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Die Angst nagt an der Seele

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Zu Hause beim Abendbrot war Paul einsilbiger als ein Gauner im Polizeiverhör. Sein Vater wollte Details über die geplante Geburtstagsfete wissen. Doch er musste seinem Filius jede Einzelheit mühselig aus der Nase ziehen: Wer eingeladen sei, welche Spiele ausgetragen würden, was an Überraschungen erwartet werden durfte.

Der Vater war als Psychotherapeut am nahen Klinikum tätig, und in der knapp bemessenen Freizeit verdingte er sich als Seelendoktor für gut betuchte Privatpatienten. Allerdings zeigte der Mittdreißiger seinen Kindern gegenüber selten jenes Maß an Einfühlungsvermögen, das er seinen erwachsenen Klienten angedeihen ließ; das bereitete vor allem den sensiblen Paul einigen Verdruss. Nun harrte der Vater der Antworten auf weitere Fragen und machte ein Gesicht voll angestrengter Geduld. Paul biss auf die Zähne. Ihn war nicht nach Geplauder und nicht nach Geburtstag, ihn dürstete nach Anteilnahme an der Seelenqual. Aber vom Vater erwartete er keinen Trost. Der redete nur viel und klug und mit der Überlegenheit eines Erwachsenen. Sein hartes Herz war gegen den kindlichen Kummer resistent wie ein Richter gegen das stumme Flehen eines Delinquenten.

“Du scheinst dich ja auf morgen zu freuen wie auf einen Besuch beim Zahnarzt”, meinte der Vater schließlich voll gesalzener Ironie. Paul schwieg und starrte mit leerem Blick auf die Tischplatte. Er empfand zum ersten Mal in seinem Leben, wie ein Vater und ein Sohn sich gegenseitig quälen können, denn er selber war sich ob seiner stockenden Art einer Schuld durchaus bewusst, und wie jedes zusätzliche Wort und jedes weitere Schweigen nur neues Öl ins Feuer gießt und zusätzlichen Ärger schafft. Wie war das nur möglich, fragte sich Paul. Aber es war so. Es geschah in diesem Augenblick am heimischen Esstisch. Und er fand keinen Ausweg.

Die Mutter hatte den neben ihr sitzenden Sohn die ganze Zeit aus den Augenwinkeln beobachtet. Sie spürte den schnürenden Schmerz auf des Jungen Seele und litt mit ihm. Und obgleich sie erkannte, dass bei Tisch nicht der rechte Augenblick war, des Kummers Ursache zu ergründen, fehlte ihr doch das Zutrauen in eine Versöhnung stiftende Vermittlung zwischen Ehemann und Filius. Sie wollte beim Gute-Nacht-Kuss, wenn sie mit Paul alleine sein würde, dessen Geheimnis zu lüften versuchen, und nahm dabei in Kauf, dass die Verstockungen des Sohnes bis dahin eher sich noch beträchtlich auswachsen könnten.

“Freust du dich denn auf morgen?” Pauls Mutter strich ihrem im Bett liegenden Sohn sanft über die Stirn. Die vertraute Geste war wie Balsam auf sein wundes Gemüt, konnte aber eine heilsame Wirkung kaum entfalten. Zu wirr waren die Gedanken, zu aufwühlend die Gefühle. Und dass die Mutter ihn aus seiner quälenden Not würde befreien können, dazu fehlte Paul hinreichend Vertrauen in eine gütliche Lösung. Wenn er sich ihr offenbarte, da wähnte der Junge sich sicher, würde auch der Vater davon erfahren und das Zeltabenteuer kurzerhand abblasen. Eine andere, weniger pessimistische Variante der Konfliktbewältigung fand keinen Eingang in des Knaben eng begrenzte Vorstellungswelt.

