Читать книгу Glücksspiel - Hans W. Schumacher - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеDupont wäre auf der Heimfahrt in der Metro fast eingeschlafen, so zerschlagen war er nach dem Gespräch mit dem Kommissar. Die Enttäuschung nagte an ihm. Mein Gott, diese Polizisten waren doch tatsächlich so borniert, wie sie Poe beschrieb, seit 150 Jahren hatte sich nichts geändert. Er schleppte sich von der U-Bahn nach Hause, stieg die knarrenden vier Treppen hoch und ließ sich im Wohnzimmer aufs Sofa fallen. Die Sonne warf leuchtende Flecken auf das Parkett, ein warmer Sommerwind bewegte die Tüllgardinen. Er nahm einen Schluck kalten Kaffee, ließ ihn durch die trockene Kehle rinnen und dachte nach. Plötzlich lächelte er triumphierend. Der Kommissar wollte stärkere Beweise, er würde sie bekommen. Er stand auf, ging in die Küche, zog eine Schublade auf, entnahm ihr eine Zange und ein Stück starken Draht. Am Tisch sitzend bog er ihn zurecht, bis er gut in der Hand lag, dann probierte er den Dietrich an der Zimmertür aus, das Klicken des Schlosses erfüllte ihn mit Stolz. Er war nicht nur ein exzellenter Detektiv, er würde auch einen guten Einbrecher abgeben!
Er ging hinunter und betrat das Nachbarhaus. Zum Glück war die Concierge nicht in ihrer Loge, er huschte behend die Stufen hinauf, begegnete auch niemand. Es war bald Mittagszeit, aus allen Wohnungen drangen Küchendünste. Geräuschlos erklomm er die letzte düstere Stiege zum Dachgeschoß, die stickige Luft wurde von einem einzigen goldenen Lichtstrahl durchschnitten, in dem Sonnenstäubchen blitzten. Er wagte kaum zu atmen. Er suchte im Halbdunkel das Türschild und fand es: A. Cecchini. Er drückte ein Ohr an das Holz, nichts war zu hören, nur der Wind, der um das Dach wehte. Der Dietrich drehte sich knackend, er suchte den richtigen Druckpunkt, der Widerstand gab nach, die Pforte öffnete sich, er trat in einen Flur, von dem vier Türen zu Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer abgingen. Er kannte die Anordnung der Räume aus seinem eigenen Mietshaus.
Obgleich er überzeugt war, daß niemand da war, ging er auf Zehenspitzen über den Flurteppich, trat in die merkwürdigerweise sauber aufgeräumte Küche ein und suchte: keine tote Maus, keine Blutflecken, nichts. Er fröstelte, seine Handflächen wurden feucht. Er war so sicher gewesen, der Kommissar hatte mit seiner Skepsis doch recht gehabt.
Aber es blieb noch eine Chance: die Lektüre. Er schlich ins Wohnzimmer und sah einen Bücherschrank vor sich. Er begann systematisch oben links und arbeitete sich allmählich nach unten durch. Offenbar waren die Bände chronologisch geordnet, auf dem obersten Brett stand die neueste Literatur: Moravia, Pavese, Morante, Anouilh, Sartre, Hemingway, danach kam das 19., Manzoni, Carducci, Leopardi, Balzac, es folgte das 18. Jahrhundert, er kauerte sich nieder, aber als er unten rechts anlangte, hatte er das Gesuchte nicht gefunden. Seine Hände zitterten, sein Mund schmeckte sauer. Ihm wurde fast übel. Er richtete sich auf, schloß die Schranktüren und sah sich um.
