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Einleitung
ОглавлениеPauls Erwachen
Ein junger Mensch auf der Suche nach der Wahrheit hinter den Erscheinungen
Von Hansjürgen Engel
Einleitung
Kann die Wahrheit gefunden werden in dieser Welt? Die Wahrheit hinter all den Erscheinungen, die für wirklich gehalten und dazu erklärt werden. Und wer machte sich je auf, sie zu suchen? Eine Wahrheit, die nicht von dieser Welt ist, und die doch von näher ruft als des Menschen Herz schlägt. Doch der Mensch hört die Wahrheit nicht. Denn die Welt um ihn ist laut und geschäftig. Und sie hat tausend und abertausend eigene Wahrheiten kreiert und begründet und huldigt ihnen in so vielerlei Formen, dass die Leere ihres Inhalts unweigerlich mit der Fülle des Nichts in Verwechslung gerät.
Am ehesten ließe sich eine aufrichtige Suche nach der Wahrheit noch den Kindern zubilligen. Denn Kindern ist offensichtlich, dass sie nicht verstehen, was sie wahrnehmen, und deshalb fragen sie unvoreingenommen, was es bedeutet. Von einem solchen Kind soll hier die Rede sein. Es ist kein Kind, das herausragende Talente besitzt, kein auffälliges Äußeres, es kommt vielmehr aus einem Milieu wie unzählige andere auch und kämpft seinen Kampf in einem an Jahren noch jungen Leben wie alle mit und neben ihm gleichermaßen. Mit einer kleinen Ausnahme vielleicht: Dieses Kind hat tief in seinem Inneren etwas sich regen gespürt, das ihm wundersam und ermutigend zugleich erschienen ist. Diese geistige Regung, von eines Momentes Dauer nur, kaum länger als drei Herzschläge hallen, hat genügt, sich zu öffnen für das Neue und Unerwartete und sich ihm in vollkommener Offenheit anzuvertrauen, äußeren wie inneren Widerständen mutig trotzend, was in dieser Hinsicht vielleicht doch außergewöhnlich zu nennen wäre.
Pauls Kampf mit inneren Mächten
Es kam kein Schlaf. Paul lag unerbittlich seinen Empfindungen ausgeliefert, lauter hässlichen, schmerzhaften und aufwühlenden Gefühlen: dem Hass gegen die Albanerbande, dem Mitleid mit sich selber, der Ratlosigkeit und Sehnsucht nach Trost. Aber Trost kam nicht, stattdessen teuflischer Albdruck auf Herz und Lunge. So hatte er die Angst noch nie an seiner Kehle gefühlt. Er lag fest gebannt auf dem Laken und von Furcht verzehrt. Warum nur, warum? Er fand keine Erklärung. Stattdessen liefen die Ereignisse des Tages noch einmal wie ein bizarrer Film an ihm vorüber. Und das alles im Angesicht seines achten Geburtstages, auf den er sich so sehr gefreut hatte.
Schwül war es gewesen an diesem 5. August. Die Luft lag wie eine Bleiweste über dem Flusstal. Und das Städtchen, in dem der Junge wohnte, wirkte um die Mittagszeit temperamentvoll wie eine Wanderdüne. Allein Paul war aktiv, hyperaktiv. Er wirbelte auf seinem knallroten Fahrrad wie eine Windhose durch die staubtrockenen, menschenleeren Gassen in Richtung Anger, vorbei an den vertrauten Fachwerkhäusern, deren Gebälk stumm Kreuze schlug.
“Seppi, Seppi”, schrie der blondgelockte Junge mit hochrotem Kopf durch die Häuserfurt, schleuderte sein Rad auf das matte Pflaster und stürmte in eines der dreigeschossigen Gebäude. Seppi, der eigentlich Sebastian hieß, den aber selbst die eigenen Eltern nur mit Spitznamen riefen, empfing die Alarmsignale seines Freundes wie Sturmgeläut und eilte mit wehenden Haaren an die Wohnungstür in der zweiten Etage.
“Was ist los?“, brüllte er, auf spitzen Zehen die Stupsnase über die Holzbrüstung schiebend, durch das enge Treppenhaus nach unten, von wo der Wirbelwind mit den kurzen Beinen sich Stufe um Stufe keuchend nach oben drehte.
“Die Albaner, die Albaner...”, doch weiter kam Paul nicht. Außer Puste stand er mit wackligen Knien vor seinem zaunlattendünnen Freund und hechelte wie ein Setter nach erfolgloser Hasenjagd. “Die Albaner planen einen Überfall”, stieß er schließlich stoßweise zwischen den weiß glänzenden Zahnreihen hervor.