Wie gerne hätte Paul an der Mutter Herz seiner Stimme und den heiß blubbernden Stimmungen freien Lauf gelassen; schon deshalb, um die unerträgliche Anspannung in seinem Inneren zu lösen. Wie entzückt wäre er gewesen über einen Gedanken oder eine zündende Idee, an denen er sich hätte erwärmen und sättigen können, die ihm einen Weg aus der verzwickten Lage gewiesen hätten. Doch geistige Erleuchtung erreichte ihn nicht, weder aus seinem tiefsten Innenleben noch erwartete er sie überhaupt von äußeren Einwirkungen. Sein Blick blieb traurig und trüb. Er weinte, aber die Tränen rollten nach innen.

“Natürlich freue ich mich auf meinen Geburtstag und die Feier”, mühte sich Paul endlich nach Kräften, seiner Stimme einen Klang von Normalität zu verleihen.

“Aber besonders gesprächig warst du beim Abendbrot nicht”, entgegnete die Mutter, Blick und Ton auf jene sanfte Ebene erhoben, wo Vorwurf und Verständnis sich in mildem Licht vereinen.

“Ich war bloß müde”, erklärte Paul, den Kummer streng gegürtet, “das schwüle Wetter und das Training haben mich geschlaucht. Ich wollte Papa nicht ärgern und möchte nicht, dass du dich sorgst.”

Der Mutter entfuhr ein Seufzer. Die Worte des Sohnes klangen ihr wenig überzeugend. Aber sie wollte ihn auch nicht mit weitergehenden Fragen quälen. “Morgen beginnt ein neuer Tag”, leitete sie einen tröstenden Abschluss der kargen Zwiesprache ein, “dann wird der dunkle Ärger von heute sanft im Licht der Sonne enteilt sein.” Und in der Mutter Gesicht war bei diesem Satz soviel Schmerz und soviel Güte beisammen, wie es der leidgeprüfte Paul zuvor nie bei ihr gesehen hatte. Ihm zog es das Herz zusammenzog, und er wälzte sich bleischwer auf die andere Bettseite.

Als die Zimmertür ins Schloss fiel, wurde der Junge von einem Schub neuer Zweifel gepeinigt. Quälende Zweifel, ob er die Anspannung und Nervosität des kommenden Tages würde aushalten und vor den Schulkameraden und Geburtstagsgästen würde verbergen können. Ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er alleine stand, von Seppi einmal abgesehen. Aber ob sein Kumpel wirklich so mutig war, wie er tat, das musste die Zeltnacht erst noch erweisen. Und ob sein eigener, äußerst zerbrechlich wirkender Mut den Wellen aus Furcht und Pein auf Dauer würde standhalten können, da war Paul sich alles andere als gewiss.

Am liebsten hätte er losgeheult: Aus Verzweiflung und aus Wut. Er haderte mit dem Schicksal, das so Schlimmes mit ihm im Schilde zu führen schien und ihm den Spaß am Geburtstag längst verdorben hatte. Paul litt wie ein wundes Tier, die Wonnen des Lebens waren ihm fern wie der Mond, der stumm und bleich ins Zimmer blickte. Und er fragte sich, ob so wie er auch andere Jungen und Mädchen gequält würden, ob das Leiden zum irdischen Leben gehöre wie die Freuden, ob man den Becher mit den bitteren Getränken so notwendig gereicht bekäme wie man zuvor die süßen habe schlürfen dürfen, ob den wohligen Trank überhaupt nur zu würdigen wisse, wer zuvor den bitteren gekostet habe? “Ein Hundeleben ist das“, fluchte der kleine Kerl in sich hinein.