Auf dem leeren Schreibtisch neben dem Fenster lag ein kleines ledergebundenes Buch. Er ging, eine neue Enttäuschung erwartend, langsam hinüber, nahm es in die Hand, hielt den Buchrücken vor seine Augen, und sein Herz krampfte sich vor Entzücken zusammen: Tasso: La Gierusalemme liberata entzifferte er die kleinen verblaßten Goldlettern. Seine Schläfen pochten, er setzte sich auf den zierlichen Sessel vor dem Schreibtisch und schlug den Quartband auf. Auf dem Vorsatzblatt stand eine Widmung in blauer Tinte: Dir, Armida, mit herzlichen Glückwünschen von Deiner Alida. Dann kam das reich verzierte Titelblatt mit Verlagsort und -jahr: Pavia 1860. Er betrachtete die vergilbten Kupferstiche. Da waren sie: Goffredo in seiner glänzenden Rüstung, Armida, die schöne Fee mit halbkugelförmigen weißen Brüsten in ihrem Palmengarten, Rinaldo auf einem Schlachtroß, Tancred sein Schwert schwingend, wahrhaftig keine Maus, stark wie ein Löwe, Rinaldo in nichts nachstehend.
Es war still im Zimmer, nur zuweilen hörte er ein sanftes, undefinierbares Geräusch. Das war wohl der Wind, der um die Mansardenfenster strich. Ihm wurde ängstlich zumute, es war, als ginge der Geist der Toten seufzend durch die verlassenen Räume. Er steckte das Buch in die Innentasche seiner Jacke. Er würde noch das Schlafzimmer in Augenschein nehmen und dann verschwinden. Er betrat wieder den Flur und drückte die Klinke der Schlafzimmertür nieder. Der seltsame hechelnde Laut verstärkte sich, als er sie weiter öffnete.
Ein gellender Schrei zerriß die Luft. Er wußte nicht, ob er ihn ausgestoßen hatte oder Armida: sie lag nackt auf dem Bett in den Armen eines nackten, braungebrannten Mannes. Dupont starrte auf ihre Brüste, dann in ihre vor Schreck geweiteten Augen.
"Du bist tot, du mußt doch tot sein!" schrie es in ihm. Der Mann richtete sich zwischen den Schenkeln der Frau auf und durchbohrte ihn mit einem wütenden Blick. Oh Gott, das war ja Vlassens! Henri wandte sich zur Flucht, den Dietrich in der Hand, als könnte er sich nicht von ihm trennen.
Er stolperte der Wohnungstür zu, aber bevor er sie erreichen konnte, fühlte er einen Schlag auf den Hinterkopf, der ihm schwarz vor Augen werden ließ. Er kippte nach vorn, schlug mit der Stirn gegen die Wand, es dröhnte in ihm, und er rutschte langsam zu Boden. Ein grauer Kater und eine weiße Maus irrlichterten durch sein schwindendes Bewußtsein.
Da gellte die Türglocke.
Vlassens, der mit einer kleinen Bronzefigur bewaffnet, nackt über dem Körper Duponts stand, zuckte zusammen. Die Frau, die sich inzwischen einen Morgenrock übergeworfen hatte, nickte ihm stumm zu, er verstand, sie mußten den Eindringling verbergen.
Es klingelte wieder, und eine Stimme tönte: "Aufmachen, Polizei!"
Entsetzen überflog ihr Gesicht, sie packte Duponts Beine, er griff unter seine Achseln und gemeinsam schleiften sie ihn ins Schlafzimmer. Vlassens ließ sich aufs Bett fallen und versuchte zappelnd die Beine in seine Hose einzufädeln, die Frau schloß leise die Tür, als wieder ungeduldig die Klingel tönte. Laffittes Stimme donnerte: "Polizei! Aufmachen oder wir treten die Tür ein!"
Die Frau betrachtete sich im Flurspiegel, strich das Haar zurecht, suchte sich ein beherrschtes Aussehen zu geben und öffnete.
"Wer sind Sie? Was wollen Sie?" fragte sie indigniert die beiden Männer, die vor ihr standen.
"Polizei," sagte Laffitte, er hielt ihr seinen Ausweis vor die Augen, "Sind Sie Armida Cecchini?"
"Natürlich, das bin ich, was soll die Frage?" Laffitte nickte stumm, er hatte es doch gewußt. Nun stand er da und ihm fiel nicht ein, was er noch tun konnte. Immerhin war da dieser dumpfe Fall zu hören gewesen und die lange Zeit, die bis zum Öffnen der Tür verstrichen war, kam ihm irgendwie verdächtig vor. Laffitte blickte von oben auf die hübsche Frau hinunter, die ihren Morgenrock über der Brust zusammenraffte, dann fiel ihm ein:
"Können Sie mir Ihren Personalausweis zeigen?"
