Читать книгу Pauls Erwachen - Hansjürgen Engel - Страница 8

Harter Kampf auf weichem Rasen

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Ein fürchterliches Geräusch schreckte Paul auf. Er schoss in seinem Schlafsack hoch in die Sitzposition und horchte gebannt nach draußen. Alles war still, nur ein leises Säuseln der Blätter klang durch die Plane. “Seppi, hast du das gehört?” Paul flüsterte mit brüchiger Stimme in die Schwärze der Nacht, die sich des Zeltes vollkommen bemächtigt hatte. Keine Antwort. “Seppi, Seppi!”, presste er scharf und flehend zwischen den zitternden Lippen hervor. Wieder nichts. Er tastete nach dem Schlafsack des Freundes - leer.

Paul spürte das Klappern seiner Zähne und das Schlottern der Kinnlade. Was war das nur gewesen? Wo war sein Freund? Waren die Albaner bereits im Anmarsch und hatten Seppi überwältigt? Paul suchte panikartig nach der Taschenlampe - vergebens. Auch das Jagdhorn und die Steinschleuder konnte er nirgends greifen, sosehr er auch danach zu grapschen suchte. Da wurde dem Jungen die verzwickte Lage schlaglichtartig klar: Er war allein und wehrlos und den anrückenden Albanern hilflos ausgeliefert.

“Uuuiieeh! Uuuiieeh!” Paul zuckte zusammen. Die schrillen Töne kamen aus dem Garten. Kein Zweifel. Aber wie? Und von was nur? Dann war es wieder ruhig. Gespenstisch ruhig. Was sollte er nur tun? Wie ein Häufchen Elend kauerte der Knabe auf dem Zeltboden, die Finger in die Gummiplane gekrallt. Das Herz ratterte wie ein Presslufthammer, in den gespitzten Ohren dröhnte die Stille der Nacht. Panikattacken töteten jeden Gedanken, bevor er an Klarheit gewann. Paul harrte und horchte, in die Stille der Nacht draußen und das bebende Gemüt innen, dort albanische Schläger, hier bange Seele.

Plötzlich, wie von weiter, weiter Ferne, ein leises, kaum vernehmbares Hauchen. Der verängstigte Junge lauschte gebannt in sein Innerstes, lauschte vorbei am keuchenden Atem, tiefer noch als das ratternde Herzen. Da! Leise, leise! Nun gewahrte er es abermals, das geheime Flüstern. “Alles wird gut, alles ist gut. Hab nur Vertrauen.“

Augenblicklich kam dem Jungen der noch frische Traum in Erinnerung, als er das nächtliche Monster mit einem Schlag zu einer harmlosen Mücke hatte schrumpfen lassen. Und er spürte an Leib und erstarrten Gliedern, wie eine wundersam wiederbelebt Beherztheit einem verzagten Gemüt neuen Mut einzuflößen vermag Vorsichtig wie eine Katze auf der Pirsch kroch Paul unter dem Schlafsack hindurch zum Zelteingang. Der Reißverschluss war halb offen. Langsam schob er seinen Kopf durch die Öffnung und lugte mit zu Berge stehenden Haaren nach draußen. Nichts zu sehen, kohlrabenschwarze Nacht.

Plötzlich blinkte rechts zwischen den Obstbäumen ein faustgroßes Licht auf. Und nur Sekunden später blitzte es linker Hand in gleicher Höhe. “Das sind die Albaner, sie kommen von zwei Seiten”, schoss es Paul durchs Hirn. „Sie nehmen das Zelt in die Zange“, war er sich sicher. Doch wo war Seppi? Wo steckte er, wo nur?

Die Antwort kam umgehend. Und sie bestand aus einem fürchterlichen, blechernen Scheppern. Und zugleich zerschnitt ein heller Schrei das schwarze Tuch der Dunkelheit: “Mist!”

Pauls Ohrmuscheln waren weit geöffnet, und sein Kopf steckte zwischen dem Reißverschluss des Zelteingangs, während der zitternde Körper noch im Inneren lag. Irgendjemand war über das dosenbehängte Alarmseil gestürzt. Aber wer?

“Halt! Stehen bleiben!” Eine Männerstimme dröhnte durch die Nacht wie ein Kommando über einen preußischen Kasernenhof.

Bewegung kam auf den Rasen. Paul konnte die Vibration unter seinen Händen spüren, die sich am Zelteingang in Gras und Erde gebohrt hatten und wie fest verankert schienen.

“Ich krieg dich!“ Wieder das raue Brüllen aus einer Männerkehle.

Dann jagte ein Schatten dicht an Pauls Kopf vorbei ums Zelt, verfolgt von einem Riesen, der mit weit ausgefahrenen Armen nach dem wendigen Flüchtling packte und auch einen Stofffetzen zu fassen bekam. Doch im gleichen Augenblick, weil das Körpergewicht sich verlagerte und die langen Beine auf dem feuchten Rasen keinen Halt mehr fanden, fiel die wild rudernde Gestalt in sich zusammen, ganz so, als hätte ein Marionettenspieler die Seile seiner Figur gekappt. Gerade noch erschallte ein ziemlich verzweifelt klingendes “Verdammt!“ durch die Nacht, da krachte das männliche Unheil auch schon auf den hinteren Teil des Zeltes, das unter der Last zusammenfiel, als hätten viel zu dürre Bohnenstangen dem Einschlag zu widerstehen versucht.

