Читать книгу Trilogie der reinen Unvernunft Bd.1 - Harald Hartmann - Страница 10

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Auf meinem zweifellos weiterhin richtigen Umweg zurück in den Palast des Ministerpräsidenten hörte ich von einem namenlosen Eskimo. Er sprach nur ein einziges Wort. Er beherrschte es perfekt. Es hieß „Ja“ und löste alle Probleme. Damit war er auf Weltreise. Seit vielen Jahren schon. Es war sein einziges Gepäck. Mehr brauchte er nicht, denn eine Zahnbürste konnte er sich überall von jemandem ausleihen. Als ich ihm begegnete, saß er auf einem Okapi. Es war sein Reittier, und es trug, wie ich deutlich sehen konnte, meine ehemaligen Präsidentensocken. Viele Jahre hatte ich vergeblich nach ihnen gesucht und nicht gewusst, wo sie sich aufhielten. Diese Entdeckung nun verursachte eine sofortige und erdrutschartige Wissensvermehrung auf dem tiefsten Abgrund meiner unstillbaren Erkenntnis. Die Lösung des Sockenrätsels war der überraschend auf der Bühne dieses verbissenen Wahlkampfs aufgetretene Beweis: Das Okapi kandidierte ebenfalls für den Posten des Ministerpräsidenten, und zwar mit der unwiderstehlichen Ausstrahlung meiner gestohlenen, ehemaligen Ministerpräsidentensocken. Bei dem ausgesprochen günstigen Preis-Ausstrahlungsverhältnis dieser Socken an Okapihufen war das kein Wunder, über das ich mich wunderte. Das Okapi war schließlich mathematisch ausgebildet und rechnete sich eine gefährlich realitätsfremde Chance aus, die ich aber mit meiner bekannten Realität zu konfrontieren gedachte, um zu zeigen, wer hier die Hosen anhatte und wer nur die Socken. Früh schon hatte der Wahlkampf mit aller Macht eingesetzt. Ich musste die Augen offen halten. Unerwartete Kandidaten lauerten nicht nur sondern auch noch überall.

Das Okapi dachte daran, eine Rede zu halten, wie mir mein Geheimdienst meldete. Ich dachte auch daran, eine Rede zu halten, eine Rede an die Menschen. Ich wollte aber auf keinen Fall irgendwelche Vorstellungen erwecken. Hier ging es zuallererst um Ehrlichkeit.

Ich öffnete mein Herz. Heraus kamen Worte, schöne Worte. Eins folgte dem anderen, bis sie endlich zu einer richtigen Rede zusammen gewachsen waren.

„Liebe Freunde, verehrte Feinde!“, schallte es aus mir.

Ich war dabei nur auf meine Stimme angewiesen. Die Gebärdensprache stand mir nicht zur Verfügung. Sie war mal wieder nicht gut auf mich zu sprechen seit letzter Nacht und machte nicht mit. Der Grund war privat. So etwas ließ sich am besten intern klären. Ich ließ mich davon aber nicht aus meinem Gewicht bringen und machte einfach rein stimmlich weiter mit der Rede.

„Die Kokosnuss“, rief ich, ... Der Rest ging unter in einem Meer von Jubel. Ich konnte die Menschen gut verstehen. Ich wartete, bis sie sich ein wenig beruhigt hatten. Ich spürte, wie sie schwergewichtig an meinen Lippen hingen. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Trotzdem gelang es mir, laut und kontrolliert den entscheidenden Satz zu sprechen.

„Lassen wir endlich gewaltige Zwerge burschige Gehäuse entwerfen.“

Die darauf folgende Stille war heilsam. Dem Okapi hatte ich damit eine richtige Wahlkampflektion erteilt. Es war die Lektion Nummer 21 aus der Sammlung der schönsten Lektionen meines alten Meisters, des doppelköpfigen Hamsters. Mit der Wahrheit kam man eben immer noch am weitesten. Für die Unwahrheit galt natürlich genau das gleiche. Alle Sterne fielen vom Himmel, stellte sich am Ende Dasgleiche als Dasselbe heraus.

„Hat jemand dazu noch Fragen?“ wollte ich wissen.

