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Vorwort Es war einmal

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Es war einmal … Wer erinnert sich nicht an diese Worte, mit denen die Märchen, die wir in unseren Kindertagen erzählt bekommen haben, begannen? Damals, als es noch kein Internet, kein Social-Media-Netzwerk und kein Fernsehen mit 120 verschiedenen Kanälen gab, waren es oftmals Oma und Opa, die den Kindern die ersten Geschichten erzählten oder vorlasen. Geschichten, Märchen, Sagen, überlieferte Anekdoten aus der Heimat – erste Erfahrungen für die Kinder, die ihre Fantasie und ihre Gedanken anregten. Es waren Feen, Elfen, Riesen, Kobolde, Zwerge und noch viele andere Wunderwesen, die weder die Kräfte von Superhelden, noch Furcht einflößende Waffen oder Lichtschwerter benötigten, um uns in die Welt der Träume und Geister zu entführen.


Ein Kind, dem nie Märchen erzählt worden sind, wird ein Stück Feld in seiner Seele haben, auf dem in späteren Jahren nichts mehr angebaut werden kann.

Johann Gottfried Herder


Märchen sind oftmals Bilder, Gleichnisse, Metaphern oder Parabeln. Die Kunst des Geschichtenerzählens ist es, die oftmals recht komplexe Zusammenhänge und Lehren des Lebens – ganz speziell für Kinder – verständlich macht. Warum lauschen wir so gerne Geschichten und Märchen? Weil wir darin unterhaltsam und spannend erzählt etwas entdecken oder begreifen und für uns selbst auf einmal ganz einfach erklären können.


Das berühmte Aha-Erlebnis – »Aha, so ist das gemeint!« – hilft oftmals bei Fragen, die man bisher nicht einmal formulieren konnte.


Mindestens genauso wichtig sind Märchen, Sagen und deren Helden aber auch, um die Fantasie der Kinder zu fördern und zu bereichern. Anders als bei Bilderbüchern oder Filmen kann sich das Kind jede erzählte, vorgelesene Figur der Geschichte so vorstellen, wie es möchte. Das ist eine völlig neue, dynamische Form des Kennenlernens und Erfahrens. Es steht jedem frei, wie er sich die Figuren und die Märchenwelt nach seinen Vorstellungen ausmalt: Ob die Prinzessin ein blaues oder ein gelbes Kleid trägt, ob sie langes oder kurzes Haar hat, wie ihr Pferd aussieht und das Schloss, in dem sie mit ihrer Familie lebt, ob der Berg weiße oder graue Felsen hat, ob der Wald aus Tannen oder Eichen besteht, wie sich der Boden dort wohl anfühlt, nichts davon ist vorgegeben, alles kann im Kopf individuell nach Stimmung und Gefühl des Zuhörers gestaltet werden. Natürlich laden die Handlungen der Märchen auch zum Nachdenken ein, im Idealfall sogar dazu, dass sich die Kinder über das soeben gehörte Schicksal und die Taten der Märchenfiguren in einem Gespräch austauschen. Denn schließlich muss nicht jeder mit den Gedanken, Meinungen, Handlungen und Entscheidungen der Märchenhelden einverstanden sein. Mittels Märchenhandlungen können anhand von vergleichbaren, auf die eigenen Lebensumstände übertragbaren Erfahrungen Erlebnisse und Emotionen verarbeitet und durchleuchtet werden, sodass die Kinder lernen, sich und ihre Gefühlswelt besser auszudrücken. Durch die einfache (bildliche) Sprache in den Märchen verstehen die Kinder Konfliktsituationen und Gefühlszustände leichter, können ihre Erlebnisse einordnen, Verknüpfungen zu ihrem eigenen familiären Umfeld und Freundeskreis herstellen. Sie lernen aber auch, für sich selbst Grenzen zu setzen und sich gegen etwas zur Wehr zu setzen, das sie als böse empfinden, indem sie aus dem Happy End der Märchen Mut schöpfen und den Impuls verspüren, eigenverantwortlich nach Auswegen und Lösungen zu suchen und ihrer Intuition zu vertrauen.


Wenn du intelligente Kinder willst, lies ihnen Märchen vor. Wenn du noch intelligentere Kinder willst, lies ihnen noch mehr Märchen vor.

