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Ein Geschenk mit Symbolkraft

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Am Morgen schien die Sonne und sandte ihre hellsten Strahlen durch das spaltbreit geöffnete Fenster des Kinderzimmers. Die Vögel zwitscherten und trällerten im Geäst der Obstbäume, gerade so, als wollten sie das Geburtstagskind mit einem fröhlichen Ständchen erfreuen. Eine wunderbare Heiterkeit durchflutete Pauls Seele, gleich dem beschwingten Sommermorgen, den er nun mit ganzem Herzen zu genießen suchte.

Als er die munteren Augen zur Zimmertür lenkte, standen dort seine Eltern und seine Schwester im Türrahmen, und als die Blicke sich trafen, sang das Trio sogleich beherzt los: “Zum Geburtstag viel Glück, zum Geburtstag viel Glück...”

Mit einem Satz war Paul aus dem Bett, herzte seine Mutter, drückte den Vater an sich, als wollte er die frostige Atmosphäre des Abends in dieser einen Umarmung nachträglich und endgültig auflösen, und setzte der Schwester einen dicken Schmatz auf die Wange. Aller Kummer der Nacht war vergessen, es war ihm leicht wie einem Fisch im Wasser. Paul empfing und empfand die Liebe seiner Familie ohne Einschränkung, und das machte ihn glücklich, und in diesem Augenblick, da er rundum zufrieden war, überkam ihn ein Gefühl von Dankbarkeit. ‚Das Leben meint es doch gut mit mir’, dachte er bei sich und strahlte über das ganze Gesicht.

Dabei hatte er die Geschenke noch gar nicht in Empfang genommen, sie waren seinen Gedanken völlig entrückt, in diesem Moment unwichtig, ohne Belang. Doch das änderte sich rasch, denn schon einen Atemzug später fieberte das Geburtstagskind mit gespannter Erwartung der Bescherung entgegen. Paul wurde nicht enttäuscht: es gab ein elektronisches Spielzeug von seinen Eltern, ein Päckchen, das die Oma geschickt hatte, und - wie immer zu besonderen Anlässen - ein selbstgemaltes Bild von Franziska.

Als das Spielgerät getestet, das Geheimnis um Omas Gabe gelüftet und die Familie bereits an den festlichen Frühstückstisch vorausgeeilt war, fiel Pauls Blick auf das wasserfarbene Werk seiner Schwester, dem er bisher kaum Beachtung geschenkt hatte. Nun sah er genauer hin und glaubte an einen Streich seiner Augen: Das Gemälde zeigte den heimischen Garten mit dem alten Astwerk, das in voller Blütenpracht stand, und mitten auf der Wiese ein lila Zelt, wie er und Seppi es zur gemeinsamen Übernachtung ausersehen hatten. Und weil Franziska nicht Franziska wäre, wenn sie ihren Bruder selbst zu diesem besonderen Anlass nicht hätte necken, genauer gesagt erschrecken wollen, hatte sie direkt über dem Zelt ein fliegendes Ungeheuer platziert. Dieses Monster für sich genommen, hätte Paul wohl kaum das Fürchten gelehrt; einen Papiertiger wusste er wohl von einer leibhaftigen Wildkatze zu unterscheiden. Nein, was ihn erschreckte, war die Gestalt des Dämons: Das war exakt die gleiche, die ihn in der Nacht im Traum heimgesucht hatte.

Da war es wieder: Von einer Sekunde zur nächsten wurde Pauls Herz von Unbehagen und Angst beschwert. Fröhlichkeit und Leichtigkeit eilten davon wie Zugvögel im ersten Herbststurm. Die bange Seele spiegelte sich in des Jungen Umwelt und in Franziskas Geburtstagsgeschenk. Paul glaubte mit einem Male, in dem Monster einen Dämon im eigenen Inneren zu erkennen, der ihn teuflisch anlächelte. Scheußlich! Einfach scheußlich!

Der Junge warf sich aufs Bett und hämmerte mit den Fäusten auf die Matratze. Warum nur, warum diese Qualen? Hatte er nicht um höheren Beistand ersucht, die Schmerzen der Nacht beinahe heldenhaft ertragen, das Gute gelobt und die gemeinen Gedanken verdammt, die vor allem auf die Albaner gemünzt waren? Hatte er sich nicht die besten Vorsätze mit auf den Weg gegeben für diesen Tag, seinen Tag? War alles umsonst gewesen, war er zum Leiden verdammt?