Zuerst meldete sich keiner. Doch dann sah ich weiter hinten die in die Luft gestreckte Hand einer Störenfriedin. Ich kannte sie von irgendwoher. Die Wahrheit selbst war es, die vorgab, noch eine Frage zu haben. Wie meistens wollte sie damit aber nur den Verkehr aufhalten. Sie hätte es besser wissen müssen, denn ich beantwortete grundsätzlich keine Fragen mehr von ihr, weil ihr meine Antworten nie in den Kram passten. Wortlos blickte ich ihr ins ungeschminkte Gesicht. Da sah ich, dass es meine Mutter war, die mal wieder die Gestalt der Wahrheit angenommen hatte. Sie hatte mich nie über sich im Unklaren gelassen. Ich dankte ihr dafür mit dem schnellfüßigen Dank des unbelogenen Sohnes, um sehr weit distanziert von ihr, endlich wieder bereit zu sein, mich in den Wahlkampf zu stürzen. Nur ihrer Ehrlichkeit hatte ich es zu verdanken, dass ich keinen Psychiater brauchte und noch nie einen gebraucht hatte. Das hatte auch, sehr zu seinem Ärger, der bis eben noch grinsende Psychiater in der ersten Reihe gemerkt, als er mir diskret und vorsorglich seine Visitenkarte zukommen lassen wollte. Erwartungsvoll hatte er in mein geschminktes Gesicht geblickt und erschauderte schlagartig wie von der Zitrone gebissen bis in die tiefsten Tiefen seiner Kontoauszüge beim Anblick, der ihn hier schon sehnsüchtig erwartenden, finanziellen Vergeblichkeit.

Ich ließ mich einfach von niemandem beirren. Mein Weg ging weiter und weiter, immer weiter. Man machte sich ja keine Vorstellungen davon, wie weit ein Weg gehen konnte, bevor man es nicht selbst erlebt hatte. Ich erlebte und erlebte und bediente mich dabei eines uralten Wissens aus der Zeit der Neandertaler. Von ihnen wusste ich, dass bei der Erkundung des weiten, weiten Weges, den ich beschritt, eine gute Nase unabdingbar war. Ich ging daher unverzüglich ein heimliches Verhältnis mit meiner guten Nase ein, und zur Sicherheit auch noch ein unheimliches. So konnte sie mir alles geben, was ich auf meinem weiten Weg brauchte. Meine Nase sah nicht nur schön aus, sie war auch unbestreitbar als Riechorgan auf meinen Wegen wie Umwegen sehr gut einsetzbar, wie mir nicht verborgen geblieben war. Diese Erkenntnis machte meine Nase natürlich sofort zu einem Ei. Es war das Ei des Kolumbus, von dem bekannt war, dass es jede nur mögliche Gestalt annehmen konnte, und welches mir dieses Mal in Gestalt meiner eigenen Nase mitten ins Gesicht gepflanzt worden war.

Denn kaum hatte ich mittels meiner Nase mit dem Riechen begonnen, traf mich der Blitz wie ein Donner. Meine Nase teilte mir nämlich mit, dass sie allein in dieser schwierigen Situation mir nicht den Wahlsieg bringen könnte. Was ich unbedingt dazu noch brauchte war ein Beratervertrag, mindestens einer. Ohne Beratervertrag würde alles nichts werden. Ein Beratervertrag war das A und O des kleinen Einmaleins, wenn der Weg weiter und weiter ging und auch gehen sollte. Beraterverträge rangierten in der Beliebtheitsskala ganz oben, gleich hinter dem eigenen Kleinwagen. Und das Wichtigste war: Beraterverträge machten sexy. Darauf reagierte das Wahlvolk traditionell besonders ahnungslos. Das war meine Chance, die ich mit meinen schopfartigen Haaren herbeizog, als wäre sie eine lichtsüchtige Motte. Ich besorgte mir gleich ein Dutzend dieser Wunderdinger. Natürlich achtete ich auf Qualität. Ich nahm nur gut gefälschte. Das Wahlvolk merkte nichts. Sie hatten alle keine Ahnung.

Jetzt hatte ich endlich die Muße, mich meinem Lieblingsprojekt für einen erfolgreichen Wahlsieg zuzuwenden. Ich machte mich daran, das Paradies abzureißen. Dabei hätte ich natürlich gut jede Hilfe gebrauchen können. Doch keiner eilte herbei, um mir zu helfen. Das überraschte mich allerdings nicht. Es ging schließlich um die Zukunft aller. Da wollte am liebsten keiner dabei sein. Doch ich tröstete mich. Als künftiger Ministerpräsident würde ich es leichter haben. Grob ausgebildete Mitarbeiter würden nicht lange fackeln und das Paradies in Stücke hauen. Ich freute mich schon darauf. Mein Flötenspiel würde diese Aktion melodisch untermalen. Deshalb verschob ich das Projekt spontan bis nach der Wahl, wenn mir das gesamte Personal zur Verfügung stand. Bis dahin verwies ich das Paradies in eine erfahrene Behelfsunterkunft. Um alles wasserdicht zu machen, verpackte ich es noch in eine Plastiktüte und einigte mich mit ihm auf eine vorteilhafte Einigung für mich. Alle vererbten Ansprüche aller Paradiesliebhaber wurden bis auf weiteres gestrichen und mir gutgeschrieben. Das war natürlich eine viel bessere Regelung als vorher und verschaffte mir ein Schlaraffenland der unglaublichsten, mir allein nun zustehenden Ansprüche. Ich griff aber nicht zu, wie sie es von mir wohl erwarteten, weil sie es von allen anderen auch erwartet hätten, sondern ich enttäuschte sie geschickt und setzte mich hin.