Albert Einstein


Die Geschichten entführen uns auch in eine andere Zeitepoche. Sie lehren Geschichte ohne erhobenen Zeigefinger, erläutern, was es früher bedeutet hat, Bauer, Ritter, Diener, Prinz oder Prinzessin zu sein. All das fördert die emotionale Entwicklung der Kinder. Motivation, Einfühlungsvermögen, Mitleid, Selbsterkenntnis sind psychologische Lernschritte, die seit Generationen durch Märchen getan werden. Den Ursprung der meisten Märchen finden wir unabhängig von der historischen Epoche, aus der sie stammen, in universellen Werten wie Glück, Liebe, Frieden, Freiheit, Respekt, Großzügigkeit und Toleranz. Das sind die hellen Seiten der Märchenwelt. Natürlich fließen auch die dunklen Eigenschaften des menschlichen Lebens in die Geschichten ein, wie etwa Neid, Eifersucht, Habgier, Verrat, Gewalt und Lüge, um nur die finstersten zu nennen.

Jedes Märchen erzählt auf seine eigene Art und Weise etwas über diese Werte der menschlichen Gesellschaft und ist damit Träger einer Botschaft. Eine Botschaft, die, verpackt in eine Lehre, auch noch Erwachsenen im Leben hilfreich sein kann.


Nur das Märchen nimmt einen sich gleichbleibenden Zustand für Glück.

Jacob Christoph Burckhardt


Märchen bieten Kindern die unglaubliche Möglichkeit, sich selbst eine Welt zu erschließen. Ob und wie stark sie sich mit den Figuren aus den Geschichten identifizieren, entscheiden nur sie allein. Die Fantasie ermöglicht es ihnen, in alle Rollen des Gehörten oder später Gelesenen zu schlüpfen. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Gründe, die für frühes Erzählen und Vermitteln der alten Mythen, Sagen und Legenden, für die fantastische Traumwelt der Märchen sprechen und handfeste Argumente dafür liefern, Kindern frühzeitig Märchen vorzulesen beziehungsweise Märchenbilderbücher mit ihnen anzuschauen. Einen wichtigen Grund nennt die Pädagogin und professionelle Märchenerzählerin Sabine Lutkat: »Märchen spiegeln das ›zauberhafte‹ Denken wider, das jedem Kind eigen ist – das Kind behilft sich bei Dingen, die es rational nicht erklären kann, mit magischen Vorstellungen.«

Und das Kind findet sich von Anfang an erstaunlich gut zurecht in der Märchenwelt, in der alles möglich scheint, die beseelt und voller Wunder ist. Märchen sind Magie und sie entsprechen der kindlichen Fantasie. Jeder von uns ist ein Königskind und trägt eine unsichtbare Krone. Das Märchen sagt uns: Geh, mach dich auf den Weg, du wirst erwartet. Denn es gehört zur Entwicklung der kindlichen Identität, sich selbst im Mittelpunkt zu sehen. Entsprechend leicht fällt es ihnen, sich in die zauberhaften Abenteuer hineinzuversetzen. Märchen liefern Kindern Orientierung:


Totaler Sieg des Guten, totale Niederlage des Bösen.


Was für eine klare, wichtige Orientierung in Zeiten der überbordenden Informations- und Gefühlseindrücke. Der Gegensatz von Gut und Böse im Märchen ist außerdem ein wichtiges »Modell für die essentielle Unterscheidung von Gut und Böse«. Dies ist umso wichtiger, weil die Kinder in ihrer Gefühls- und Gedankenwelt das Böse durchaus wahrnehmen. Es zeigt sich in Form von inneren Ängsten, etwa vor dem plötzlichen Verschwinden der Eltern oder dem Auftauchen einer nicht näher definierten »fremden Macht«. Diese diffusen Ängste zu überwinden, gelingt noch nicht durch logisches Denken oder vernünftige Argumente, wohl aber durch die klare Struktur von Märchen. Hier findet das Übel seine konkrete Darstellung in heimtückischen Hexen und bösen Stiefmüttern, in furchtbaren Riesen und gemeinen Zwergen. Darauf können auch schon ganz kleine Kinder Ängste projizieren – und mit dem »märchenhaften« Sieg über das Böse auch überwinden.


Märchen sind Mut- und Gutmacher. Märchen stärken die Vorstellung, das Gute kann am Schluss doch über das Böse siegen.