"Einen Augenblick," sagte sie, "ich hole meine Handtasche." Sie glitt zur Schlafzimmertür hinein, dabei sah sie über die Schulter zum Sergeanten hinüber, dessen Jagdinstinkt angesprochen wurde. Da war was nicht koscher, das roch faul.
Fräulein Cecchini schlüpfte wieder durch den Türspalt und zog die Tür hinter sich zu. Sie wühlte in ihrer Handtasche und streckte Laffitte einen Reisepaß entgegen. Der Uniformierte war neugierig hinzugetreten und versuchte, sich auf die Zehenspitzen stellend, über die Schulter des langen Assistenten zu lugen. Laffitte prüfte das Foto genau: ja, das war sie, kein Zweifel, die Frisur war zwar ein wenig anders, aber Frauen änderten nun mal gern öfters ihre Haartracht. Armida Cecchini, geb. 12. 6. 69 in San Remo, Italien. Ledig. Staatsangehörigkeit: französisch. Er hielt ein Blatt gegen das Licht: alles in Ordnung. Die Stempel, die Daten und Unterschriften, alles sah o.k. aus. Er suchte Zeit zu gewinnen.
"Brigadier," sagte er zu dem Polizisten hinter sich, "sehen Sie sich doch auch einmal den Paß an." Der Gendarm blätterte verlegen darin herum, während sich Laffitte in den Flur hinein bewegte. Er wollte näher an das Zimmer herankommen, in das sie sich gepreßt hatte.
"Sagen Sie?" fragte er die Frau, die so nah vor ihm stand, als wollte sie ihm den Weg versperren, "da war vorhin so ein dumpfes Geräusch zu hören, als ob jemand zu Boden gestürzt wäre, ich hörte ein Stöhnen."
"Das war ich, ich bin über die Teppichkante gestolpert."
"Es hörte sich aber nach einem schwereren Körper an, und die Stimme war eher die eines Mannes."
Er trat näher an sie heran, sie wich einen Schritt zurück. Laffittes Blick richtete sich auf den Boden vor ihren Füßen: "Wenn mich nicht alles täuscht, sind das Blutflecken." Er bückte sich und tippte mit dem Finger hinein und zeigte Fräulein Cecchini die rote Fingerkuppe: "Sie müssen sich verletzt haben, Sie ruinieren Ihren schönen Teppich. Sehen Sie, da sind noch mehr." Und er wies hinter sie.
"Lassen Sie mal sehen, wo Sie sich verletzt haben." Er musterte sie: "Da ist nichts." Er machte eine Pause: "Darf ich einen Blick in das Zimmer da hinten werfen?"
"Was fällt Ihnen ein, haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?"
"Die Polizei braucht keinen Durchsuchungsbefehl, wenn Gefahr im Verzug ist," sagte Laffitte.
Die Schlafzimmertür öffnete sich weit, Vlassens erschien völlig angekleidet in der Öffnung und sagte:
"Kommen Sie herein Inspektor, es ist etwas Seltsames passiert."
Er wies auf den neben der Tür liegenden Dupont, dessen Hand noch den Dietrich umklammerte. Laffitte fiel vor Erstaunen das Kinn herunter, er kniete sich neben den Ohnmächtigen, zog sein linkes Augenlid nach oben, sah sich die verdrehte Pupille an, prüfte den schwachgehenden Puls und fragte: "Wie ist das geschehen? Ich kenne den Mann."
"Ich auch," sagte Vlassens, "ich bin sein Vorgesetzter in der Assurance Internationale. Kurz bevor Sie hereinkamen, muß er sich mit dem Nachschlüssel Zugang zur Wohnung verschafft haben. Er trat plötzlich in das Schlafzimmer, in dem wir uns beide aufhielten, sah uns, wollte fliehen, da habe ich ihn aufgehalten."