Ein Sessel kam nämlich just vorbei gegangen. Ich bot ihm mein Gesäß. Er akzeptierte. Mein Weg ging wieder weiter. Es war ein weiter Weg. Gemeinsam unternahmen wir eine bequeme und harmonische Reise, bis wir die Ruinen der Macht erreichten. Sie waren ein beliebtes Ausflugsziel mit vielen attraktiven Illusionen für das Wahlvolk. Hier verließ ich den Sessel, weil er noch weiter, viel weiter wollte und zahlte vor laufenden Kameras für meine Passage bar auf seine Sitzfläche. Natürlich privat. Wähler waren ein heikles Volk.

Mitten auf dem Ruinenfeld wurde ich hinterhältig überfallen von einer dieser widernatürlichen Eingebungen, die an Orten wie diesen gerne herum lungerten. Ich war sehr froh darüber. Es gab sie also noch. Genau so etwas hatte ich nämlich gesucht. Ich hatte schon befürchtet, sie wären alle von den edlen Rittern der anständig dekorierten Tafelrunde gejagt und ausgerottet worden. Aber nein! Die widernatürlichen Eingebungen waren noch da und gaben mir den unmissverständlichen Befehl, ein Eiscafé aufzumachen. Genau hier. Einen besseren Platz gab es gar nicht. Außerdem existierten im Verhältnis viel zu wenige Eiscafés in der Ruinenbranche, ganz gleich, ob es sich um die Ruinen der Macht oder der Ohnmacht handelte.

Ich eröffnete sofort. Die Lichtgeschwindigkeit wurde blass vor Schreck. Ein Feuerwehrmann gratulierte mir zu dieser Tat. Ich dankte. Wir nahmen Platz und bestellten ein Eis. Die Bedienung war sehr alt, aber sie lebte noch. Sie passte ganz hervorragend in dieses Ambiente. Ihre Verpflichtung war ein wahrer Glücksgriff für mich gewesen. Aufreizend langsam tanzte sie herbei und sang in schrillem Ton: „Ausverkauft!“

Das machte mich augenblicklich mehr als zufrieden. Kaum eröffnet, schon ausverkauft. So ging Business! Wenn das Wahlvolk die außerordentliche Qualität meiner unternehmerischen Potenz erkennen würde, hatte ich erstklassige Chancen, den Posten des Ministerpräsidenten erneut einnehmen zu können, vielleicht sogar für immer.

Der Feuerwehrmann und ich verließen daraufhin das gastliche Etablissement. Zum Glück wartete der Rolls Royce schon vor der Tür. Wer einen Rolls Royce hatte, musste nicht auf den Bus warten, um seinen Weg fortzusetzen. Das wusste jeder Besitzer eines Rolls Royce, aber auch seine Kinder, seine Frau und seine Angestellten. Auf Vorschlag des Feuerwehrmanns fuhren wir zum Kino, um uns visuell zu amüsieren. Das war eine sehr gute Idee, denn es brannte gerade ab. Es war nicht nur viel zu sehen sondern auch noch klar und deutlich, weil das Feuer alles hell erleuchtete. Zudem war es auch noch kuschelig warm, was einen weiteren Pluspunkt für einen Unterhaltungsbetrieb darstellte. Wir amüsierten uns. Zum Glück hatte der Feuerwehrmann heute frei und war beruflich nicht gezwungen, etwas Normales zu unternehmen. Das Feuer hatte auf diese Weise jedenfalls großes Glück gehabt.

Ich beobachtete erst den Feuerwehrmann, dann das Feuer. Da ging mir ein Gedicht durch den Kopf. Zuerst von rechts nach links, dann umgekehrt. Ich dachte an die vielen Leute, denen es genauso ging. So vieles ging von hier nach da. Das Lied dazu hieß: Trallala und hatte ebenso viele Strophen. Wir sangen es gemeinsam, bis das Feuer aus war. Dann ließ ich mich nach Hause fahren.

Trilogie der reinen Unvernunft Bd.1

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