“Wie? Überfall? Wo?” Seppi sah seinen besten Kumpel mit fiebernden Augen an; er verstand nur Bahnhof.
“Morgen Nacht, während wir zelten!”, rasselte Paul wie ein überdrehter Wecker, “du weißt doch, bei uns im Garten.”
Seppi dämmerte es. Klar, nach der Geburtstagsparty wollten Paul und er gemeinsam übernachten. Ganz allein in einem Iglu, ohne Begleitschutz spaßdämpfender Aufpasser.
“Woher weißt du das mit den Albanern?”, wisperte Seppi, als beide Jungs auf leisen Sohlen die offen stehende Küchentür passierten, hinter der die Frau des Hauses gerade Putenschnitzel panierte, und am Ende des Flures im Kinderzimmer verschwanden, die Tür lautlos hinter sich ins Schloss ziehend. Pauls Augen wurden groß wie Wagenräder, und die Pupillen schienen ins Zimmer zu springen, als er mit heiserer Stimme von einem geheimnisvollen Zettel an seinem Fahrradlenker erzählte und stockend die mit Filzstift krakelig aufgemalte Botschaft formulierte: “Abreibung! Morgen Nacht! - Die Albaner“.
Die Albaner, das waren drei Brüder, acht, zehn und zwölf Jahre alt, mit ihren Eltern vor Jahren aus dem Kosovo geflüchtet und in dem Städtchen mehr berüchtigt als beliebt. Die Jungen mit rabenschwarzen Haaren und gekrümmter Raubvogelnase riskierten gegenüber den anderen Kindern eine große Klappe, waren zu jeder Schandtat bereit und schienen weder Tod noch Teufel zu fürchten. Jedenfalls sah Paul das so. Und das genügte. Genügte, um trotz extremer Schwüle in Seppis schrägem Dachzimmer kalte Schauer über seinen Rücken zu jagen bei der bildhaften Vorstellung eines nächtlichen Besuches dieser in seiner aufgewühlten Gedankenwelt durchtriebenen Bande.
Denn dass die Zettelbotschaft ernst gemeint war, daran hegte Paul nicht den Zipfel eines Zweifels. Schließlich war er selber es gewesen, der Rudi, den kleinsten der drei Brüder aus dem Land der Skipetaren, in der Schule als “Indianernase” tituliert hatte. Vorangegangen war ein wangenrötender Streit über deutsche und albanische Fußballkunst, und kaum hatte Paul das Schimpfwort über die Lippen gebolzt, da war Rudi ihm auch schon an die Gurgel gesprungen. Allein der beherzte Einsatz der Klassenlehrerin hatte eine wüste Rauferei verhindert.
Rudis Racheschwur hallte nun in Pauls Ohren wider wie das Donnergrollen am Firmament. “Ich hole meine Brüder, und dann machen wir dich fertig.” Dabei lag der Vorfall schon einige Zeit zurück, und Paul hatte ihn mit jedem neuen Tag ein wenig mehr verdrängt. Nun aber war ihm jeder Atemzug schwer von Schicksal.
Er und Seppi saßen nebeneinander auf der Bettkante und schwiegen mit krummen Rücken vor sich hin. Schweißperlen tanzten auf Pauls Stirn, die düsteren Gedanken aktivierten den Denkapparat. Was tun? Das Zeltabenteuer abblasen, mit dem amtlichen Wetterfrosch als Verbündeten? Denn der hatte schwere Gewitter und heftige Regenfälle vorhergesagt. Doch kneifen wollte Paul nicht. Einerseits hatte ihn in den letzten Wochen nichts mehr in freudige Erregung versetzt als die geplante Übernachtung im Freien. Und zudem war er sich sicher, dass die Albaner nicht locker lassen würden. Aufgeschoben wäre nicht aufgehoben. Paul wusste: Der Kampf musste ausgefochten werden; es gab kein Zurück mehr. Doch diese knallharte Gewissheit stählte keineswegs seinen Mut, sie raubte ihm den Atem, und er spürte, wie ihm etwas an die Gurgel ging, das er in dieser Heftigkeit noch nie gefühlt hatte: nackte Angst.