"Sie haben aber gut zugeschlagen," sagte Laffitte und betrachtete die blutige Wunde am Hinterkopf Duponts, "hoffentlich hat er keinen Schädelbruch. Wo ist das Telefon?"
"Im Wohnzimmer," sagte Vlassens und ging geschäftig voraus. Laffitte wies den Polizisten an, bei Dupont zu bleiben, und folgte Vlassens, der ihm den Hörer in die Hand gab: "Die Nummer des Notdienstes ist 2003."
"Ich weiß," sagte Laffitte. Er bestellte den Unfallwagen und wählte die Nummer des Reviers: "Chef, kommen Sie schnell in die Rue Bernard 11, Mansarde, es ist etwas passiert." Er horchte angestrengt an der Muschel, schaute abwesend ins Gesicht der beiden Mitlauschenden, dann sagte er: "Ich kann jetzt nichts sagen, Sie müssen selbst sehen."
Er ging ins Schlafzimmer zurück, Armida und Vlassens auf den Fersen. Stumm starrten alle vier auf den bleichen Dupont hinunter. Laffitte schüttelte den Kopf: daß diese Bekloppten nun auch noch selbst den Detektiv spielen mußten! Das hatte er nun davon! Er konnte sich denken, was er hier oben gesucht hatte. Aber da war nun mal nichts. Katzen und Mäuse, daß ich nicht lache!
Nach einiger Zeit hörte man durchs offene Fenster den Sirenenton des Krankenwagens. Laffitte beorderte den Polizisten auf den Vorflur, um den Arzt und die Sanitäter zu empfangen, als er auch das Tatütata des Streifenwagens vernahm. Renard kam fast gleichzeitig mit den Männern, die die Trage mit sich führten, auf dem Treppenpodest an. Laffitte zog ihn in eine Ecke, um ihm zuzuraunen, was geschehen war. Der Arzt horchte mit fragendem Gesicht hinüber, bekam aber nur einzelne Wörter mit: "Hab's doch gewußt, Paß, Einbruch, Schlag, bewußtlos...", da öffnete sich die nächste Wohnungstür und ein junger Mann um die dreißig, der eine silbergraue Perserkatze auf dem Arm kraulte, trat auf den Korridor hinaus.
"Was ist denn hier los?" Er gaffte die versammelten Männer an, und die beiden Kriminalisten starrten auf den Kater. Dem Kommissar gelang es als erstem, die Trance zu durchbrechen.
"Sagen Sie," er überging die Frage, "gehört diese Katze Ihnen?"
"Ich denke schon," meinte dieser überrascht, "allerdings kann man das bei Katzen nie so genau wissen."
"Und wie nennen Sie sie?"
"Renaud. Wissen Sie, ich hatte einen Onkel, der hieß so, und diese Katze sieht ziemlich onkelhaft aus." Renard lachte zustimmend, die Miene des dickköpfigen Tiers war die eines mürrischen kleinen Potentaten.
"Sie heißt nicht etwa Rinaldo?" fragte Laffitte sardonisch grinsend.
"Wieso? Ich denke doch, daß wir hier noch immer in Frankreich sind. Hallochen, Fräulein Cecchini! Was geht denn hier über die Bühne?" rief er Armida zu, die gerade verlegen über den Trubel dem Arzt und den Trägern mit der zusammengerollten Trage Platz machte und in den Vorflur trat.
"Da haben Sie es, Chef!" flüsterte Laffitte siegesbewußt und den Faden, den der Katzenmann gesponnen hatte, aufnehmend, in Renards Ohr, "ce qui n'est pas clair n'est pas français. Das ist doch alles klar wie Kloßbrühe."
"Na klar," entgegnete Renard achselzuckend, "aber zuviel Licht kann auch blenden."
Die Sanitäter erschienen mit dem auf die Trage geschnallten Dupont, dem der Arzt einen weißen Turban um den Kopf gewickelt hatte: "Er muß schleunigst ins Krankenhaus," sagte der Notarzt zu dem Kommissar, "Schädeltrauma, immer noch bewußtlos. Vorsicht," rief er den Trägern zu, "nicht anstoßen und schaukeln." Sie verschwanden in der Tiefe.