Der Kopf des Jungen rauchte. Ist etwa der Eintritt ins neunte Lebensjahr ein erster Schritt weg von einer unbeschwerten Kindheit, fragte er sich voll Bitterkeit, hin auf einen Weg, wo nicht mehr alles so glatt geht wie bisher, wo auch Mühsal wartet und Beschwernis und wo immer größere Probleme sich auftun, die bewältigt werden wollen? Als dieser Gedanke durch seinen Schädel waberte, wurde Paul hellhörig, und ihn beschlich das aufwühlende Gefühl, dass dieses quälende Leiden einem Opfer gleich kam, welches das Leben von ihm einfordert, um aus der zarten Kinderseele einen robusten Jugendlichen reifen zu lassen, einen, wie die Albaner ihn in seinen Augen längst verkörperten und wonach er sich insgeheim sehnte, wovor ihn aber zugleich schauderte?

Die Jungs halten Kriegsrat

In der Schule hielten Paul und Seppi abseits der anderen Jungen und Mädchen Kriegsrat. Wie könnten sie dem erwarteten Angriff der Albaner begegnen, wie sich wappnen? Seppi schlug eine Zeltwache vor, mal er und mal Paul als Nachtwächter. Wenn die Angreifer anrückten, dann würde der Wachende den Schlafenden wecken, und anschließend würden beide die Feinde mit ihren Steinschleudern attackieren - “so wie der David den Goliath besiegt hat.” Bei der Formulierung des biblischen Vorschlags funkelten Seppis Augen und seine Brust schwoll an wie bei einem Pfau im Hühnerhof.

Der Vorschlag mit der Steinschleuder imponierte Paul. Rudi und seinen Brüdern eins vor die Birne zu klatschen, dieser Gedanke war ihm keineswegs unsympathisch, er elektrisierte ihn geradezu. Doch diese Begeisterung wurde umgehend gedämpft, als der Steppke sich die Nachtwache bildlich vorstellte. Er alleine für eine oder zwei Stunden in dunkler Stunde einsam und allein vor dem Zelt harrend: Paul erschauderte. Aber offen zugeben wollte er das natürlich nicht.

“Ich weiß nicht”, druckste er, mit den Worten heftig ringend, das ihm der frühreife Adamsapfel bebte, “ob der, der vor dem Zelt wacht, nicht vielleicht doch einschläft, und dann werden wir am Ende beide überrumpelt. Gibt es nichts anderes, etwas ganz sicheres, was uns bei Gefahr alarmieren könnte?”

Seppi überlegte. Seine Stirn zog tiefe Falten, und die Lippen schürzten sich zu einer Schnute. Pauls Absage an die Wache ging ihm gegen den Strich. Doch dann ereilte ihn eine neue Idee. “Wir könnten im weiten Bogen um das Zelt eine Schnur zwischen den Obstbäumen spannen und Büchsen daran befestigen - so zehn Zentimeter über dem Boden. Im Dunkeln sehen die Albaner diese Fallstricke nicht, werden drüberstolpern und uns durch den Lärm wecken. Dann greifen wir zu unseren Steinschleudern und attackieren die verdatterten Angreifer mit Geschrei.”

Pauls Augen strahlten auf wie zwei aufgeblendete Autoscheinwerfer im Tunnel. “So machen wir es.”

Seppis Vorschlag entfaltete die Wirkung einer schmerzbetäubenden Pille. Paul konnte den Geburtstag mit seinen Gästen so ausgelassen feiern wie im nächtlichen Gebet erfleht. Eingeladen waren Christian, Egon, Thomas, Eugen, Fahad, ein Iranerjunge aus der Nachbarschaft, dem der Schalck im Nacken saß, und natürlich Seppi. Mädchen waren keine erwünscht. Selbst seine Schwester hatte Paul eindringlich gemahnt, von der Gartenparty fern zu bleiben. Allenfalls ein Auftritt als Kellnerin würde geduldet. “Und wenn du auftauchst, dann ohne dämliche Bemerkungen; ich will nicht, dass die ganze Familie durch dich blamiert wird”, hatte Paul ihr seine größten Befürchtungen ins Gewissen geimpft.

Die Jungs hielten den Spaßfaktor auf konstant hohem Niveau. Sie hüpften in Jutesäcken um die Wette, balancierten rennend rohe Eier auf Esslöffeln über den kurzgetrimmten Rasen und versuchten, einen Lederfußball im Eiltempo durch Slalomstangen zu treiben. Zwischen den körperbetonten Spielchen wurden Witze erzählt, um sich in heiterer Gelassenheit von den körperlichen Aktivitäten zu entspannen. Fahad entpuppte sich als König der Possenreißer; da blieb kein Auge trocken. Einmal allerdings traf der aufgeweckte Iranerknabe bei Paul einen wunden Lachnerv.

Der Witz begann als Frage an das Geburtstagskind: “Warum rennst du denn so vorne weg, Paul?” - “Ich will verhindern, dass zwei Jungen sich prügeln.” - “Wer denn?” - “Rudi und ich.”