Die andere, deutlich kleinere Person, die Paul zunächst nur als Schatten wahrgenommen hatte, überstand die rüde Verfolgerattacke ebenfalls nicht schadlos. Sie schleuderte einige Meter über das klamme Gras und krachte schließlich ungebremst gegen einen der alten, knorrigen Obstbaum.

Für Sekunden war Stille ringsum. Paul wagte keinen Atemzug mehr, lag wie erstarrt auf dem Boden, halb im Freien und halb noch immer mit den kurzen Beinen unter der zusammengebrochenen Zeltplane, die ihn mächtig schnürte, weil sie von dem havarierten und wie ohnmächtig daliegenden Häscher äußerst hart beschwert wurde.

“Aua, aua!“ Ein klägliches Jammern hallte mit einem Male durch die Nacht.

Franziska! Das war Franziska. Für Paul gab es nach dieser wie eine Befreiung empfundenen Wahrnehmung kein Halten mehr. Er schälte sich energisch aus der Zeltplane heraus, sprang auf die Beine und rannte schnurstracks hin zu der Stelle, von wo die klagenden Laute gekommen waren und wo die wimmernde Schwester tatsächlich um einen der Bäume gewickelt lag. In der rechten Hand hielt sie eine Taschenlampe so krampfhaft über dem Boden in die Höhe, wie es bei Kindern zu beobachten ist, die in ihrer Freude über die gerade erhaltene Eistüte über die eigenen Beine gefallen sind und unbedingt zu retten versuchen, was gleich zu Boden stürzen droht. Paul, kaum am Unglücksort angelangt, entriss er Franziska auch schon die Lampe und leuchtete seiner Schwester mitten ins Gesicht, weil ihm im Schatten des Lichtkegels etwas Unheimliches gewahr geworden war.

“Igittigitt”, schrie er, “was für eine Monsterfratze!”

Paul stand wie elektrisiert und stierte in die grell geschminkte Erscheinung im Fixpunkt der Taschenlampe; er glaubte an einen Streich seiner Augen. Franziskas Gesicht hatte eine ihm kribbelnde Gänsehaut erzeugende Ähnlichkeit mit jenem fauchenden Ungeheuer aus seinem nächtlichen Traum: Die Augenränder grün und blau, die Wangen knallgelb und das Kinn feuerrot. Und aus dem leicht geöffneten Mund lief schaumigweißer Sabber die Maske hinunter und tropfte sacht ins feuchte Gras.

Die große Überraschung

Während Paul seine Schwester anstarrte, als wäre sie geradewegs vom nachtschwarzen Himmel herunter auf die Erde geplumpst, quälte sich ein paar Meter entfernt der riesenhafte Verfolger laut fluchend aus dem Zeltchaos - es war der eigene Vater! Schnaubend vor Wut stapfte er über den Rasen, den halb um den Baum geschlungenen, vermeintlichen Eindringling in die heimische Gartenlandschaft starr im Visier. Gerade als er das noch immer wimmernde Geschöpf am Kragen packen und an sich ran ziehen wollte, erkannte er die eigene Tochter und deren Maskerade im fahlen Licht der Taschenlampe.

Die Bewegung stoppte abrupt, und die Zornesader verlor rasch an Schwellung. Stattdessen dämmerte unter den nassen Haaren die nahe liegende Schlussfolgerung und bahnte sich ihren Weg zu den milder gestimmten Lippen. “Du wolltest mit dieser Aufmachung wohl deinen Bruder und dessen Kumpan erschrecken, und ich dachte, Einbrecher wären am Werke, als es so gewaltig schepperte“, keuchte der Vater und rang sich ein gequältes Lächeln ab.

“Ich bin über das verdammte Seil gestolpert. Wer hat denn dieses Teufelsding bloß gespannt und die blöden Büchsen drangehängt?”, jammerte Franziska in einer Mischung aus Leid und Empörung.

“Das waren wir”, wisperte eine Stimme hinter einem der dickeren Obstbäume. Und dann trat Seppi wie ein in des Gefechtes Gewitter die schützende Deckung suchender Soldat aus der Dunkelheit heraus in den Strahl der Taschenlampe, die sich in Pauls Hand wie auf Kommando um 180 Grad gewendet hatte, und schlurfte gesenkten Hauptes auf die drei anderen Nachtschwärmer zu.