Gedankenverloren bewegte sich Renard auf die Wohnungstür von Fräulein Cecchini zu und ließ den Nachbarn weiter auf seine Antwort warten. Laffitte folgte ihm und schaute auf den Kopf vor sich hinunter, was ging unter diesem grauen Pelz vor?
"Will einem denn niemand sagen, was hier abgeht?" rief der Katzenmann aufsässig quäkend und kraulte Renaud so stark hinter den Ohren, daß dieser fauchend auf den Boden hopste und hinter der Tür verschwand.
Renard, Laffitte und der Polizist gingen im Gänsemarsch hinter Armida her in das Appartment. Der Nachbar verzog sich in seins, ließ aber die Tür einen Spalt breit offen, um hören zu können, wie es weiterging.
Vlassens, jeder Zoll Citoyen und Gentleman, empfing die Gesellschaft an der Tür zum Wohnzimmer. Er gab Renard die Hand und stellte sich vor: "Ich bin Gustave Vlassens, juristischer Berater in der Assurance Internationale. Das ist Fräulein Cecchini, sie arbeitet gleichfalls in unserer Gesellschaft. Wir sind befreundet." Er wies, als wäre er der Hausherr, mit grandseigneurialer Gebärde auf die Mahagonisessel um einen Empiretisch.
"Nehmen Sie doch Platz, Herr Kommissar! Eine fürchterliche Geschichte. Ich kann es immer noch nicht fassen. Einer unserer Mitarbeiter, ein Dieb. Natürlich, es gibt hier lauter wertvolle Dinge...." Er deutete auf die Möbel, Bücher, Teppiche und Bilder um sich, und Renard war überrascht. Wenn er auch von Kunst nicht viel verstand, aber selbst als Laie konnte er erkennen, daß dies keine Imitationen waren. Der zierliche Empire-Schreibtisch, die prächtigen Goldrahmen um kleine impressionistische Gemälde, der phantastische rote Perserteppich, die Bronzestatuette auf dem Glasschrank, in dem Bücher mit Goldrücken standen, soviel wußte auch er, daß das ein Vermögen wert war. Wie kam eine kleine Angestellte dazu? Aber spielte das noch eine Rolle? Die Sache, um die es eigentlich ging, war ja sonnenklar. Er betrachtete Fräulein Cecchini und Vlassens, die auf dem Empire-Sofa ihm gegenüber Platz genommen hatte, Laffitte stand mit untergeschlagenen Armen hinter ihm an den Türrahmen gelehnt, der Polizist blickte vom Korridor her hinein. Der Jurist sah vertrauensvoll zu Renard hinüber: "Sie verstehen, ich wollte ihn nicht mit der Beute abziehen lassen."
"Haben Sie denn etwas bei ihm gefunden? Sie werden doch seine Taschen durchsucht haben."
"Ja...nein, ich war zu geschockt, um noch daran zu denken, nachdem ich ihn niedergeschlagen hatte. Wahrscheinlich hatte er mit seinem Raubzug gerade erst begonnen und wollte mit dem Schlafzimmer anfangen. Er könnte es ja auf Fräulein Cecchinis Schmuck abgesehen haben."
Renard beugte sich nach hinten und winkte den Polizisten zu sich: "Boulanger, lassen Sie sich sofort ins Krankenhaus fahren, untersuchen Sie die Anzugtaschen Duponts, requirieren Sie den Tascheninhalt und nehmen Sie alles mit aufs Revier. Lassen Sie ihm eine schriftliche Bestätigung über die beschlagnahmten Sachen da."
"Danke, Herr Kommissar," sagte Vlassens devot, nachdem der Uniformierte abgezogen war. Er versuchte nicht so hoheitsvoll dreinzuschauen wie im Büro.
Renard verzog keine Miene, er verschwieg, was er von den vermutlichen Absichten Duponts wußte. Er war Laffitte dankbar, daß er den Mund gehalten hatte. Guter Polizist, dieser Laffitte, aus dem konnte noch etwas werden.