Die ganze Korona grölte los, allein Paul würgte das Lachen im Hals wie ein gieriger Reiher den zappelnden Fisch. Warum wählte Fahad ausgerechnet Rudis Namen, er hätte doch auch jeden anderen nehmen können? An Zufall wollte Paul nicht glauben und dickfellig darüber hinwegzugehen, war wider sein Naturell. Was für ein Spiel war im Gange, führte gar jemand im Hintergrund Regie und hatte mitwissende Darsteller eingespannt, während er selber im öden Tal der Ahnungslosen taumelte? Während Paul mit stierem Blick seine Gedanken sezierte, tönte der Ruf der Mutter über die Spielwiese: “Würstchen und Pommes sind fertig.”

Nach dem gemeinsamen Abendessen wurden die anderen Jungen nach und nach von ihren Eltern abgeholt. Nur Seppi blieb. Er und Paul holten mit klopfenden Herzen das kleine, lilafarbene Zelt aus dem Keller; die Nacht rückte näher und näher. Das Iglu sollte im Zentrum der Wiese stehen, so dass in gebührender Distanz das Alarmseil zwischen den Obstbäumen gespannt werden konnte. Diesen in ihrem Kriegsrat ausgeheckten und in der anschließenden Manöverkritik als genial empfundenen Plan hüteten die beiden Abenteurer wie ihren Augapfel, der eine mit bangem Herzen, der andere mit bebender Brust.

Paul und Seppi hatten am Tag zuvor auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten alle möglichen Abfalltonnen und -eimer durchwühlt und rund um einen Supermarkt nach leeren Aluminiumdosen gefischt. Ihre Ausbeute war zum Glück und gegen die Konkurrenz professioneller Dosensammler ausreichend groß gewesen und wurde in einem Kellerraum deponiert, in den selten ein Lichtstrahl fiel und dessen Mauern so dick waren, dass Klopfgeräusche nicht nach draußen drangen. Die Jungs hatten nämlich noch ein Loch in den Boden der Dosen hämmern müssen, um den Durchzug des Fangseils zu gewährleisten. Ein langes Seil hatte Seppi bei seinem Großvater organisiert, der in einem Geräteschuppen jede Menge Taue in unterschiedlichen Größen und Stärken aufbewahrte; schließlich stammte der alte Herr als Tirol und war im besten Mannesalter einmal alpiner Bergführer gewesen. Nach Einbruch der Dunkelheit, wenn der Rest von Pauls Familie sich ins Haus zurückziehen würde, wollten die beiden Freude sich ans klammheimliche Werk machen und die Alarmanlage der Marke Eigenbau installieren.

Das Schicksal nimmt seinen Lauf

Beim Zeltaufbau half Pauls Vater. “Er hat zwar zwei linke Hände”, meinte Franziska mit dem ihr eigenen Spott auf den Lippen, “doch das wird er wohl noch schaffen, ohne dass am Ende die Zeltspitze sich in den Boden bohrt und die Heringe in den Himmel ragen.”

Das Iglu stand schneller, als der große Zeiger der Uhr von der Zwölf zur Sechs gewandert ist, kam der Beschreibung im Packzettel recht nahe, und Pauls Vater meinte denn auch in einem Anflug von Selbstüberschätzung seiner handwerklichen Talente, dieses Zelt sei an den Befestigungsschlaufen so festgezurrt, dass kein Ochse es würde umrennen können, so denn je einer über den Rasen gejagt kommen sollte.

Franziska relativierte die väterliche Feststellung der Standfestigkeit umgehend: “Hoffentlich kommt heute Nacht kein Sturm auf, sonst geht es meinem Brüderchen wie dem fliegenden Robert - und wir sehen ihn nie wieder.” Und sie schaute dabei mit einem Wimpernaufschlag in die Runde, als wäre ihr diese Vorstellung so unsympathisch nicht. Wenn Pauls Blicke hätten Giftpfeile entsenden können, seine Schwester wäre auf der Stelle leblos umgefallen.

Als die Nacht hereindämmerte, war alles gerichtet - bis auf das Fangseil. Im Zelt lagen die beiden Schlafsäcke, zwei Flaschen Mineralwasser und eine Taschenlampe. Die Jungs trugen Trainingsanzüge, was eine weitere Entkleidung in diesem rustikalen Campingambiente entbehrlich machte. Sie alberten in ihrem kleinen Iglu umher wie zwei junge Welpen; die Gefahr, die drohend über der nahen Nacht schwebte, war Paul in diesem Moment so wenig bewusst wie einem rasenden Autofahrer das Stauende hinter einer Kurve.

