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Der überschlagene Winter
ОглавлениеAn dieser Stelle springt mein Vater zurück in die Zeit, als er mit mir telefonieren konnte.
Die Zeit anhalten zu wollen, dem Augenblick zu gebieten: »Verweile doch!«, ist allerdings ein faustischer Wahnsinn.
Doch mein Vater kennt ein Mittel: die Kunst, zum Beispiel die Literatur. Eine erzählte Geschichte hält die Zeit zwar nicht wirklich an, für Leute wie meinen Vater aber irgendwie doch.
Denn für die Dauer des Erzählens oder Lesens bewegt man sich in einer anderen Zeit. Selbst wenn die Geschichte zu Ende ist, kann man sie wieder hören oder wieder lesen und alle ihre Figuren in der anderen Zeit wiederbeleben.
Jetzt muss ich meinen faustischen Vater erneut unterbrechen. Meiner Meinung nach kann es in diesem Kapitel lediglich um die Frage gehen, wie ich nach Argentinien in den Bus gekommen war, der 32 Stunden lang von Bolivien nach Buenos Aires fuhr.
Die Antwort ist einfach: Nach der Schulzeit wollte ich für einige Zeit ins Ausland und Abstand gewinnen.
Mein Vater unterstützte die Idee unter anderem, weil ich in all den Jahren auf der Schule keinen einzigen Schüleraustausch mitgemacht hatte.
Erst einmal jobbte ich also drei Monate lang, denn meine Eltern sollten nicht die ganze Reise bezahlen. Ich arbeitete abwechselnd eine Woche lang in der Spätschicht, dann in der Frühschicht. Dass ich die Spätschicht durchhielt, wunderte meine Eltern nicht, wohl aber, dass ich so konsequent für die Frühschicht aufstand.
Meine Schulfreundin Mara zog es ebenso wie mich nach Südamerika.
Also planten wir die Reise zusammen. Unterwegs wollten wir ein paar Leute treffen, die auch alle nach dem Abi verreisten. Allerdings flogen die meisten nach Thailand oder Bali oder Australien. Unser Kompromiss bestand darin, alle Ziele miteinander zu verbinden. Mara und ich kauften ein sogenanntes ›Around the World Ticket‹.
Meine Eltern fühlten sich überrascht bis überrumpelt, als sie erfuhren, dass wir in insgesamt acht Monaten einmal um die Welt fliegen wollten. Letzten Endes aber gefiel die Idee meinem Vater: »In acht Monaten um die Welt« erinnerte ihn an Jules Vernes’ Klassiker In achtzig Tagen um die Welt.
So sah der Plan aus:
15.10. Start in Frankfurt
16.10. Ankunft in Bangkok, Thailand
16.12. Ankunft in Denpasar auf Bali, Indonesien
16.1. Ankunft in Sydney, Australien
15.2. Ankunft in Auckland, Neuseeland
15.3. Ankunft in Santiago de Chile
15.6. Abflug in Buenos Aires, Argentinien
16.6. Rückkehr nach Frankfurt
Mein Vater nannte es den »überschlagenen Winter«, weil wir Deutschland im Herbst verließen und nach Thailand, in die tropische Sonne, flogen. Von dort aus ging es weiter durch den Sommer auf der Südhalbkugel bis zur Rückkehr in den nächsten deutschen Sommer.
Zu Beginn waren wir zwei: Mara und ich.
Maras Freundin Leonie schloss sich uns für den ersten Teil der Reise an. Sie flog ein paar Stunden vor uns in einem anderen Flieger nach Bangkok. Da waren wir drei.
In Bangkok stießen Bert, genannt Robbe, und Gereon aus unserer Jahrgangsstufe zur Gruppe. Sie waren schon einige Zeit in Asien unterwegs. Da waren wir fünf.
Von Bangkok aus ging es über Chiang Mai nach Pai im Norden Thailands. Dort lernten wir jede Menge neue Leute kennen. Es bildete sich das Spicy Team, dem außer uns Fünfen ein weiterer Deutscher angehörte, dann ein Paar aus Israel, zwei Franzosen, zwei Engländer, ein Holländer, ein Australier namens Mick und schließlich Liam, der Amerikaner mit dem Brustkorb eines Quarterbacks. Da waren wir zeitweise 15.
Auf der Reise durch Laos und Vietnam trennten sich manchmal die Wege, manchmal traf man sich wieder.
Weihnachten feierten wir auf Bali. Das Spicy Team hatte sich zu diesem Zeitpunkt aufgelöst. Stattdessen trafen wir uns mit einigen Schulfreunden, die eine Villa gemietet hatten. Maras Freundinnen besuchten uns ebenfalls dort, und als besondere Überraschung für Mara tauchte Lenny auf, ihre große Liebe.
In Sydney waren wir nur noch drei. Mara, Leonie und ich verabredeten uns mit einigen Jungs aus unserer Stufe, die sich ebenfalls gerade in Australien aufhielten. Außerdem stießen wir wieder auf den Amerikaner Liam, den wir in Thailand kennengelernt hatten. Mit ihm und einer weiteren Freundin verabredeten wir uns für eine Tour im Campervan durch Neuseeland.
Danach waren wir wieder zwei: Mara und ich.
Wir erholten uns eine Weile bei Maras Gasteltern aus ihrem ehemaligen Schüleraustausch in Auckland.
Von da aus ging es weiter mit dem Flug nach Santiago de Chile. Wir starteten nachmittags um 16.10 Uhr, flogen viele Stunden über den Pazifik und landeten am selben Tag vormittags um 11.40 Uhr in Santiago. Es war anscheinend doch möglich, die Zeit zurückzudrehen.
Von Santiago aus fuhren wir nach Valparaíso ans Meer. Die letzte Mail, die mein Vater erhalten hatte, stammte vom 19.3. und bestand aus wenigen Sätzen: »Bin eben heil in Valparaíso angekommen und im Hostel gestrandet. Melde mich, wenn’s weitergeht.«
Es ging dann weiter in die Hochebene Boliviens nach Uyuni, dem Gebiet der gigantischen Salzwüste. Ich fotografierte die farbigen Seen und Kolonien von rosa Flamingos. Ich schrieb Notizen in mein Reisetagebuch, aber keine E-Mails mehr. Vielleicht, so spekulierte mein Vater, machte sich nach sechs Monaten Unterwegssein ein leises Heimweh bemerkbar.
Als Nächstes hatten wir uns mit Maras Bruder Janosch und seiner Freundin Sarah in Buenos Aires verabredet. Deshalb saßen wir in diesem Bus.
Mein Vater wollte die Vorgeschichte aber nicht mit seinen Worten erzählen. Ich selbst sollte sie erzählen, mit meinen Worten. Auch wenn ich nicht dazu kommen sollte, das Ende der Reise zu erzählen, dann doch auf jeden Fall den Beginn.
Es gab vier etwas ausführlichere Mails, die ich in den ersten Wochen der Reise nach Deutschland geschickt hatte. Für meinen Vater waren das keine ›einfachen‹ Mails mehr. Es waren ›Dokumente‹.
Sie waren in flüchtigen Situationen geschrieben worden, mit dem Laptop auf den Knien, oftmals am Rande des Einschlafens. Aber genau die Unvollkommenheiten machten sie für meinen Vater so authentisch.