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Kapitel 8

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Renard ließ sich an der Pförtnerloge des imposanten Versicherungspalastes die Büronummer des Personalchefs Lafayette geben und schritt munter durch den Korridor des Erdgeschosses seinem Ziel zu. Im Vorzimmer ließ er sich anmelden und wurde auch sofort hineingerufen. Erstaunt hörte die Sekretärin lautes Hallo und Schulterklopfen, dann schloß sich die Lederpforte. Zwischendurch nahm sie einen Anruf entgegen. Sie legte auf, suchte in einer Schublade nach einem Schlüssel, fuhr mit dem Fahrstuhl ins dritte Stock, schloß dort eine Tür auf und kehrte wieder an ihren Arbeitsplatz zurück. Nach einer Stunde verabschiedete sich Renard von Lafayette mit lautem Hallo und Schulterklopfen, nickte der Schönen im Empfang heiter zu, verließ das Zimmer, betrat den Fahrstuhl und fuhr zum dritten Stock. Er pfiff leise vor sich hin. Von Lafayette hatte er Verschiedenes erfahren. Armida Cecchini hatte am Mittwoch wegen des Todes ihres Vaters um eine Woche Urlaub gebeten. Dr. Vlassens war am Samstag von einem vierwöchigen Urlaub auf Martinique zurückgekehrt.

Im 3. Stock war weniger Betrieb als im Parterre, er orientierte sich an den Pfeilen und fand schließlich, was er suchte. Er schaute nach rechts und links, konnte niemanden sehen, klopfte vorsichtshalber unter dem Schild A.Cecchini Auslandskorrespondenz Italien an, als er nichts hörte, schlüpfte er hinein und sah sich um. Ein Regal an der Wand, das alle möglichen französisch-italienischen Fachlexika und andere Literatur beherbergte, ein Schreibtisch vor dem Fenster, auf dessen Konsole blühende Topfpflanzen standen, gerahmte Fotos italienischer Städte und Landschaften an den Wänden. Der Schreibtisch war leer bis auf eine Schreibmaschine und einen Aktenordner. Renard setzte sich davor, zog einige Utensilien aus der Jackentasche, breitete sie vor sich aus, schüttete ein weißes Pulver auf die Schreibunterlage, blies es vorsichtig darüber und betrachtete das Ergebnis. Er schüttelte den Kopf, putzte das Pulver mit seinem Taschentuch fort und öffnete den Aktenordner, in dem einige Übersetzungen abgeheftet waren. Er bepuderte ein Trennblatt aus rotem Plastik mit einem Haarpinsel, blies wieder darüber und nickte befriedigt: dann nahm er ein Stück Klebefolie, drückte sie auf den Abdruck, zog sie wieder herunter und verwahrte sie in einem Behälter. Die Prozedur wiederholte er noch an anderen Stellen, dann zog er aus seiner Brieftasche ein Blatt Papier, legte es neben sich und ließ die Augen zwischen den Unterschriften auf den Übersetzungen und dem Blatt daneben pendeln. Er seufzte, dann faltete er das Blatt wieder zusammen, schob es in seine Rocktasche, legte alles wieder so hin, wie er es vorgefunden hatte, pustete noch etwas Puder von der Tischplatte, spähte zur Tür hinaus, sah niemanden, verließ das Zimmer und schritt zum Aufzug.

Er fuhr ins Souterrain und suchte die Küche der Kantine auf, in der das Personal mit der Vorbereitung des Mittagsmahls beschäftigt war. Renard wandte sich an einen Koch, dessen Mütze ihm etwas höher vorkam als die der anderen, und fragte: "Guten Morgen! Sagen Sie, haben Sie noch die Speisekarte von letzter Woche?"

Der Koch hielt mit dem Schlagen von Eischnee inne und wunderte sich: "Nein, ich fürchte, die haben wir weggeworfen. Worum geht es?"

"Um den Speiseplan vom Donnerstag."

"Wozu wollen Sie den denn haben?"

"Ja, wissen Sie, da war ein Gericht, das hat meiner Frau so gut gefallen, als sie hier war, das wollte sie gern nachkochen, wußte aber nicht mehr, ob es Huhn war oder Kalb."

"Na, wenn Ihre Frau das nicht herausgeschmeckt hat, dann sollte sie das Kochen aufgeben und nur noch bei uns essen," flachste der Küchenchef. "He, Pierre," rief er einem anderen Weißbemützten zu, der in einer Pfanne rührte, "weißt du noch, was wir Donnerstag hatten? War das nicht Carbonade à la flamande?"

"Nee, Chef, es war Ente à l'orange. Carbonade war Dienstag."

"Aber Mittwoch hatten Sie doch Coq au vin!?" stocherte Renard weiter.

"Nein, daran kann ich mich genau erinnern, da hatten wir Pfeffersteak."

"Oder Montag?"

"Auf keinen Fall, montags servieren wir immer Couscous."

"Also dann Freitag?"

"Freitags gibt's doch Fisch!"

Renard zuckte die Achseln: "Dann wird sich meine Frau wohl geirrt haben, sie kann doch nicht auch noch Ente mit Kalb verwechselt haben." Er ging kopfschüttelnd davon, und der Meisterkoch lachte hinter ihm drein.

Renard fuhr ins Revier zurück, ließ sich die Fotos der Fingerabdrücke Armida Cecchinis kommen, die von der Klarsichtfolie stammten und verglich sie, die Lupe vor Augen, mit denen, die er im Aktenordner ihres Büros gefunden hatte. Nach der Untersuchung richtete er im Stuhl auf, biß sich in die Unterlippe und murmelte: "Also wieder nichts. Die Unterschrift scheint auch o.k.. Verdammter Dupont, warum hast du mir diesen Floh ins Ohr gesetzt, ich beginne dich zu hassen."

