Читать книгу Trilogie der reinen Unvernunft Bd.1 - Harald Hartmann - Страница 11
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ОглавлениеKaum war ich dort angekommen, stattete mir der immer noch herum vagabundierende Fluss, den ich längst vergessen hatte, um in meinem Kopf Platz zu schaffen für die unaufhaltsam in mich eindringende Gegenwart, einen überraschenden Besuch ab. Als Gastgeschenk brachte er eine Flaschenpost mit. Schon wieder eine, also immer dasselbe oder möglicherweise auch das Gleiche. In der letzten Flaschenpost hatte auf dem Zettel gestanden:
Sucht mich nicht! Es geht mir gut! Ich will nicht zurück!
Doch dieses Mal hatte ich mich getäuscht. Es war keine Flaschenpost. Heraus kam ein Flaschengeist. In letzter Zeit hatten sie sich stark vermehrt. Sie waren zu einer regelrechten Plage geworden. Ich wünschte ihn gleich wieder zurück in die Flasche und verschloss sie schnell mit etwas Privatem, über das ich als Wahlkämpfer lieber schweigen wollte, und zwar so lange bis ich ein interessantes, finanzielles Angebot für das Nicht-Schweigen erhielt.
Lange stand ich da und wartete auf etwas, das ich ebenso längst vergessen hatte wie diesen herum vagabundieren Fluss. Weil ich es aber vergessen hatte und nicht wusste, worauf ich wartete, konnte es sein, dass das, was ich da erblickte, das war, worauf ich schon so lange wartete. Nicht einen einsamen Vagabunden wie den Fluss erblickte ich, sondern zwei davon, was der Einsamkeit natürlich die komplette Geschäftsgrundlage raubte, die in flussunähnlicher, also fester Form daherkamen, aber sonst keine erkennbaren Unterschiede zu diesem aufwiesen. Ich sah einen dicken und ein dünnen Mann vagabundierend des Weges kommen und begann, mir eine unausgegorene Vermutung zu züchten, die ich geschwind zu einem blubbernd gärenden Gedanken fortentwickelte. Vielleicht, so war der reifende Gedanke, hatten sie ja einen gut dotierten Vertrag mit einem interessanten finanziellen Angebot für mein Nicht-Schweigen dabei, etwa unter einem Hut oder hinter ihrem Lächeln. Es hätte mich wahrlich nicht gewundert, weil ich immer auf alle Eventualitäten gefasst war. Verdächtig war aber, dass sie mich so freundlich grüßten. Das machte mich misstrauisch meinem gärenden Gedanken gegenüber. Ich stellte ihnen eine Frage, die kein Mensch beantworten konnte. Sie kannten die Antwort. Volltreffer! Damit hatten sie sich verraten. Außerirdische waren oft nicht sehr intelligent. Was machten sie bloß hier? Ein finanzielles Angebot hatten sie natürlich nicht dabei, das war klar. Ich machte es wieder wie vorher, erst vermuten, dann denken. Vielleicht hatte das Okapi sie geschickt, um mich auszuspähen. Es konnte aber auch der Riesenkalmar sein. Er kandidierte ja ebenfalls für den Posten des Ministerpräsidenten, wie inzwischen bekannt geworden war. Die Welt war hart. Wer nicht aufpasste, war verloren. Schnelles Handeln war jetzt gefragt.
Ich fragte sofort bei meinem Friseur nach. Gegen die Härte der Welt empfahl er mir den Abschluss einer Sockenschutzversicherung, doch die war sehr teuer, gerade dienstags, wie immer dienstags. Für mich gab es aber keine Alternative. Alles musste jetzt auf den Tisch. Wenn man Hunger hatte, musste man essen. So lernte ich Hansi kennen. Hansi war Versicherungsvertreter. Er gehörte der Familie der schweigsamen Wellensittiche an, eigentlich eine sehr vertrauenerweckende Familie. Doch er war grün. Das machte ihn verdächtig für Verdächtigungen aller Art. Wie schon gesagt, in meiner Lage musste man die Augen offen halten. Ich ließ mir nichts anmerken. Ich verwickelte ihn in ein Gespräch. Ich ging geschickt vor.
„Wie heißt du?“
„Hansi“, sagte er.
„Wie alt bist du?“
„Ziehe die Wurzel aus 327 und brate sie gemeinsam mit anderen Wurzeln. Das Ergebnis wird dich überraschen.“
Er hatte recht.
„Willst du auch Ministerpräsident werden?“, fragte ich ihn frank und frei.
Ich sah ihm offen ins Gesicht.
„Das will ich weder bestätigen noch dementieren“, antwortete er.
