Читать книгу Trilogie der reinen Unvernunft Bd.1 - Harald Hartmann - Страница 5

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Seit meiner ebenso überraschenden wie grundlosen Abwahl war ich natürlich am ganzen Körper psychologisch anders eingestellt. Ich verspürte einen hochprozentigen, undefinierbaren Lustgewinn, denn die immer noch eintreffenden Irritationswellen dieses Ereignisses machten aus mir eine hin und her titschende, von meinem Willen befreite, Flipperkugel zwischen den mit Hochspannung geladenen Toren der Leere und der Fülle. Es wollte mir scheinen, als bestünde meine Zukunft aus diesen heftigen, hektischen, unvorhersagbaren, blitzartigen, zuckenden Bewegungen. Aber sicher war das natürlich nicht. Überall gab es böse Fallen, wenn es um die wahre Wahrnehmung ging. Es war besser, wenn ich meine Augen offenhielt, bis ich eine Bestätigung für meine Vermutung von unabhängiger Seite erhalten würde.

So tanzte ich weiter von einer Unvernunft zur anderen, und keine von ihnen vergeudete auch nur einmal einen Gedanken daran, irgendeinen Sinn zu machen, nicht mal der allerkleinsten. Da wusste ich, dass ich auf einem vielversprechenden Weg war, vielleicht sogar auf dem vielversprechendsten auf dem gesamten Territorium der Unvernunft. Es würde einfach alles kommen, wie es kam, und am Ende wäre ich endlich wieder Ministerpräsident.

Aber jetzt war jetzt und nicht das Ende, und jetzt führte mich mein Weg direkt von der Hand in meine Hosentasche. Ich griff hinein und holte eine Handvoll Gummibären heraus. Sie wussten sofort, was ich von ihnen wollte. Die Reifen meines Ministerpräsidentenfahrrads, mit dem ich gerade unterwegs war, wahrscheinlich sogar illegal, weil ich ja abgewählt war, waren platt. Darauf hatten sie nur gewartet, diese alten Kumpane aus meiner längst vergangenen Vagabundenzeit. Eifrig übernahmen sie die Aufgabe. Hungrig, wie sie waren, gaben sie ihre sonst so steife, aristokratische Zurückhaltung auf. Sie ließen sich sogar regelrecht gehen. Ich wusste, dass Luft pumpen ihr Hauptnahrungsmittel war. Es war ein Genuss, ihnen zuzusehen. Ihre Leidenschaft dabei überschritt die Grenzen des Anstands ohne Rücksicht auf uninteressante Gewinne. Wie jedes Mal. Ähnlichkeiten mit mir gab es in dieser Hinsicht nicht. Mir waren solche Gefühle gänzlich unbekannt. Dauernd lief mir Unbekanntes über den Weg. Irgendetwas stimmte hier plötzlich also wieder ganz gehörig. Es waren meine Ministerpräsidentenreifen. Sie rülpsten ungewöhnlich gehörig in den Südwind. Es ging ihnen gut. Sie waren voll wie lange nicht mehr. Ich lobte die Bären. Sie winkten generös ab.

„Lecker und freundlich“, dachte ich noch.

Dann war es dunkel.

„Diametral ist antineutral“, sagte eine Stimme.

Ich erforschte den Raum um mich herum. Alles sah gleich aus. Gleich dunkel. Es war eine dünne, hohe Stimme, die ich vernommen hatte.

Ich sprach: „Es werde Licht.“

Und es ward Licht. Vor mir stand ein Dinosaurier. Ohne Zweifel handelte es sich bei ihm um einen ausgewachsenen Kerl älterer Bauart.

„Warst du das?“ fragte ich ihn.

„Erraten“, piepste seine erbärmliche Stimme.

„Hast du Probleme?“

„Hatte! Und wie! Akzeptanzprobleme!“

Ich wollte mir schon vor Vergnügen über diese Antwort die Zähne putzen, weil ich es ja nicht vergessen durfte, aber ich ließ es einfach und reuelos, dem Ruf einer Meise folgend, sein und durchtrennte so mit einem einzigen Hieb meine letzte Verbindung zu meinem alten Leben, weil ich es nicht mehr länger brauchte.

„Was war das für ein Satz, den du da gerade gesagt hast?“ fragte ich.

„Den habe ich mir so ausgedacht. Seitdem habe ich den lange verwaisten Vorsitz im Rat der fünf Weisen. Akzeptanzprobleme habe ich nicht mehr.“

„So kann's kommen“, sagte ich. „Auch Ministerpräsident ist ein schöner Posten.“

„Ich weiß“, antwortete er.

Statt zu stutzen, wie es sich gehört hätte, durchquerte ich lieber schnell den schlauen Dinosaurier, bevor er mehr von dem erzählen konnte, was er alles wusste und dachte schon wieder an meine Zukunft. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich anlachte, aber heimlich, aus einem dunklen Versteck heraus. Es war ein Lachen der transzendentalen Art. Ich wollte aber nicht wahnsinnig werden, sondern unvernünftig bleiben. Geistesgegenwärtig beschloss ich zu heiraten. Ich machte meinem ungewaschenen Auto noch in der Garage einen Antrag.

Es sagte: „Ja.“

Ich sagte: „Ja.“

Wir waren nun ein Paar. Man konnte sich keine glücklichere Verbindung vorstellen. Die Schweißnaht der Liebe hatte aus unserem einstigen Miteinander ein schicksalhaftes Aneinander gemacht.

