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Vaters Botschaft an den Sohn

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Das jugendliche Trio eilte auf flinken Beinen zur Eingangstür, denn inzwischen goss es wie aus Kübeln, und der Vater stapfte schweren Schrittes hinterher. Als die Kinder auf leisen Sohlen durch den dunklen ovalen Hausflur in Richtung Wohnzimmer geschlichen kamen, ging das Licht an und die Mutter stand mit blanken Beinen und struppigen Haaren im Nachthemd auf der obersten Treppenstufe, die von der Diele zu den Schlafzimmern führte.

“Was ist denn hier los?” Die Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. “Euer Vater ist aus seinem Bett verschwunden, und ihr schleicht durchs Haus, als hättet ihr etwas ausgefressen.”

Die beiden Jungs und das Mädchen an ihrer Seite blieben stehen mit gesenkten Häuptern wie ertappte Sünder. Keiner sprach ein Wort. Da kam der Vater zur Tür herein.

“Wir haben eine kleine Nachtwanderung gemacht”, log er ohne Wimpernzucken und als sei für ihn und seine beiden Racker nichts selbstverständlicher auf der Welt als ein Spaziergang zu später Stunde. Die Kinder sahen ihren Vater an wie einen Außerirdischen, der die Erde zu seiner Heimat erklärt hat.

“Und mich habt ihr ahnungslos zurückgelassen”, entgegnete die Mutter leicht gereizt, aber umgehend einen versöhnlichen Ton anschlagend. “Aber jetzt lasst uns erst mal ins Wohnzimmer gehen, ich hole für jeden etwas zu trinken aus der Küche, und dann könnt ihr mir erzählen, was wirklich los war.” Ihr Blick auf Franziskas Maskerade und Seppis Tarnfarbe hatte sie längst gelehrt, dass ihres Mannes pfeilschnelle Erklärung aus dem Reich der Fabel stammte.

Paul schwang sich auf den mächtigen Ohrensessel, drückte den Kopf gegen die weiche Lehne und starrte zur Decke. Er empfand plötzlich eine beklemmende innere Leere. Die Albaner beschwerten seinen Sinn. ‘Alles Schlechte dieser Welt habe ich ihnen zugetraut und mir vor Angst fast in die Hosen gemacht’, dachte er. ‘Selbst als Rudi sich als ehrlicher Finder entpuppte, habe ich ihn nicht entlohnt, sondern in Gedanken einer hinterhältigen Taktik bezichtigt und ihm die kalte Stirn geboten statt eine warmherzige Hand zu reichen.’ Und Paul spürte unter der fröstelnden Haut, dass alles, was er gegen den Albaner empfunden hatte, ihn nun selber traf.

Welch ein Irrsinn, dachte der Junge, dem die Welt um sich herum völlig ins Vergessen geraten schien. Es genügte ein beschmierter Zettel an einem Fahrradlenker, um alle Albaner als fies und mies zu brandmarken, sie hauen und klauen und schon gar nicht vor gemeinen nächtlichen Überfällen zurückschrecken zu lassen. Paul wurde, je tiefer er in sein Gedankenlabyrinth hinab stieg, immer peinigender bewusst, wie sehr er seinen Fieberträumen erlegen gewesen war und sich das Leben selber abgeschnürt hatte, wie rasch er zu urteilen und noch viel schneller zu verurteilen im Stande war. Allein auf Krieg vorbereitet, hatte er für Friedenssignale keinen Sinn mehr zu entwickeln vermocht, selbst dann nicht, als der kleine Rudi sinnbildlich ein Zeichen der Versöhnung setzte. ‘Was für ein Narr ich doch war‘, ätzte Paul in Gedanken vor sich hin und presste dabei die Lippen hart aufeinander.

Was dem Jungen in der Abgeschiedenheit seiner Ohrensesselbrüterei zusätzlichen Verdruss bereitete, war die ernüchternde Erkenntnis, dass selbst Kinder einander piesacken und plagen können und sie oft viel zu spät oder gar überhaupt nicht mehr einsehen können, wie unersetzlich die Zeit ist, die mit Gemeinheiten verschwendet wurde statt sie für Gemeinsamkeiten zu nutzen.

Die Mutter hatte inzwischen die Limonadengläser auf den Tisch gestellt und jedem reichlich eingeschenkt, war auf der Couch dicht an ihren Mann heran gerückt und harrte mit zusammengepressten Knien und wachen Augen der Geschichte, die von nächtlichen Gartenabenteuern erzählt werden würde.