"Haben Sie denn schon nachgeschaut, ob etwas fehlt. Es könnte ja sein, daß er die Sachen irgendwo deponiert hat, um sie nachher mitgehen zu lassen oder daß er schon vorher einmal da war. Gehen wir doch gemeinsam die Zimmer durch."
Vlassens und die Frau verdrehten gleichzeitig den Hals und ließen den Blick durch den Raum wandern.
"Also, ich sehe nichts," sagte er, "siehst du etwas, Liebling?"
Armida schüttelte den Kopf.
"Ich sehe, Sie haben auch schöne Bücher," sagte der Kommissar sich vom Sessel erhebend und deutete auf den Glasschrank: "Ah, vieles Italienisches, na, ist ja klar. Sie sind aus San Remo, kenn ich gut, das ist ja nicht weit von Nizza, meiner Heimatstadt..." Er bückte sich tiefer: "Ganz alte Sachen auch." Er ließ bewundernde Blicke über die Goldschnittrücken schweifen, und Laffitte dachte: Alter Hund, der läßt nicht locker, den hat Dupont total infiziert.
Renard richtete sich auf: "Und im Vestibül?" Die Hausherrin und ihr Freund gingen an den beiden Kommoden vorbei, musterten die Blumenvasen und die vielen kleinen Bilder in Silberrähmchen rings um den Empirespiegel. "Soweit ich sehen kann, fehlt nichts," sagte Vlassens. Armida ging stumm nebenher.
"Na, gehen wir mal in die Küche," schlug Renard vor.
"Aber was sollte er da genommen haben?"
"Vielleicht altes Porzellan," meinte Renard. Er betrachtete den hellen, vor Sauberkeit blitzenden Raum, alles war aufgeräumt und dekorativ in den Glassschränken angeordnet.
"Sie haben eine hervorragende Putzfrau," sagte er gutgelaunt. Er wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Nase, bückte sich und öffnete den Mülleimer, um es wegzuwerfen. Laffitte sah rote Flecken auf der Innenseite des Deckels. Renard schlug ihn zu und fragte: "Also hier ist auch nichts weggekommen?"
Die beiden ließen die Blicke ratlos über díe Schränke schweifen, öffneten die Türen, bückten sich, sahen hinein: "Nein, auch nichts."
"Um so besser, dann gucken wir einmal ins Bad."
Auch das Bad blitzte, als sei die Putzkolonne gerade erst fortgegangen. Renard nahm ein hübsches geschliffenes Zahnputzglas in die Hand und hielt es gegen das Licht: "Köstliche Arbeit, und das fürs Bad. Alle Achtung!"
"Und nun noch ins Schlafzimmer!" Er ging munter voran, die anderen trotteten gelangweilt hinter ihm drein.
Vor der Tür angekommen, rief Vlassens plötzlich von hinten: "Aber im Schlafzimmer brauchen wir nicht nachzusehen, da war er gar nicht drin, erst als er ohnmächtig war."
Renard hatte aber schon die Klinke ergriffen, öffnete die Tür und warf einen Blick hinein: geblümte Seidentapeten bekleideten die Wände, das breite Bett im Stil Louis XVI. war zerwühlt, zwei Kommodenschubladen waren halb aufgezogen und zeigten wohlgeordnete Wäsche. Renard musterte noch einmal nachdenklich den Blutfleck, der die Wand neben der Tür verunzierte, deutete darauf und klagte: "Schade um die schöne Tapisserie." Dann trat er ans Mansardenfenster und blickte auf das Dach und die Kamine rings umher und schien den Blick zu genießen.
"Eine schöne Aussicht haben Sie hier," sagte er anerkennend. Vlassens nickte, Frau Cecchini schien beklommen. Kein Wunder, der Fleck erinnerte an eine ziemlich unangenehme Szene. Wahrscheinlich waren die beiden gerade in der schönsten Situation gestört worden.
"Also, das wäre zunächst alles," meinte Renard: "Ja, noch eins. Wollen Sie gegen den Einbrecher Anzeige erstatten?"