Versonnen saß ich am Küchenfenster und betrachtete mein Auto, das auch als Ehepartner eine gute Figur abgab auf seinem Parkplatz vor dem Haus. Dabei forschte ich weiter, unverdächtig planlos, nach dem Weg in meine Zukunft. Da bemerkte ich, dass ein fremder Fluss sein Bett verlassen hatte. Er vagabundierte und randalierte auf seiner Suche nach einer neuen Schlafgelegenheit. Er schien müde. Das machte ihn so gefährlich. Gerade floss er durch die Katzenklappe in den Keller meines Hauses, dann die Treppe hinauf und vorne durch den Briefschlitz der Haustür wieder hinaus auf die Bushaltestelle. Die Leute bekamen nasse Füße. Als sie die vielen Ratten im ungeklärten Strom des fremden Flusses sahen, freuten sie sich wie gewöhnliche Kinder. Wie frisch gebadet kamen sie aus dem Keller geschwommen und tanzten den in letzter Zeit rar gewordenen Rattensamba zum Vergnügen aller zwischen den Beinen der Wartenden. Das Wasser spritzte an ihnen so hoch, dass sich ihre Frisuren bald in einen unwegsamen, klebrigen Morast aus düster duftender Pomade verwandelt hatten. Da übermannte sie das Mitleid mit den unermüdlich tanzenden Ratten, und sie warfen ihnen goldene Geldmünzen zu, um sie vor weitergehender Ekstase zu beschützen.

Diese wissenschaftlich vielfach erprobte Maßnahme hatte auch im Tierversuch einen sofortigen Erfolg zur Folge. Geld hatte bisher noch jeden aus dem Konzept gebracht. Auch Ratten machten da keine Ausnahme. Sie hörten sogleich auf zu tanzen. Ihre Gehirne spielten verrückt. Schnell liefen sie zum Kiosk auf die andere Straßenseite und warfen alle Münzen in den Geldschlitz des draußen festgeketteten Kaugummiautomaten. Hemmungslos entleerte er sein Innerstes bis auf sein letztes Hemd, der Glückliche. Endlich war er frei. Er zerriss die Kette mit seinem internationalen Charme in einem einzigen, langgezogenen, elastischen Ruck, so wie es wahrscheinlich nur Kaugummiautomaten konnten.

Er wusste, was er wollte. In der langen Zeit seiner an der Kette gefangen gewesenen Freiheit hatte er sich in aller Ruhe einen Plan ausgedacht. Er betrat den Kiosk und legte sich lang auf den Boden. Er wollte schlafen. Nur noch schlafen. Das war sein Plan. Er war müde. Der erfahrene, vorteilhaft gekleidete Kioskbesitzer hatte ein professionelles Verständnis für ihn parat. Es handelte sich um einen mit Federn gefüllten, kleinen Beutel für seinen empfindlichen Glaskasten und einen mit Federn gefüllten, großen Beutel für seinen kalten Bauch. Auch für den fremden, randalierenden Fluss hatte er schon etwas Unpassendes vorbereitet. Aber der kam gar nicht herein. Vielleicht war er einfach zu unintelligent für eine Freundschaft mit dem Unpassenden.

Das galt aber nicht für das in diese Szenerie gerade hereinplatzende Wunder, eines das niemals vorher je beobachtet worden war. Frühling, Sommer, Herbst und Winter betraten gemeinsam den Kiosk. Sie plauderten miteinander, aber leise, weil sie den Kaugummiautomaten nicht wecken wollten. Sie kannten sich offenbar gut, waren wahrscheinlich sogar befreundet seit dem letzten Jahr. Ich begrüßte sie mit der Titelmelodie aus den fünf durchschnittlichen Jahreszeiten, die ich meiner unwilligen Lunge abrang. Doch schneller, als ich gucken konnte, hatten sie sich verabschiedet und waren verschwunden. Ich fragte mich, warum und sah mich um. Möglicherweise lag die Antwort draußen, weil drinnen keine zu sehen war. Ich verließ den Kiosk und erblickte eine Antwort, die alle Fragen offen ließ.

Gut gekleidete Herrschaften, hauptsächlich mittleren Alters, rollten lange Bahnen rosa Klopapiers auf der Straße aus und zuckten dabei unablässig mit ihren Wimpern. Vor Rührung ergriff ich den erstbesten, vorbei laufenden Hund und küsste ihn heftig. Sofort verwandelte er sich in einen jungen, schönen Prinzen. Als ich ihn auf seinen Zaubertrick ansprechen wollte, war er ebenfalls verschwunden, ganz so wie diese scheuen Jahreszeiten aus dem Kiosk, eher noch schneller. Schade, hätte mich interessiert.

Doch das Wunder mit seinem ganzen wunderlichen Geschehen beunruhigte mich nicht, denn die Kamelkarawane am Ende der rosa dekorierten Straße war noch da. So lange ich denken konnte, war sie schon da. Man hätte den Eindruck gewinnen können, sie stünde fest und bewegte sich nicht. Aber das stimmte nicht. Sie war auf dem Weg in die Zukunft, und dahin ging es nur sehr, sehr langsam, gerade wenn man ein Kamel war.

Ein Kühlschrank hatte sich zu mir gesellt. Er machte die gleiche Beobachtung. Alle Sterne fielen vom Himmel, stellte sich am Ende Dasgleiche als Dasselbe heraus. Zufrieden schnurrte der Motor meines coolen Begleiters das eintönige Lied, für das er bekannt war. Bekanntes kreuzte immer wieder meinen Weg.

Trilogie der reinen Unvernunft Bd.1

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