Zuerst beichtete Seppi seinen durchtriebenen Schabernack mit unfreiwilliger Selbstüberlistung und anschließend Franziska ihre nächtliche Gruseltour mit ungewollter Umarmung eines Baumes; da blieb in trauter Runde kein Auge trocken. Und vielleicht, weil alle so ausgelassen waren und nachsichtig miteinander umgingen, da fühlte auch Paul sich mit einem Male ermutigt, etwas preiszugeben, was ihm die ganze Zeit schon auf der Seele brannte, wenn auch nicht immer in gleich bleibender Intensität. Er sprach von einem „sonderbaren Blitzlicht“ in Seppis Zimmer, das bis in sein Herz gedrungen und ihn dort, in seinem tiefsten Inneren, wundersam berührt habe. Und als er das sagte, schien die Stimme des Jungen immer stärker von Ehrfurcht durchdrungen, um aber im nächsten Atemzug wieder anzuschwellen, als die Rede auf das ominöse Monster kam, das mit einem Schlag entzaubert gewesen sei. Und schließlich erzählte Paul von der mysteriösen Stimme, die, als er auf dem Zeltboden in größter Not sich wähnte, dem wunden Gemüt habe neuen Mut einflößen können.

Die anderen hörten zu und schwiegen betreten, als Paul geendet hatte und still und ein wenig versonnen vor sich hin blickte. Bis es schrill aus Franziska herausplatzte: “Monster und Geisterstimmen, dass ich nicht lache. Wer so redet, der glaubt auch noch an den Weihnachtsmann?“

Paul starrte seine Schwester entgeistert an. Und es schien, als würden seine Augen Funken sprühen. “Natürlich gibt es den Weihnachtsmann“, schrie er mit hochrotem Kopf und angeschwollener Zornesader. Und dabei stapfte er mit dem rechten Fuß so heftig auf den Parkettboden der Wohnstube, dass die Gläser auf dem Couchtisch zitterten wie die Holzfiguren auf der Kegelbahn, wenn die Kugel herandonnert.

“Ich habe ihn doch mit eigenen Augen gesehen“, beharrte Paul, und sein Kinn zitterte bei diesen Worten, die nur noch ganz leise kamen, und Tränen füllten seine Augen. „Und ich habe gespürt, dass der Weihnachtsmann vor mir steht. Sicher, ich kann das Gefühl nicht beschreiben, aber ich weiß, dass es echt war, dass es mich nicht getäuscht hat.“ Paul ließ die Tränen übers Gesicht laufen, als bemerkte er sie gar nicht. Sein Blick schien völlig nach innen gerichtet. „Mit der Erscheinung des Weihnachtsmannes war es genau so,“ schluchzte er, „wie in Seppis Zimmer, als der Blitz durch mein Herz fuhr. Beide Male verspürte ich eine tiefe Verbundenheit mit etwas, das ich nicht erklären kann, das aber da war, denn über meinen Körper zog sich eine Gänsehaut, und mir war so sonderbar zu Mute, irgendwie ganz feierlich.“

Dann schwieg der Junge und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht, während sein Blick auf der Tischplatte hing, ohne sie zu bemerken.

“Das hast du schön gesagt.” Die Mutter sah ihren Sohn mit liebevoll-verklärten Augen an, als habe sie der Zauber der heiligen Nacht eben selber umweht. Und sie erhob sich von der Couch, drehte sich hin zum Sessel, auf dem Paul wie ein Häufchen Elend hockte, setzte sich auf die breite Lehne und nahm ihren Jungen zärtlich in den Arm und drückte ihre Wange an die seine.

Der Vater, der neben der Mutter mit verschränkten Armen den Rücken an die Lehne des Sofas gepresst und die Erzählungen der Kinder schweigend hatte über sich ergehen lassen, ihm genügte eine harsche Handbewegung, um den mystischen Schleier rasch zu lüften, der sich sanft um Mutter und Sohn gelegt zu haben schien.

“Paul, ich muss dir etwas sagen.“ Die Stimme des Hausherrn war von energischer Bestimmtheit, während der Kreuz und Kopf weiter regungslos in Rücklage blieben und die Arme vor der Brust verschränkt. „Mit deinen acht Jahren bis du längst über das Alter hinaus, um der Realität endlich ins Auge zu sehen, statt verträumt und verklärt weiterhin einem Weihnachtsmärchen zu huldigen. Also ein für alle Mal: Es gibt keinen Weihnachtsmann. Das, was du leibhaftig gesehen hast, waren verkleidete Männer, und was sie so feierlich vor dir zelebrierten, waren vorab verabredete Worte und keine übersinnlichen Eingebungen.“ Und bei diesen Worten löste der Vater seine starre Sitzhaltung, beugte sich vor und sah seinem Sohn mit einem Blick ins Gesicht, der nur eine unausgesprochene Frage als Deutung zuließ: Alles klar?