Pauls Mutter kniete vor dem Zelt. Sie war ein umsichtiger Mensch, zur Vorsicht erzogen, aber keine ängstliche Natur, hatte vielmehr auf Seppis Eltern beruhigend eingewirkt, als besorgte Fragen aufgekommen war, ob bei diesem Abenteuer an alle Eventualitäten gedacht sei. Doch nun beschlich auch sie ein mulmiges Gefühl, als vor dem Abschiedsgruß ein letztes Mal ein tiefer Blick auf die beiden schmächtigen Knaben fiel. Dass jemals Kinder aus einem Zelt im heimischen Garten entführt worden wären oder in dieser Gegend wilde Tiere ihr Unwesen trieben oder junge Camper sich auf schlafwandlerischer Tour verirrt hätten, davon hatten die mütterlichen Sensoren zwar keine bedeutungsschweren Signale empfangen. Und dennoch geisterten in dieser Minute solche abstrusen Gedanken durch den aparten Kopf und verwirrten das Gemüt.

“Mutti, deine Nasenspitze ist ja weiß wie ein Betttuch!” Pauls kecke Bemerkung klatschte wie ein feuchter Waschlappen in die wie abwesend wirkenden, alles andere als weiblich-weichen Gesichtszüge. Die Frauenhand fuhr instinktiv zur Nase, und die Jungs brüllten vor Lachen. Da konnte auch die Mutter nicht anders. Indes geriet ihr Lächeln zur Qual; sie war wie ernüchtert von der Macht ihrer Gedanken. Während die Jungs friedlich balgten, hatte sie sich in ihr eigenes Unheilszenario verstrickt. Nun, in diesem einen lichten Moment von Selbsterkenntnis, kam ihr die Frage in den Sinn, ob nicht Einbildungen und Missverständnisse womöglich mehr Irrungen und Wirrungen in diese Welt zu bringen vermögen als aller Lug und Trug.

“Das muss das Licht sein, das vom Haus herüberscheint und auf meine lange Nase fällt”, konterte die Mutter schließlich Pauls frivole Bemerkung mit einem Schuss Selbstironie. Sie hatte sich wieder im Griff und kramte mit flinken Händen einen Gegenstand aus einem Leinenbeutel, den die beiden Zeltabenteurer im Halbdunkel nicht erkennen konnten. “Hier habt ihr Opas Jagdhorn. Wenn heute Nacht irgendetwas sein sollte, was euch ängstigt, dann blast kräftig hinein, und wir sind sofort zur Stelle. Und nun schlaft gut.”

Paul und Seppi erwiderten fröhlich im Duett: “Ihr auch!”

“Ob die Albaner tatsächlich kommen werden?” Paul versuchte, seine Stimme so unaufgeregt wie möglich klingen zu lassen, als er die Mutter außer Hörweite wähnte. Dabei ging ihm wieder ein angstvoller Schmerz durch Mark und Bein, heraufbeschworen von einem Gedanken an die drei verschlagenen Brüder, der so unverhofft in seinen Kopf geschossen kam wie ein Fußball in der Fensterscheibe landet.

“Da bin ich mir ganz sicher”, entgegnete Seppi mit der Selbstüberzeugung eines Revolverhelden. “Aber sollen sie nur anrücken, wir werden sie schon überraschen.” Sprach es und vergewisserte sich unter dem Lichtstrahl der Taschenlampe zum wiederholten Male, dass die Steinschleuder tatsächlich so griffbereit lag, um sie jederzeit zücken und einsetzen zu können.

Der Mut des Freundes verschlug Paul die Sprache. Bisher kannte er Seppi mehr als Hasenfuß denn als Hasardeur. Und ausgerechnet heute, wo alles furchtbar ernst zu werden drohte, womöglich ein Kampf um Leben und Tod bevorstand, sollte wie von Zauberhand verwandelt ein furchtloser Held neben ihm liegen? Diese Vorstellung erwies sich als zu sperrig für Pauls Mondgesicht. Er konnte es nicht begreifen. Wieder kam er sich klein und kindisch vor, fühlte wie ein feiger Idiot, die Knie vor Angst schlotternd, während sein Freund in stoischer Ruhe das Kriegsgerät sichtete.

So lag der verängstigte Knabe still und starr in seinem Schlafsack und richtete die Ohren auf wie Rhabarberblätter nach einem Regenguss, um ja kein noch so fernes Geräusch zu verpassen. Aber weil der Tag lang und anstrengend war und ringsum alles nachtschlafend ruhig, gerade so, als hätte jemand einen Schalldämpfer über die lärmende Welt gestülpt, wurden dem Geburtstagskind die Augenlider allmählich schwer wie Samtvorhänge und vermochten der geistigen Befehlsgewalt nicht länger zu trotzen.

Pauls Erwachen

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