“Ich lass dich nicht hängen!” Seppis Stimme durchschnitt die beklemmende Stille. Und im gleichen Augenblick setzte ein Blitz den düsteren Raum in ein gleißendes Licht. Paul zuckte zusammen, doch nur einen Wimpernschlag später erbebte die schmächtige Brust, als wäre eine ungeahnte Kraft mitten durchs Herz gefahren; der Junge fühlte eine schaurig-wohlige Wärme seinen Körper durchfluten. Ihm war mit einem Male so wundersam, so ehrfürchtig zu Mute, als hätte etwas Zauberhaftes, etwas Allmächtiges ihn tief im Inneren berührt. Ein Schauer erlöste die bange Seele, und Paul spürte: Ich stehe nicht allein. Die traute Freundschaft, die aufmunternden Worte, das erwärmte Herz: Der Verzweiflung war mehr als die halbe Kraft geraubt.
“Wir werden also gemeinsam zelten und uns den Albanern stellen?” Paul fixierte seinen Kumpel, der während des Blitzlichts rückwärts auf die Bettdecke geplumpst und direkt auf dem Schriftzug “FC Bayern” gelandet war. Seppi war nämlich Fußballfan wie Paul und selber ein talentierter Spieler. Aber der Gedanke an Fußball lag dem Steppke in diesem drückenden Moment so fern wie ein Flug zum Mond. Und das war schließlich sein allergrößter Traum.
“Ja“, entgegnete Seppi mit fester Stimme, “wir werden gemeinsam zelten und uns nicht unterkriegen lassen.“ Und dann katapultierte er sich mit einem Ruck vom Bett, stellte sich breitbeinig vor seinen verdutzten Kumpel und sprach mit einer Entschlossenheit, die in einem auffälligen Kontrast zu seinem vorangegangenen, blitzartigem Abtauchen stand: „Aber wir müssen uns gut vorbereiten, wir müssen gewappnet sein. Und: Zu keinem ein Sterbenswörtchen über die Albaner.” Dabei hob er mahnend den Zeigefinger und fixierte seinen Freund mit feurigen Augen.
Paul nickte heftig und ein wenig ungelenk mit dem Kopf, als hätte ein unsichtbarer Puppenspieler die Fäden in der Hand, und erklärte ergeben wie ein dienstbeflissener Staatsdiener: “Niemand erfährt etwas, schon gar nicht meine vorlaute Schwester. Großes Ehrenwort.“
“Großes Ehrenwort“, entgegnete Seppi, und in seinen Augen spiegelte sich noch immer eine feurige Glut, die den angespannt auf dem Bett hockenden Paul irritierend berührte. Doch er maß diesem Gefühl keine besondere Bedeutung bei.
Das Ereignis naht
Die Gewitterwolken hatten sich rasch verzogen, und Paul radelte auf seinem Rädchen frohgemuter nach Hause als er von dort losgejagt war. Die Mutter erwartete ihn bereits an der Haustür. Die Familie besaß ein stattliches Anwesen am Ortsrand mit einem großen Grundstück; zahlreiche alte, knorrige Obstbäume warfen im fahlen Licht der Gewitternachhut bizarre Schatten auf den kurzgeschorenen Rasen.
“Wo hast du bloß gesteckt?” Die Frage kam schneidig über die Lippen und wog von Besorgnis und Vorwurf schwer. Pauls Mutter war eine jener Frauen, die Beruf und Familie in einen harmonischen Gleichklang zu bringen versuchen, aber häufig herben Widerhall erleben auf dem Resonanzboden der eigenen Seele. Eine warmherzige und fürsorgliche Mutter sein zu wollen, zugleich eine liebende und geschätzte Partnerin ihres Mannes und obendrein eine versierte wie engagierte Mitarbeiterin in einer von Männern dominierten Arbeitswelt, dieser Anspruch erlebte selten Erfüllung. Entweder kam die Familie zu kurz oder der Beruf, immer aber Pauls Mutter selber, wie sie es empfand. So standen auch in dieser Mittagsstunde die attraktive äußere Erscheinung, die schlanke Figur, das gepflegte, halblange, blonde Haar und der dunkle Teint in einem auffälligen Kontrast zur Strenge des Gesichtsausdrucks, ja zur fast maskenhaften Starre der Miene. Pauls Mutter war wieder einmal gestresst. “Das Gewitter hätte schlimm sich ausweiten können”, bellte sie ihrem Sohn entgegen.