Paul schluckte schwer. Er spürte ein unendlich flaues Gefühl in der Magengegend. Ihm war, als hätte ihn der eigene Vater auf dem Jahrmarkt rücklings vom Karussell gestoßen. Er rang mühsam nach Worten.

“Es gibt also keinen Weihnachtsmann”, stammelte ein sichtlich verwirrter Junge mit tränenerstickter Stimme, den sanften Druck der Mutter an den Schultern kaum mehr wahrnehmend. Denn nur einen Wimpernschlag später bebte er vor Zorn: “Alles Lug und Trug! Einstudiert von Erwachsenen, die den Kindern eine heile Welt und eine traute Familie vorgaukeln wollen. Die an nichts anderes glauben, als an das, was sie selber für wahr oder unwahr erklärt haben. Aber den richtigen Weihnachtsmann kann man nicht erklären, noch lässt er sich bestellen und schon gar nicht für Geld kaufen, und trotzdem gibt es ihn. Genauso, wie es eine Stimme in unserem Herzen gibt, die zu uns spricht und es gut mit uns meint. Ich selber habe sie doch gehört…“

Der Vater schüttelte stumm und stur den Kopf. “Paul”, sagte er mahnend, “Paul...”

Doch der Junge ließ nicht locker, er hatte sich in Rage geredet und den Arm der Mutter von sich geschüttelt, ohne es recht zu bemerken. Aber ein unbeteiligter Beobachter hätte wohl den Eindruck gewinnen können, dass der Sohn die Mutter unbewusst der Komplizenschaft mit dem Vater zieh und in seiner Empörung auch keinesfalls Beschwichtigung wollte. “Dann gibt es natürlich auch kein Christkind“, bellte er über den gläsernen Couchtisch. “Und das Sandmännchen ist nur was für Babys, klar. Und der Harry Potter, dieser Zauberlehrling, der existiert schon gar nicht, was? Alles Märchen…” Zuletzt war sein Ton immer leiser geworden, die Zunge schwer von Traurigkeit.

Der Vater nickte. Sofern Mitgefühl mit dem Filius ihm unter der Haut spürbar gewesen sein sollte, so ließ er sich davon in seiner Reaktion auf die Emotionen des Jungen jedenfalls nicht leiten. Auch musste er nicht lange um eine Antwort ringen, für ihn lag alles klar auf der Hand. “Es tut mir leid, Paul“, sagte er mit dem sonoren Tonfall eines Schaffners, der einen Fahrgast darüber aufklärt, dass er im falschen Zug sitzt. „Alle diese Figuren gibt es im wirklichen Leben nicht. Das sind Märchen, ersonnen für kleine Kinder, um ihnen einen möglichst sanften Übergang zur manchmal rauen Welt da draußen zu ermöglichen. Und aus diesem Kindskopfalter bist du nun wahrlich raus. Je rascher du die Weihnachtsmännerwelt verlässt, desto früher kommst du im richtigen Leben an. Das ist die Realität, eine andere gibt’s nicht.”

Jedes Wort, das er sprach, ging wie ein Hieb durch Pauls Herz. Der Vater sah und fühlte nicht, welche Barmherzigkeit es gewesen wäre, dem Sohn das alles zu verschweigen oder wenigstens auf schonende Weise nahe zu bringen. Vergebens.

Franziska streute noch Salz in die Wunde. Sie sah sich durch den Vater in ihrem nassforschen Urteil über Pauls Weihnachtsmanndusselei bestätigt und als große Schwester, als die sich fühlte, dem Häufchen Elend im mächtigen Ohrensessel so unendlich überlegen: “Es wird Zeit, dass mein Brüderchen aus seiner Traumwelt erwacht, sonst meint er am Ende noch, ich wäre eine Zauberfee, die ihm jeden Wunsch von den Lippen abliest und erfüllt.”