Der Sieg des Guten bedeutet für Kinderseelen aber noch viel mehr. Schließlich vermittelt er Zuversicht und Vertrauen in die eigene Stärke. Wie es das Leben der Kinder begleitend auch die Eltern und Verwandten tun sollten. In ihrer Vorbildfunktion und als Schutzraum erfüllen sie ähnlich wie die Märchenfigur eine leitende und begleitende Rolle als Identifikationsfigur. Hab keine Angst, vertraue den guten Kräften, die dir nahestehen, und deinen eigenen Fähigkeiten: Das ist die Botschaft der Helden. Wo nötig, gesellen sich die unterschiedlichsten Helfer hinzu, die dem Guten zur Seite stehen und dem kleinen Zuhörer vermitteln: Du bist nicht allein. Es gibt Helfer, die dir in der Stunde größter Angst und Not zur Seite stehen, seien es die Tauben bei Aschenputtel oder das kleine Männlein mit dem schweren Sack beim Ellmauer Esel.

Doch nicht nur das bildhafte Element von Märchen spielt eine große Rolle. Nein. Je jünger die Zuhörer sind, desto mehr lieben und genießen sie die Atmosphäre des Vorlesens: Man kuschelt sich unter einer Decke an Oma, Opa, Mama oder Papa, lauscht ihren vertrauten Stimmen und geht miteinander auf eine märchenhafte Reise. Das ist ein familiäres Ritual, das weit mehr schenkt als nur unterhaltsamen Zeitvertreib. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit als familiäres Gemeinschaftserlebnis stärkt das Urvertrauen und bleibt meist ein Leben lang in Erinnerung.

Oft sind es auch Freunde oder Bekannte, KindergärtnerInnen oder LehrerInnen, die den Kindern mündlich überlieferte Geschichten und Anekdoten erzählen. Kinder schätzen solche Erlebnisse und Darstellungen über alle Maßen und bewahren sie als Seelenproviant in ihren Herzen. Wir alle haben solche Erinnerungen, die uns ein Leben lang begleiten: »Kannst dich noch erinnern, wie der Großvater die G’schicht vom armen Kalbei (Tirolerisch: Kälbchen) verzählt hat?«


Das Märchen hat denselben pädagogischen Wert wie das Spiel. Es bringt mit seinem Außergewöhnlichen und Wunderbaren der kindlichen Einbildungskraft eine ganz neue, bisher unbekannte Welt, die durch einen poetischen Zauber verklärt ist.

H. Kietz


Schöne Märchen sind auch der ideale Steigbügelhalter für die frühzeitige Konfrontation kleiner Kinder mit Tradition und Literatur: Wer von klein auf mit Büchern aufwächst, betrachtet sie als selbstverständliche Lebensbegleiter, und wem frühzeitig vorgelesen wird, der wird später wahrscheinlich auch selbst gerne lesen. Dabei erweisen sich gerade Märchenbücher als sprachlich besonders geeignet: An die Klarheit der Grimm’schen Märchensammlung reicht kaum ein späteres Nachfolgewerk heran. Die klassischen Märchen sind in vielerlei Hinsicht auch Kulturschätze, stehen sie doch für die Schönheit unserer Muttersprache. Die Sagen und Legenden der einzelnen Gegenden geben diesen Erzählungen sprachlich ein spannendes Lokalkolorit. Es sind Geschichten, die, wie erwähnt, nicht immer nur vorgelesen werden müssen: Kinder lieben auch das freie Erzählen durch die Eltern oder Großeltern. Dabei sind den dramatischen Elementen wie der verstellten Stimme, dem Nachmachen von Tierlauten oder auch dem Zeigen von »Blitz und Donner« kaum Grenzen gesetzt. Erzählte Geschichten sind eine Art »Theaterstück der Fantasie«, eine Bühne für die Darstellung von Eindrücken und Vorstellungen. So ist ein Märchen jedes Mal ein wenig anders und lässt noch mehr Raum für kindliche Fantasie und sprachliche Entdeckungen. Märchen bieten Kindern die unglaubliche Möglichkeit, sich selbst eine Welt zu erschließen.


Wer die Wahrheit in einem Märchen erkennt, der weiß, wie Träume wahr werden. Der hat alles Wissen vom Leben. Denn Märchen wahr werden zu lassen, das ist das Leben. Und nichts anderes ist die Poesie.

Klaus Lutz


Zeit für Märchen

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