Abermals wälzte er sich zur Seite, um endlich einzuschlafen. Doch Schlaf kam noch immer nicht. Stattdessen erschien dem Jungen ein imaginärer Filmvorführer, der mit feixender Miene den immer gleichen Titel abspulte: „Abreibung! Morgen Nacht! – die Albaner!“ Schneller und schneller raste die Spule, und zum Höhepunkt des Horrortrips zuckte ein Wort infernalisch-penetrant und schrecklich grell an die nachtschwarze Zimmerdecke: „Albaner, Albaner, Albaner...“

Paul riss die Augen auf, und der Spuk war vorbei. Aber sein Herz raste noch ärger als zuvor, Schweißtropfen perlten sich auf der Stirn und rannen vom Hals über die Brust bis zum Bauch, wo sie von einem klammen T-Shirt aufgesaugt wurden, das seinen wohligen Flausch längst verloren hatte. Der Junge starrte in die Dunkelheit und wurde seiner Ausweglosigkeit auf erschreckende Weise gewahr. Wem konnte er sich nur anvertrauen, wem all seine Ängste mitteilen? Eine große Sehnsucht überkam den Jungen, und er spürte tief in seinem Inneren das Gefühl sich regen, dass nur einer ihn würde verstehen und ihm würde helfen können – der ALLMÄCHTIGE. Zu ihm wollte er beten.

Sicher, er hatte abends in seinem Bett schon oft die Hände gefaltet, meist zusammen mit seiner Mutter, und ein Gebet gesprochen. Doch das war selten seinem Herzen entquollen, sondern aus dem Mund gesprudelt wie eine Litanei. Wer frei von Sorgen und wen der Kummer nicht niederdrückt, der empfindet selten Bedürfnis nach inniger Zwiesprache mit GOTT. Doch in dieser Nacht war das bei Paul anders. Sein kleines Herz schrie nach Linderung des Leids und seine Seele nach Tröstung. Und so legte er die schweißfeuchten Händchen fest aneinander und betete.

“Lieber VATER im Himmel”, begann Paul, “wenn es dich wirklich gibt, und Großvater hat mir immer gesagt, dass du bei Tag und Nacht über uns wachst. Wenn du also auch jetzt in mein Zimmer blickst, dann höre mir bitte zu: Ich brauche deine Hilfe, lieber GOTT. Ich weiß nicht, wie ich die Albaner besiegen kann und wie ich meine Angst bekämpfen soll. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch einmal fröhlich sein kann. Dabei möchte ich doch morgen an meinem Geburtstag so gerne lachen, mit anderen herumtoben und einfach froh und glücklich sein. Bitte, lieber GOTT, hilf mir, steh mir bei, lass mich nicht allein. Bitte, bitte, bitte.“

Gegen Ende seines Gebetes war der kleine Paul in seinen flehenden Worten immer leiser geworden. Schließlich verstummte er, wurde ganz andächtig, harrte seinen dumpfer verhallenden Herzschlägen und erfuhr schließlich die vollkommene Ruhe des Augenblicks. Er lauschte, bis ihm ein Tor zum Geheimen sich öffnete, und aus dem anfangs inbrünstig Betenden wurde mehr und mehr der ehrfürchtig Horchende. Es offenbarte eine innere Stimme sich ihm, still und leise, voller Zartgefühl und doch deutlich und klar in ihrer Aussage: “Alles wird gut, hab nur Vertrauen!”

Tränen überschwemmten die Augen des Jungen, er war ganz ergriffen. Sein willenloser Körper erschauerte, als würden die zarten Finger einer gütigen Fee ihn mit nicht enden wollenden Streicheleinheiten verwöhnen. Paul fühlte eine Geborgenheit, die weit über sein vertrautes Heim und Zuhause hinausreichte, gleichsam wie überirdisch behütet, von einer Macht gehalten, deren Kraft ihm in diesem Moment unendlich viel größer erschien als all jene finsteren Mächte, die ihn nun schon die halbe Nacht lang in immer neuen Schüben geplagt hatten. Und mit einem Gefühl der Erleichterung kehrte Sicherheit in seinen zagenden Geist zurück, und nach und nach lösten sich die kleinen Hände voneinander, und der Junge drehte sich zur Seite und schloss selig beruhigt die Augen.

Pauls Erwachen

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