Читать книгу Trilogie der reinen Unvernunft Bd.1 - Harald Hartmann - Страница 7
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ОглавлениеDas Licht stoppte. Ich befand mich an der Haltestelle des Lichts. Ich trat ein. Ich setzte mich auf einen Hocker. Das Blau des Hockers wog 31 Gramm, schätzte ich, das Blau des Himmels müsste ebenso viel wiegen. Ich war sogar ganz sicher, dass es überhaupt keinen blauen Unterschied gab zwischen dem Hocker und dem Himmel. Doch diese Sicherheit verwandelte sich schlagartig in eine aufregende Unsicherheit, als ein einbeiniger Briefträger unnachgiebig und mit lockendem Augenaufschlag mit seinem blauen Dienstfahrrad auf mich zu radelte. Mit einem professionellen Briefträgergriff langte er in seine linke Gesäßtasche und übergab mir eine Pudelkugel. Ich kannte keine Pudelkugeln. Ich war viel in der Welt herum gekommen, ohne dass Pudelkugeln mir waren untergekommen. Ich fühlte mich wie eine von einem elektrischen Schlag ziellos hinweg geschleuderte Flipperkugel.
„Sehr wichtig“, sagte er.
„Das kann jeder sagen“, sagte ich und ergriff die Pudelkugel mit meinen abgewählten Ministerpräsidentenhänden.
Eingehend betrachtete ich sie und das Geheimnis ihrer extremen Rundheit, die ihr so eigen war wie die Häuptlingsfüße dem Häuptling. Allerdings tat ich es wohlwissend nur mit dem oberflächlichen Blick des einbeinigen Briefträgers. So schützte ich sie vor der gefährlichen Geheimnislüftung, die im Augenblick überall unterwegs war und alles und jeden mit ihrem unlöschbaren Wissensdurst verschlingen wollte. Ich küsste sie ausgiebig und geräuschvoll von Nord nach Süd und auch um ihren Äquator herum, ganz so wie ich es auch getan hätte mit einem naturbelassenen Häuptlingsfuß, wenn er rund gewesen wäre. Sie schmeckte ganz so, wie sie aussah. Denn sie war sehr schön. Sogar mehr als das. Sie war viel, viel schöner als es gesetzlich erlaubt war. Damit war sie natürlich illegal. Das musste aber nicht so bleiben, denn jetzt hatte sie ja mich. Und ich hatte sie. Mit meinem undurchdringlichsten Pokerface, an dem bisher noch jeder wissendurstige Angriff, ob von außen oder innen, zerschellt war wie ein verschwitztes Paar Sportlersocken, steckte ich sie erst einmal zum späteren Verzehr oder einer anderen, mir im Augenblick noch verborgenen Verwendung in meine dunkle, warme Hosentasche zu meinen verschrumpelten, gebrauchten Papiertaschentüchern. Schneller als ein Hahn zu krähen aufhören konnte, gebar ich einen Gedanken, der schon bald zu einem respektablen Plan gereift war. Sollte ich wieder zum Ministerpräsidenten gewählt werden, würde ich unverzüglich der Schönheit von Pudelkugeln zu einem Übermaß an Legalität verhelfen, zum Ausgleich und zur Entschädigung wegen erlittenen Illegalität, mehr noch, ich würde mit einem elegant designten Gesetz zur Legalisierung ihrer Schönheit nicht bei ihr haltmachen, sondern die Schönheit überhaupt und an und für sich und überall mit einbeziehen. Für die Schaffung einer flächendeckenden, befreiten Schönheit würde ich bestimmt die Zustimmung unzähliger, hoch talentierter Anhänger finden, die bisher im Verborgenen illegal der Schönheit huldigen mussten. Ich wusste, was das hieß. Das war das lange schon wissenschaftlich vermutete, unentdeckte Wählerpotenzial! Vor mir hatte sich ein Weg von grenzenloser Schönheit aufgetan. Es war der Weg in meine so lange gesuchte Zukunft. Endlich hatte er sich mir offenbart. Es war der Weg zurück in den schicken Amtssitz des Ministerpräsidenten mit seinem rosinengelben Lustgarten. Der Wahlkampf hatte soeben begonnen.
Ich begab mich in mein Hauptquartier. Es war ganz voll. Alle waren da. Die Luft war nicht sehr gut, weder hinter mir noch vor mir. Der Grund war unbekannt. Nie gab es Gründe für irgendetwas, weder damals während meiner Amtszeit noch heute. Das war mehr als beruhigend, auch im Hinblick auf die Zukunft. Um aber deswegen nicht einzuschlafen, verließ ich mein warmes Hauptquartier und leckte mir ein aufmunterndes, eisgekühltes, italienisches Eis in drei Geschmacksrichtungen in der Eisdiele gleich nebenan. Dazu nahm ich mir noch einen freien Wunsch und wünschte mir, dass es immer so schön bliebe wie in einem Märchen. Der Wunsch ging sofort in Erfüllung.
„Danke“, sagte ich zu ihm.
„Bitte“, sagte er. „Dafür bin ich doch da.“
Im selben Moment erschrak er, weil er etwas gemerkt hatte, aber zu spät. Er hatte sich verplappert und das auch noch gleich neben meinem Hauptquartier mit seinen riesigen Lauschern. Es sollte doch keiner wissen und ganz besonders nicht ich, dass ein Wunsch nur zu seiner Erfüllung auf der Welt war. Ich gehörte damit fortan zur Gruppe der Geheimnisträger. Schwerelose Kredite und unübliche Rabatte waren die unausweichliche Folge. Würde ich selbst mich nun auch noch verplappern, wäre die Welt augenblicklich von ihrer grundlosen Ordnung befreit. Doch die Welt war meine Geisel und ahnte es nicht einmal. Wahlkampf war schön, wenn man selbst Bescheid wusste und die anderen nicht.
