Читать книгу Trilogie der reinen Unvernunft Bd.1 - Harald Hartmann - Страница 4
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ОглавлениеDer Nebel war verschwunden, das Wasser auch. Ich blickte mich um. Aus dem großen Schwimmbecken war ein großes Stadion geworden. Es war komplett ausverkauft und präsentierte sich mir geschmückt in seiner vollsten Blüte. Man wollte wohl meine Wiedererwählung feiern. Ich erhob mich aus dem gepolsterten Thron meiner Ehrenloge, um allen zum Dank für ihre überrationale Wahl ein kostenloses Schauspiel zu liefern. Ich rasierte mich mit meinem teuersten Elektrorasierer. Dafür gab es Applaus. Schon wieder. Ich mochte Applaus, und ich überlegte, ob ich nicht für immer hier bleiben sollte. Nirgendwo anders hatte ich jemals vorher so viel Applaus bekommen, und nirgendwo anders würde ich jemals wieder mit so viel Applaus bedacht werden. Manchmal war eine Antwort ganz leicht, so leicht, dass sie der Schwerkraft der Frage entkam und als nun emanzipiertes Wesen unter dem Radar der Vernunft hindurch fliegen konnte.
Da kam ein alter, unmoderner Reisebus durch das, wie immer dienstags, weit geöffnete Stadiontor herein gefahren, langsam, wackelnd in den Knien und rumpelnd mit seinen ausgeschlagenen Achsschenkeln. Er hatte ein über die gesamte Dachfläche gehendes offenes Verdeck. Reggae-Musik ertönte aus seiner Musikanlage. Vierundzwanzig gut gelaunte Putzfrauen genossen die Fahrt. Ich gönnte ihnen den schönen Ausflug zu mir. Der Bus hielt. Sie winkten mir hemmungslos zu mit ihren feuchten Feudeln. Früher wäre ich rot geworden. Ich winkte freundlich zurück. Bestimmt hatten sie die Nachrichten verfolgt und waren gekommen, um mir zu huldigen. Eine nach der anderen stieg aus. Unentwegt ließen sie die Hüften kreisen zum Rhythmus der Musik. In den Händen hielten sie ihr Handwerkszeug. Feierlich legten sie es ihrem Ministerpräsidenten zu Füßen und entschwanden tanzend in den Bus. Jetzt war es mein Handwerkszeug.
Ich sah hinter ihnen her und vermied jegliche Interpretation, auch die, an die ich dachte. Der Busfahrer ebenso. Er profitierte von seiner jahrelangen Erfahrung. Er gab lieber Gas. Ich sah ihn nur noch von hinten. Ich hatte schon befürchtet, dass er mir noch einmal zuhupen würde. Dann wäre ich gezwungen gewesen, zurück zu winken. Er entschied sich gegen eine solche anbiedernde Geschwätzigkeit. Er verschwand ohne überflüssiges Dekor. Auf Nimmerwiedersehen. Grußlos und auf direktem Umweg durch das, wie immer dienstags, weit geöffnete Stadiontor. Ich atmete auf und dankte dem goldenen Kelch. Meist ging er nicht so entschlossen an mir vorüber.
Der Abend war gekommen. Ich saß wieder auf meinem kalten Ministerpräsidentenstuhl in meinem feuchten, zugigen Präsidentenpalast. Dann meldete sich auch noch mein Nacken. Er fror. Im vollen Bewusstsein ebenso wie im übervollen Vollbesitz meiner absoluten Machtfülle stellte ich kurzerhand die Heizung an. Als Ministerpräsident wusste man auch in den schwierigsten Fällen immer einen Rat, manchmal auch zwei. Aber das kam zum Glück selten vor, zum Glück deshalb, weil so etwas die Abläufe der Regierungsarbeit nur aufhielt.