Paul hatte die dicke Luft bereits vor der Hauseinfriedung gewittert; sein feinfühliges Naturell war ihm einmal mehr ein hilfreicher Sensor. In anderen Situationen seines ihm nicht immer leicht erscheinenden Lebens, wenn sich die Jungens seines Alters auf dem Schulhof oder dem Sportplatz untereinander in ersten Anflügen von Imponiergehabe übten, empfand er solche sensiblen Regungen seines Wesens als eher lästig. Dann hätte er zu gerne den rauen Kerl markiert, konnte aber selten über den eigenen inneren Schatten springen. Nun knallte er sein Fahrrädchen an die Wand des Geräteschuppens, der mit der optischen Wucht eines Schrebergartendomizil zwischen Wohnhaus und Nutzgärtchen stand, und huschte an Mutters Rockzipfel vorbei wie ein Hund, der die Peitsche im Anflug wähnt. Dabei knurrte er: “O.K., O.K., ich war bei Seppi, bloß keine Panik.”
“Na, haben Blitz und Donner dich so schnell wieder nach Hause gejagt?” Pauls Schwester Franziska empfing ihren Bruder in der Diele mit einem von Spott süß-sauer verzogenen Lächeln auf den Lippen. Sie war Zwölf, und Auswüchse der Pubertät hatten in ihrem Verhaltensraster bereits deutlichen Spuren gezogen. Paul nannte das “zickig”. Und so kam es in jüngster Zeit viel öfter zwischen den Geschwistern zu Auseinandersetzungen, als es dem Familienfrieden zuträglich war. Doch dass beide Kinder trotz aller Rivalität in tiefer emotionaler Verbundenheit zueinander standen, war für feinfühlige Beobachter der Familie keine Frage. Aus dieser Verbundenheit resultierte Pauls Kenntnis von Franziskas besonderem Gespür für atmosphärische Veränderungen.
“Jetzt bloß nichts anmerken lassen”, flüsterte er sich selber ins Ohr und versuchte die Schultern zu straffen wie Arnold Schwarzenegger in seinen besseren Jahren. “Sonst nervt sie mich wieder mit ihren stichelnden Fragen. Und wenn sie erst Lunte gerochen hat, dann bohrt und bohrt sie weiter, bis ich ihr etwas sage, bloß um endlich Ruhe zu haben. Wenn ich ihr jedoch erzähle, was los ist, kann ich auch gleich die Mutter informieren. Und dann ist das Zeltabenteuer passé.”
“Von wegen das Gewitter, der Hunger hat mich heimgetrieben. Mir knurrt der Magen.” Paul flüchtete in eine Notlüge und spürte die eigenen Ohren erglühen, denn nichts hasste er mehr als unaufrichtige Naturen. Doch hier stand er nun und konnte nicht anders und hatte Glück. Seine Schwester nahm den Flunkerball auf und entgegnete schnippisch: “Da kannst du lange warten. Die Mutter muss erst noch einiges für deinen Geburtstag richten.” Die Betonung lag auf “deinen” und kam jenen nervversehrenden Giftpfeilen gleich, wie sie Paul an jedem normalen Tagen auf die Palme gejagt hätten. Aber dieser Tag besaß für ihn so viel Normalität wie Hochwasser in der Wüste. Deshalb schwieg er und trollte sich in sein Zimmer. Hauptsache, Franziska war abgewimmelt.
Paul warf sich bäuchlings aufs Bett und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Sein Blick hing starr am Teppichboden, die Gedanken kreisten um die Albaner und deren Nachricht, die ihn aufwühlte wie eine Kriegserklärung. Er spürte brennenden Hass auf die drei Brüder, die ihm die Vorfreude auf seinen Geburtstag völlig versaut und ihn in einen Abgrund dunkelster Gefühlsregungen gestürzt hatten.
Aber zugleich imponierte ihm etwas an diesen Schwarzköpfen: eine freche Lebenskunst, sich in der Fremde zu behaupten, ein dickes Fell gegen Spott und Demütigung halbstarker deutscher Jugendlicher, eine praktische Veranlagung, ja Gerissenheit, die kleinen und größeren Hürden des Alltags ohne Scheu und Skrupel zu meistern, sich selbst gegen augenscheinlich Stärkere durchzusetzen. Paul war, als kämen Rudi und seine Brüder nicht nur aus einem anderen sozialen Milieu als er selber, sondern als lebten sie in einer jenseitigen, roheren, widerstandsfähigeren Welt. In einer Welt zwischen Kindheit und Erwachsenendasein, in einem jugendlichen Abenteuerland, dessen Pforte ihm bislang verschlossen war. Und so sehr er sich danach verzehrte, dieses Tor zu durchschreiten, so arg beschlich ihn die düstere Ahnung, dass er es nur unter schmerzhaften inneren Kämpfen und Wandlungen würde passieren können.