vater.
Genau wie die Blicke des zweiten Polizisten jetzt.
»Wehe, du greifst an!«, sagten die Blicke.
»Es klingt irreal«, war das Erste, was mein Vater sagte, nachdem die Polizisten berichtet hatten, was geschehen war.
Er hätte auch sagen können: »Ich glaub euch kein Wort!« Meine Mutter saß versteinert.
»Wie sicher ist die Information?«, fragte mein Vater nach einer Weile.
Der Polizist antwortete, dass die Information von der deutschen Botschaft in Buenos Aires stamme. Er gehe davon aus, dass die Botschaft das geprüft habe.
»Ist Mara auch tot?«, fragte mein Vater.
Ja. Und meine Eltern sollten bitte nicht anrufen, denn gleich im Anschluss würden sie zu Maras Familie fahren.
»Wenn Mara und Till aufgrund der Passagierliste des Busses identifiziert wurden«, sagte mein Vater, »dann sind sie vielleicht verwechselt worden.«
Er suchte nach dem Ausweg, den alle übersehen hatten. Er stellte sich vor, wie er seinen Freunden erzählte, was für ein Hammer diese Nachricht gewesen sei – und dass sie mich dann trotzdem lebend in einem argentinischen Krankenhaus gefunden hätten.
Das innere Erzählen meines Vaters nahm in diesen Stunden seinen Anfang. Es war seine Art, mit der Sache umzugehen. In den erbärmlichsten Situationen seines Lebens, als er während seines Wehrdienstes durch den Schlamm robbte, hatte mein Vater diese Überlebenstechnik entwickelt.
Noch in der Situation sah er sich mit Freunden bei der Feuerzangenbowle sitzend und sie lachten über den Widersinn, den er erlebte. Stellt euch vor, Till und Mara waren verwechselt worden!
Die Polizisten überreichten ihre Visitenkarten und eine Liste mit Namen und Telefonnummern der zuständigen Leute in der Botschaft. Man könne jederzeit nachfragen, in Buenos Aires sei es allerdings jetzt drei Uhr nachts und nur der Bereitschaftsdienst zu erreichen.
Mein Vater begleitete die Polizisten hinunter zur Haustür.
Als er wieder hinaufkam, war meine Mutter verschwunden.
Er setzte sich an seinen Laptop und hatte das Gefühl, es sei unpassend, sich als Erstes an den Laptop zu setzen.
Ich muss dazu sagen, dass mein Vater Datenbanken programmierte und oft am Computer saß, eigentlich andauernd.
Er hatte andererseits das Gefühl, die Nachricht unbedingt als Erstes überprüfen zu müssen, und tippte »Busunglück G...« in die Suchmaschine ein.
Ein schwerer Busunfall hat am Freitagnachmittag in der argentinischen Provinz G. mindestens zwölf Menschen das Leben gekostet, sechzig Passagiere wurden mit zum Teil lebensgefährlichen Verletzungen in mehrere Krankenhäuser eingeliefert. Nach Angaben der Behörden befinden sich unter den Todesopfern zwei deutsche und drei bolivianische Touristen.
(...)
Laut der lokalen Polizei starben sieben Menschen an der Unfallstelle, fünf auf dem Transport in ein Krankenhaus. Die meisten der Passagiere stammten aus Bolivien, zwei aus Deutschland, Kanada (1), Spanien (1), Frankreich (3), England (1), Peru (3) und Argentinien (5). Die Verletzten wurden in die Krankenhäuser T. G., S. M. und »Dr. P. L.« (alle in G.) eingeliefert.
Zwei Passagiere aus Deutschland.
Die Meldung der Nachrichtenagentur zerstörte die Verwechslungstheorie meines Vaters.
Er war so stolz zwischen seinen beiden Söhnen auf der Straße gegangen. Er war so leidenschaftlich Vater gewesen. Er hatte sich als Kind schon vorgestellt, mit weißem Rauschebart zwischen Enkeln zu sitzen. Das Ziel seines Lebens war gewesen, ein weiser Großvater zu werden.
Mein Vater saß vor dem Laptop und hörte das gewaltige Krachen, mit dem seine Gedankengebäude einstürzten.
Er griff zum Telefonhörer und tippte die Nummer der deutschen Botschaft in Argentinien ein.
Die Dame des Bereitschaftsdienstes meldete sich.
»Erst einmal mein herzliches Beileid, Herr Schneiderhans«, sagte sie. »Ich kann die Informationen bestätigen. Es ist extra jemand hinausgefahren, um die beiden zu identifizieren.«
Was er jetzt tun solle, fragte mein Vater.
»Hier ist es drei Uhr nachts. Ich habe die Unterlagen nicht vollständig vorliegen. Der zuständige Mitarbeiter kommt Montagfrüh in die Botschaft, gegen neun Uhr. Könnten Sie morgen noch einmal anrufen?«
Die Nachricht war zweimal bestätigt worden.
Mein Vater musste davon ausgehen, dass sie stimmte.
Es gab eine leise Stimme, die ihm sagte, dass die Nachricht tatsächlich stimmte.
Es gab eine lautere Stimme, die sagte, dass es einfach nicht stimmen konnte.