Ich hatte mich nun endgültig damit abgefunden, Ministerpräsident zu sein. Mehr noch. Der Applaus hatte es mir wirklich angetan. Einer, dem Applaus egal war, konnte hier überhaupt nicht mitreden. Er kitzelte in meinem Bauch nach Leibeskräften. Aber ich lachte nie. Ich war nicht kitzelig. Ich war stark. Ich war ernst. Ich war entschlossen. Für einen Mann wie mich war es also genau der richtige Posten. Wer noch zweifelte, dem gab ich ein Beispiel für meine schier übermenschliche Tatkraft. Souverän und lächelnd demonstrierte ich allen amateurhaften Zweiflern die Funktionsweise meines aus der Hüfte geschossenen präsidentiellen Urgesteins. Ich entschied ohne weitere Diskussion mit mir selbst, alle vierundzwanzig mir überreichten Putzeimer im Garten meines Amtssitzes aufzustellen, um den Regen aufzufangen, wenn es einen geben sollte. Ich ging volles Risiko in dieser Zukunftsfrage der Putzeimer. Es sollte das größte Projekt meiner Amtszeit werden. Mein Höhepunkt setzte ein. Ich wartete auf den Applaus.
Da erschienen wieder die zwei Herren in den korrekten Anzügen. Sie wollten an meine Tür klopfen. Doch sie war nicht da. Ich hatte sie ausgeliehen. Für die ganze Saison. Ich hatte im Moment keine Verwendung für sie. Ich bot ihnen meine Stirn. Einer klopfte den geheimen Code an ihre Wand. Ich öffnete. Er teilte mir mit, ich sei als Ministerpräsident abgewählt worden. Der andere reichte mir einen Koffer.
„Bitte“, sagte er.
„Danke“, sagte ich.
Ich öffnete den Koffer, weil ich neugierig war. Er war leer.
„Glück gehabt“, dachte ich.
Wenn etwas drin gewesen wäre, hätte ich mir Gedanken machen müssen. Ich schloss den Koffer. Mit meinem gesamten Bauchgefühl legte ich mich auf den Rücken, streckte die Beine zum Himmel und ließ den Koffer auf meinen Fußsohlen wilde Salti vollführen. In rasendem Tempo. Niemals vorher hatte ich derartiges getan, weil nicht einmal ich etwas von dieser erstaunlichen Fähigkeit geahnt hatte, die faul in mir geschlummert hatte und wohl gehofft hatte, niemals aufgeweckt zu werden. Dem Koffer schien es zu gefallen. Aber darum konnte es jetzt nicht gehen. Ich musste an meine Zukunft denken. Und so unterbrach ich den tausendfach gedrehten Wirbel mit einer gefährlich quietschenden Vollbremsung, stellte den Koffer hochkant und setzte mich darauf. Wenig bis lustlos begann ich an meine Zukunft zu denken, konnte aber nicht die kleinste Spur von ihr entdecken. Suchen wollte ich nicht, gewiss nicht. Ich war ja nicht hier, um Verstecken zu spielen. Ich war hier, um Ministerpräsident zu sein. Aber nach den letzten mir übermittelten Informationen war ich kein Ministerpräsident mehr. Ich kratzte mich ausgiebig.
Es gab Situationen, so wie hier und jetzt, da stürzten alle diese unerotischen, gewöhnlichen Maßnahmen, mit denen ich nie etwas im Sinn gehabt hatte, und die nun forderten, von mir ergriffen zu werden, auf mich zu. Da konnten nur noch die sagenumwobenen, langen Schatten helfen, um sie weit über die Zukunft hinaus in die Unsichtbarkeit zu schleudern und mich so von ihnen zu befreien. So entschlossen, wie nur jemand sein konnte, der wusste, was er wollte, erteilte ich ohne jede Verzögerung diesen Schatten den Auftrag, diese unerotischen, gewöhnlichen Maßnahmen unverzüglich zu schleudern. Wenn ich wieder Ministerpräsident sein wollte, musste ich dieses von mir mit Hilfe der langen Schatten soeben geschaffene Vakuum schnellstens mit der Erotik ungewöhnlicher Maßnahmen füllen, so ungewöhnlich, dass sie selbst mir derzeit noch unbekannt waren. Das beste wäre es außerdem auch, wenn keiner von meiner Absicht Witterung bekäme. Ich verhielt mich deshalb ungewöhnlich normal, um mich zu tarnen, aber natürlich auch um mich im Uterus der Ungewöhnlichkeit ungestört fit machen zu können für die Entdeckung der Spuren meiner Zukunft, die immer noch spurlos war.