Mit einigen stakkatoartig in die schwüle Wahlkampfluft entlassenen Lachstößen überließ ich mich daraufhin ganz vertrauensvoll meinen verwegen schreitenden Schritten, die mich dorthin führten, wo bestimmt keine Musik spielte. Es war ein Geschäftslokal der alten Art ohne den sonst allgegenwärtigen, nervtötenden Sumpf klanglicher Überredungsversuche, sobald man eintrat, was sogleich die Konzentration auf meine Aufgabe aus ihrem von der reinen Vernunft geplagten Fokus heraus katapultierte in eine unbekannte Welt ohne die üblichen, überteuerten Dopingmittel. Ich drückte die Klinke der Eingangspforte, und die schwere, Eisen beschlagene Tür öffnete sich mit einem stöhnenden Willkommensgruß.
„Haben Sie fliegende Teppiche?“, fragte ich den Teppichhändler.
Nachdenklich zupfte er an seinen langen, eleganten Nasenhaaren. Darüber schlief er ein. Ich weckte ihn. Er prüfte akribisch, ob keiner seine Nasenhaare entwendet hatte. Sie waren alle noch da. Mich überraschte das nicht. Ihn schon. Er musste wohl unglaubliche Dinge erlebt haben in seinem Leben. Er erhob sich und öffnete ein Fenster. Es war von außen zu gemauert. Sinnierend blickte er auf die Wand aus frisch gebackenen Backsteinen.
„Versuchen Sie es doch einmal auf den Antillen“, sagte er schließlich.
„Die großen oder kleinen?“, fragte ich nach.
Es war eine dumme Frage. Aber das musste ja auch mal sein. Die dummen Fragen hatten eine ebensolche Lebensberechtigung wie die klugen Fragen. Trotzdem hatten sie es schwer. Sie hatten ein schlechtes Image. Sie brauchten einfach ein besseres Image. Es war ein reines Imageproblem. Während ich mir also noch derlei Gedanken machte, war der Teppichhändler aber schon wieder eingeschlafen. Teppichhändler war auch eine schöne Sache, kam es mir in den Sinn. Ich überließ ihn ganz seinen müden Illusionen. Später war immer noch Tag genug für uns vorhanden. Für mich aber wurde es jetzt ernst.
Meine Wäsche war nämlich trocken und schrie aus vollem Halse. Ich konnte mich als Wahlkämpfer aber natürlich nicht um alles kümmern. Um ihre Zukunft musste die Wäsche sich schon alleine sorgen, jetzt wo sie trocken war. Ich hatte etwas ganz anderes mit mir vor, als mit meiner trockenen Wäsche zu diskutieren. Schließlich hatte ich nach den längst verdauten Ereignissen aus letzter Zeit nun einen Hunger wie ein Vogel. Ich rief ein Taxi. Es brachte mich zum Spielcasino. Ich musste mich mal wieder richtig satt essen. Doch es gelang mir nicht. Nach meiner Abwahl war die Welt plötzlich eine andere geworden. Ich hatte in dem ganzen Gewitter der mir begegnenden Andersartigkeit nämlich vergessen, wie es ging, mich satt zu essen, und alle Unterlagen zur Erzeugung von Sattheit lagen weit weg zu Hause in meiner Küche.
Entschlossen sagte ich: „Risiko!“
Wo ich schon mal hier im Casino war, setzte ich alles auf Hunger, um ihm eine zweite Chance zu geben. Vollgepumpt mit dem zufrieden in meinen Gedärmen nagenden Hunger der zweiten Chance, betrat ich den Sonnenbalkon des Spielcasinos. Mein Schwiegervater befand sich dort auf einer Sonnenliege. Ich hatte ihn noch nie getroffen, und er hatte mich wohl nicht erwartet. Er sah mich. Dann verstarb er. Da war mein Hunger weg. Er hatte ihn mitgenommen. Ich dankte ihm.
„Am schönsten ist es doch zu Hause“, dachte ich in diesem Moment, ohne nach dem geheimnisvollen Warum zu fragen.
Voller Sehnsucht kamen mir die Putzeimer im Garten des Ministerpräsidenten ins Gedächtnis. Meine ganze Liebe galt ihnen. Wenn sie nur im Regen standen, ging es ihnen gut. Und mir damit auch. Das war ja schließlich das Wichtigste. Und dass ich den besten Wahlkampf machte, den je ein Wahlkämpfer gemacht hat, war natürlich genau so wichtig.
Ich kletterte auf einen Baum. Ich blickte in die Ferne, die es nicht gab. Ich bemerkte, dass es auch keinen Baum gab. Ich stand im feuchten Gras. Die Ampel sprang auf rot. Ich nahm Platz an einem Restauranttisch. Der Hunger war wieder da. Mein verstorbener Schwiegervater hatte ihn im Spielcasino glatt verdoppelt für mich und ihn mir auf geheimen Wegen wieder zukommen lassen. Sogleich wusste ich wieder, wie es ging, mich satt zu essen. Ich dankte ihm abermals und winkte dem Kellner, wie man einem Kellner winkte.