"Natürlich," sagte Vlassens schnell.
"Die Frage," wies ihn Renard zurecht, "ging eigentlich an die Wohnungsinhaberin, sie ist die Geschädigte."
Fräulein Cecchini schien verlegen, sie rang um eine Antwort, endlich hob sie den Kopf und sagte: "Kann ich mit Herrn Vlassens kurz unter vier Augen sprechen?"
"Selbstverständlich, wir gehen solange in den Salon." Die Kriminalbeamten gingen hinüber. Renard klopfte mit den Fingern auf die Empire-Kommode, während ihn Laffitte nachdenklich anstarrte. Nach ein paar Minuten stieß das Paar zu ihnen und Fräulein Cecchini sagte: "Wir werden keine Anzeige erstatten, es ist ja, soweit wir sehen können, nichts gestohlen worden, außerdem ist es uns unangenehm. Herr Dupont ist doch ein Kollege...."
Vlassens fügte drohend hinzu: "Ungestraft kommt er aber nicht davon. Ich werde veranlassen, daß ihn die Firma entläßt, wir können in unserem Metier keine Kriminellen dulden."
Auweia, dachte Laffitte, das trifft unseren Spinner aber unverdient hart, er wollte den Mund auftun, um Dupont zu verteidigen, seine möglichen Absichten kundzutun, aber Renard sah ihn stirnrunzelnd an, als wüßte er, was er sagen wollte. Laffitte schwieg verdattert. Was hat der Kommissar vor? dachte er, er kann den armen Dupont doch nicht über die Klinge springen lassen.
"Es ist möglich, daß ich Sie noch einmal aufs Revier bitten muß," sagte Renard, zum Abschied jovial Hände schüttelnd, "ach was, was sollen Sie sich bemühen! Ich komme und bringe das Schreiben selbst her, Sie müssen noch eine offizielle Verzichtserklärung auf die Strafverfolgung unterzeichnen. Ohne diese wären wir gezwungen, von Amts wegen ein Verfahren einzuleiten."
"Bis wann würden Sie denn damit kommen? Ich muß am Dienstag zu einer Beerdigung nach Nizza fliegen."
"Das tut mir leid. Darf ich fragen, wer der Verschiedene ist."
"Mein Vater ist vorige Woche gestorben."
"Mein herzliches Beileid!"
Renard legte eine angemessene Pause ein und fuhr dann fort: "Aber danach kehren Sie wieder hierher zurück?"
"Das kann ich noch nicht sagen, wenn Sie es aber wissen wollen, brauchen Sie nur in Cap d'Antibes anzurufen. Haben Sie etwas zu schreiben?" Sie diktierte ihm die Nummer.
"Könnten Sie mir auch die Adresse geben, falls wir Ihnen einen Brief schicken müssen?" Der Kommissar trug alles in ein kleines Notizbuch ein:
"Noch etwas, entschuldigen Sie die Frage: heißt Ihr Vater vielleicht Gasparo Cecchini?"
"Ja," sagte sie erstaunt.
"Dann auf Wiedersehen."
Unter der Tür drehte sich der Kommissar noch einmal zu dem Paar um: "Sagen Sie, mein Fräulein, besitzen Sie eine Katze?"
"Nein," sagte sie erstaunt.
"Aha," murmelte Renard zerstreut, zog eine Pfeife aus der Rocktasche und steckte sie in den Mund.
Der braungebrannte Vlassens begleitete die beiden Beamten die fünf Schritte bis zur Treppe und bemerkte, höflich Konversation machend: "Sie sehen so blaß aus, Herr Kommissar, haben Sie noch keine Ferien gemacht?"
"Nein, mein Urlaub beginnt erst am 1.August. Sie kehren wohl gerade zurück?"
"Ich bin gestern erst wiedergekommen. War vier Wochen in der Karibik."
"Also dann auf Wiedersehen!" Renard und Laffitte stiegen die Treppe hinunter.
Vlassens winkte mit der Hand hinter ihnen her und ging zu Fräulein Cecchini zurück, die ihn in der Tür stehend erwartete.