In Pauls Gehirnkasten ratterte es schon los, kaum dass er den Freund gesichtet hatte. In Sekundenschnelle ließ er die vergangenen Minuten vor seinem geistigen Auge vorbeieilen und kam dank ausgeprägter Kombinationsgabe zu einem wenig Zweifel duldenden Schluss: ‘Seppi war es, der mich von außerhalb des Zeltes geräuschvoll geweckt hat, und später, als ich aus dem Zeltschlitz lugte, hat er mit der zweiten Taschenlampe kurz aufgeblinkt. Aber mit welcher Absicht?’

Weiter kam der Junge nicht in seinem Nachsinnen. Denn als Seppi gerade noch zwei Schritte entfernt war und der Schein der Lampe nicht mehr den ganzen Körper einfing, sondern sich allein im Gesicht des Knaben bündelte, da folgte für Paul die zweite bildhafte Überraschung des Abends, und sie wurde mit einem schallenden Gelächter quittiert. Stirn, Wangen und Nase des Freundes waren kohlrabenschwarz gefärbt, und die Augen schimmerten wie zwei ferne Lichter im Dunkeln.

Paul spürte des Lachens befreiende Wirkung auf der angespannten Brust und meinte schließlich, noch immer unter heftigem Glucksen: “Meine clevere Schwester schminkt sich zu einem Monster, um uns Angst einzujagen, und mein bester Freund schmiert sich Schuhcreme übers Gesicht, damit ihn die Albaner bei Nacht ja nicht erspähen können.”

Franziska fauchte wie eine Wildkatze, ließ aber kein verstehbares Wörtchen über die gepressten Lippen kommen. Ihr schöner Plan war kläglich zwischen alten Cola-Dosen zerscheppert.

“Albaner?“, fragte der Vater erstaunt. “Habt ihr etwa Besuch erwartet heute Nacht?“

Pauls Miene gefror zu Eis; er und Seppi schwiegen betreten.

“Na, raus mit der Sprache.” Dem Vater war die abrupte Unterkühlung seines Filius nicht entgangene, und so bohrte er mit strenger Stimme ohne viel Feingefühl tiefer in das sorgsam gehütete Geheimnis der beiden Jungs.

Paul trat von einem Bein auf das andere und erzählte schließlich steif und stockend die Story vom Zettel am Lenker und dem angekündigten Überfall. Franziska stand fassungslos dabei und schien die Kontrolle über ihre Mundmuskeln verloren zu haben, denn die Kinnlade sackte tiefer und tiefer. Der Vater nickte nur, ließ die eigene Überraschung an der erstarrten Miene abprallen und kombinierte scharf und zügig wie Sherlock Holmes: “Die Albaner haben den Zettel nicht geschrieben, sonst wären sie ja gekommen, und Franziska war es auch nicht, weil sie euch, wie wir erleben mussten, überraschen wollte. Also kann es nur einer gewesen sein, nämlich der, der von dem Zettel wusste und dem klar war, dass er heute Nacht dabei sein würde.“

Für einen Augenblick herrschte gespanntes Schweigen im kleinen Kreis der lichtscheuen Gartenaktivisten. Dann hob Paul wie von Geisterhand bewegt seinen Arm mit der Taschenlampe im Anschlag höher und höher und leuchtete schließlich seinem Freund mitten ins Gesicht, geradeso wie ein Polizist es hält, wenn er den Dieb auf frischer Tat ertappt hat.

“Ich, äh, ich, äh, ich wollte... ich wollte...” Seppi brachte keinen klaren Satz heraus und drehte mit nervösem Blick verlegen an seinen klammen Fingern.

“Es sollte alles nur ein Spaß sein”, sagte er schließlich kleinlaut. “Ich habe mich aus dem Zelt geschlichen“, kam es bleiern über die schmalen Lippen, „von außen mit den Fäusten gegen die Plane gehämmert und ‘Uuuiieeh’, “Uuuiieeh’ gerufen.“ Seppi hielt inne und sah seinem Freund verlegen in die Augen. „Wenn du dann raus gekommen wärst, wovon ich ausgegangen bin, dann, dann…“ Abermals kam das Sprechen ins Stocken. …“dann hätte ich die albanische Gefahr für erledigt erklärt.“ Seppi stoppte für drei, vier Atemzüge, den Kopf beinahe bis aufs Brustbein gesenkt, dann fuhr er fort, im Ton noch eine Nuance leiser als zuvor: „Ich wollte doch bloß ein bisschen den Helden spielen, weil ich ja eigentlich ein Angsthase bin. Doch dann kam deine Schwester über die Fangseile gestolpert und hat mich fürchterlich erschreckt...”

Jetzt mussten alle lachen, selbst Franziska, die eine dicke Beule unter ihren kastanienbraunen Haaren spürte und mit der Hand immer wieder deren Ausmaße ertastete, allerdings mit ängstlich gespitzten Fingern, als könnte die Schwellung unter zu großem Druck aufbrechen wie ein rohes Ei.

In diesem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen. “Abmarsch ins Haus”, befahl der Vater, “das Zelt ist platt wie ein Bierdeckel, und ich habe keine Lust, es im Dunkeln und bei diesem Sauwetter wieder aufzurichten.”

Pauls Erwachen

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