Alle mussten lachen, selbst Seppi, von dessen üblem Spiel keine Rede mehr war, und der sich über die zuweilen träumerische Anwandlungen des Freundes schon seit geraumer Zeit wunderte. Nur Paul saß regungslos. Er fühlte sich unendlich einsam, gebranntmarkt als naiver Bub und gedemütigt wie ein Gläubiger im Reich der Gottlosen. Und ihn schmerzte die Brutalität, mit der er eines Traumes sich beraubt sah, einer Hoffnung, eines Lebenslichtes, ohne das die Welt für ihn an Wärme und Wonne verlor. Über seinen Rücken rannen kalte Schauer.

Als Paul schließlich im Bett lag, war es schon weit nach Mitternacht. Doch er konnte nicht einschlafen. Sein Kopf glich einem Affenfelsen: die Gedanken wuselten wild durcheinander. Die geheimnisvolle Stimme im Zelt, das Tohuwabohu im Garten und die Schocktherapie seines Vaters: All das war zu viel auf einmal für seinen kleinen Verstand und das zarte Gemüt.

Gut, dass er den Harry Potter als realen Helden abschreiben sollte, war in Pauls Augen kein großer Verlust. Dessen Abenteuer hielt er zwar für spannend und amüsant, sie regten seine Phantasie an und kitzelten die Lachmuskeln. Aber ihnen fehlte ganz Wesentliches: Sie berührten sein Herz nicht. Das war beim Weihnachtsmann völlig anders. Wenn Paul nur den Anfang des Gedichtes “Von drauß’ vom Walde komm ich her, ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr...” hörte, wurde sein kleines Herz wie ein frommes Geheimnis bewegt. Ganz so, als käme der Weihnachtsmann wie ein himmlischer Bote einmal im Jahr herbeigeeilt aus einer anderen, zauberhaften, für die vom nüchternen Verstand gelenkten Menschen so unerreichbar fernen Welt und als wollte er die Erdenbürger erwecken und ihnen das ersehnte Licht bringen, das sie selber in ihrem überwiegend als düster empfundenen irdischen Dasein allenfalls als flackerndes Flämmchen noch wahrzunehmen in der Lage sich fühlten. Ein Licht, von dessen Herrlichkeit der Pfarrer in der Christmette immer so voller Leidenschaft zu predigen verstand, das er seinen Zuhörern aber nicht im Herzen erfahrbar zu machen zu Gabe besaß, weil ihn selber eine übersinnliche Berührung jenseits aller Worte wohl niemals erreicht haben mag.

Wenn es aber den Weihnachtsmann gar nicht gab, wie sein Vater in einer Selbstsicherheit behauptete, die keinen Widerspruch zu dulden schien, dann konnte auch dieses Reich, aus dem er stammen musste, das Land aller überirdischen Sehnsüchte, gar nicht existieren. Paul schüttelte sich. Dieser Gedanke hatte für ihn etwas Beängstigendes, Bedrohliches, die Hoffnung Raubendes - und er war noch nicht einmal zu Ende gedacht.

Denn wenn es diese Welt des wahrhaftigen Lichts jenseits allen künstlichen Leuchtens nicht gab, wenn sie allein naiver Gutgläubigkeit entsprang oder esoterischen Heilsversprechungen, wie der Vater sich zuweilen am Küchentisch auszudrücken pflegte, wenn die Mutter ihm wieder einmal reichlich enthusiastisch von einer neuen Buchlektüre berichtete, wenn das also alles nicht stimmte, von was nur sollte dann noch Überzeugungskraft sich nähren und Raum sein für einen allmächtigen Herrscher im Himmel und auf Erden? “Dann gibt es auch keinen GOTT und keinen Jesus Christus und keine Engel, die uns beschützen!” Paul saß mit einem Male aufrecht in seinem Bett. Er hatte wie im Fiebertraum geredet und fasste sich an die Stirn, weil er sich selber körperlich gewahr zu werden das dringende Bedürfnis verspürte. Sie war kalt und nass.

Lange noch wurde der Junge auf hart empfundener Matratze von düsteren Gedanken geplagt, derer sich zu erwehren ihm nicht gelingen wollte, so sehr er sich auch mühte. Schließlich aber, weil alle Anstrengung groß war und die Zeit weit schon in der Nacht vorangeschritten, kam doch der Schlaf über ihn und erlöste den erschöpften Paul von seiner quälenden Verwirrung. Er sackte tief hinab ins Reich der Träume und nahm keinen Unterschied mehr wahr zwischen dem, was eben noch auf dem Laken an bildhaften Gedanken sich ihm offenbart hatte und jener mystischen Begegnung, von der hier die Rede sein soll.

Pauls Erwachen

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