Die Erinnerung an den anderen Mißerfolg in der Kantine ließ ihn ans Essen denken, er lud Laffitte, dem er auf der Treppe zu den Diensträumen begegnete, ein, mit ihm ins Restaurant zu gehen. Gemeinsam wanden sie sich zwischen den im Dauerstau vor sich hin dampfenden Autos hindurch und betraten ihr Stammlokal gegenüber. Renard berichtete Laffitte kleinlaut von den Fehlschlägen und dieser feixte.

"Also wieder einen Rückfall gehabt! Das gönne ich Ihnen Chef, ja, ja, wie war das noch mit dem Spruch vom Phantastischen und dem gesunden Menschenverstand?"

"Ich zitier's nicht noch einmal," protestierte der Kommissar lachend.

"Ja, und in diesem Zusammenhang habe ich noch einen weiteren Tiefschlag für Sie. Die roten Flecken auf dem Taschentuch sind eindeutig Rinderblut. Hier haben Sie den Laborbericht."

"K.o.," rief Renard, als er das Blatt empfing, "aber ich nehme trotzdem nicht meinen Abschied. Was würde denn aus Ihrem Seelenleben werden, wenn Sie sich nicht mehr an meinem Mißgeschick weiden könnten?"

Sie löffelten die Gemüsesuppe. Renard trank zur Abwechslung diesmal Bier, es war wieder heiß draußen, der Sommer war nun wirklich da nach den letzten schlechten Wochen. Erst am Freitag hatte der Regen aufgehört. Er zog seine Jacke aus und legte sie neben sich.

Laffitte sah von seinem Teller auf: "Ich war also weisungsgemäß in der Rue Béranger."

"Wie das klingt, weisungsgemäß, wollen Sie mich auf den Arm nehmen?"

"Scherz beiseite, da hat sich doch etwas Interessantes ergeben. Sie waren ja in der Nacht zum Sonntag da, erinnern Sie sich an die Baustelle? Man hat den Bürgersteig mit Baukränen und Maschinen vollgestellt und mit einem Zaun gesichert. Das Trottoir wurde davor gelegt, es ist mit Bohlen gegen den Damm abgegrenzt. Es ragt also etwa einen Meter auf die Straße hinaus, deswegen hat man auf der ganzen Strecke ein absolutes Halteverbot erlassen. Die Straße ist relativ schmal und durch sie verkehrt ein Linienbus. Wenn am Bauzaun Wagen parken, kann der Bus kaum passieren, deswegen achtet die Verkehrspolizei darauf, daß niemand die Durchfahrt blockiert und schickt ständig Abschleppwagen hin. Ab 22,30 Uhr geht aber der Bus nicht mehr, von da ab bis morgens um 7 werden die Wagen nicht mehr entfernt, deswegen riskieren es Leute, die nur mal schnell in ein Haus hopsen wollen, dort das Auto abzustellen. Trotzdem werden sie aufgeschrieben, wenn die Streife vorbeikommt. Der Gendarm hat mir gesagt, daß auch Samstagnacht ein paar Knöllchen verteilt worden sind. Ich habe mir die Wagennummern und die Adressen der Besitzer auf dem Revier geben lassen. Hier sind sie."

Er legte dem Kommissar eine Liste mit sechs Namen und Adressen neben den Teller. Der ließ den Blick schnell darübergleiten:

"Ausgezeichnet! Ich kann mir zwar nicht denken, daß sich der Mörder erwischen ließ. Er hat wohl kaum mehr als eine Minute gebraucht, um nach der Öffnung der Tür die Frau aus dem Wagen vor die Grube zu schleppen und hinunterzustoßen, aber vielleicht kann sich einer derjenigen, die sich ein Protokoll eingefangen haben, an irgendetwas erinnern."

"Die Brettertür des Bauzauns war nur mit einem Hängeschloß gesichert, das an Krampen hing, der Täter hat schlicht einen herausgehebelt."

"Hat die Spurensicherung eigentlich das Schloß auf Fingerabdrücke hin untersucht?"

"Ja, Fehlschlag. Es ist völlig verrostet, da haftet kein Abdruck."

"Haben die Leute von gegenüber etwas bemerkt?"

"Also keiner weiß irgendetwas Präzises. Es ist dort ziemlich dunkel, weil die Laternen durch den Bauzaun verdeckt sind. Alle sagen, daß dort nachts öfters Wagen an- und abfahren, weil in der Nähe ein Cabaret ist, dann steigen dort die Besucher aus und man stellt den Wagen ab, wenn sie sich trauen oder das Schild nicht gesehen haben. Deswegen guckt keiner mehr richtig hin."

"Gut, dann versuchen Sie diese Leute auf dem Zettel zu kontaktieren und fragen Sie sie aus."

Jetzt begann also die Ochsentour, dachten Laffitte und Renard gleichzeitig. Laufarbeit, treppauf, treppab, endlose Fahrten, Interviews mit Leuten, die keine Zeit oder Angst vor ihnen hatten, sich belästigt fühlten, denen man die Würmer aus der Nase ziehen mußte, welche Polizisten für Untermenschen hielten, die man hochnäsig behandeln konnte, oder man hielt sich an die Omertà, nichts gehört, gesehen, gerochen haben, das war bequem und auf jeden Fall das Sicherste.

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