Sein sonst so schnabeliger Schnabel blieb verschnabelt wie ein Grab. Also ja! Vor Hansi musste ich mich auch in acht nehmen. Meine Mutter hatte mich immer schon vor ihm gewarnt. Ich lud ihn aus Anlass einer gemeinschaftlichen Nahrungsaufnahme zu einem Festessen ohne Hintergedanken ein. Zuerst reagierte er ausgesprochen misstrauisch. Er zeigte bei meinem staatsmännischen Lächeln, das meine Einladung stilvoll begleitete, ein leicht verzögertes Bewegungsinteresse. Dabei konnte er mir vertrauen wie jedem anderen Wahlkämpfer auch, denn ich dachte trotz meiner nie schlafenden, kollateralen Hintergedanken, die ihn so misstrauisch machten, nur ans Essen, wirklich nur daran. Um diesen Störfaktor zwischen uns ins Abseits zu stellen, ließ ich als Vertrauen bildende Maßnahme, langsam und deutlich meinen Blick, kombiniert mit einem vielsagenden Ausdruck zur Garderobe wandern. Sein Blick folgte meinem. Da hatte Hansi verstanden.
Ruhig hing mein Mantel an seinem Bügel und wartete. Er wusste noch nicht, dass er heute Abend für ein Festessen mit einem Versicherungsvertreter herhalten musste und im Kochtopf landen würde. Ein weit entfernt an einem Haken hängendes, speckiges, ehemals weiß gewesenes Küchenhandtuch begann, einen alten Schlager zu pfeifen. Da dämmerte es ihm, dass sein so lange schon gehegter, größter Wunsch endlich in Erfüllung gehen würde, gleich nach Beginn der Dämmerung.
Das Festessen mit Hansi entwickelte sich zu einem wolkenkratzerhohen Gebilde aus tabuloser Kochkunst, eingehüllt in einer geschmackvollen, undurchsichtigen Wolke des Vertrauens. Aber im Wahlkampf konnte es natürlich nicht immer so kampflos weiter gehen. Mein Wahlkampfbüro erwartete mich schon ganz unvernünftig ungeduldig. Kaum war ich da, nahm ich den Telefonhörer ab. Augenblicklich klingelte das Telefon. Ich ließ es klingeln. Ich spielte Nicht- Da- Sein. Ich überließ alles dem Anrufbeantworter. Mein Wahlspruch lautete: Keine Panik. Eigentlich schade, dass ich mich gegen sie entschieden hatte. Denn sie war sehr attraktiv. Wenn es nur nach mir gegangen wäre, gerne und immer. Aber es ging ja nicht um mich, sondern um das Wahlvolk. Ich, persönlich, würde mir bei der Wahl, wenn die Panik nicht mitmachen durfte, jedenfalls nicht meine Stimme geben. Aber das musste ja keiner wissen.
Es reichte, wenn ich wusste, und ich wusste, die Musik spielte hier und jetzt, hoch über den Gipfeln Ostfrieslands, über denen eine sengend heiße Sonne brannte. Selbst die robustesten Fernsehprogramme waren hier kaum noch zu empfangen. Jetzt konnte nur noch die Politik helfen. Ich war froh, dass ich da war. Das fiel eindeutig in meinen Zuständigkeitsbereich. Beruhigt hätte ich jetzt einschlafen können, aber das wäre natürlich völlig gegen meine Natur gegangen.
Es war früher Morgen. Ich stand auf nach schlafloser Nacht und zog die Rollläden hoch. Das Land war noch dasselbe, zumindest aber das gleiche. Mathematisch reichte mir das. Wie immer sang ich dazu das einzige Lied, das es in diesem Land gab. Es war das Lied der Arbeit. Die Arbeiter von gegenüber waren schon da. Sie standen angelehnt gegen die Mauer ihres Arbeiterhauses. Sie drehten sich Zigaretten. Sie waren sehr geübt. Es war ihnen bekannt, dass nur Üben und nichts als Üben den Meister machte. Deshalb drehten sie auch unermüdlich weiter und ruhten nicht. Ich nahm mir ein Beispiel an ihrer Unermüdlichkeit. Ich drehte die Rollläden wieder herunter und legte mich mit einer Tafel Schokolade ins Bett. Es dauerte lange und war sehr romantisch. Dafür gab es freundlichen Applaus von allen Seiten. Hocherfreut verbeugte ich mich natürlich auch nach allen Seiten. Obwohl es sehr viele Seiten waren, kriegte ich es hin wie ein alter, erfahrener Samurai, der nie etwas anderes gemacht hatte. Aber danach tat mir mein Rücken weh. Ich ignorierte ihn einfach mit meiner alles überragenden, ignoranten Toleranz. Wählerstimmen kriegte man eben nicht von allein. Man musste sich darum bemühen, auch wenn es weh tat.
Der Schmerz war also nicht dazu in der Lage, mich von meinen Bemühungen abzuhalten und zu einer spontanen Wahlkampfrundreise zu starten. Nein, es war mein Kugelschreiber, er machte wieder Probleme. Er war ein alter Dickkopf. Er weigerte sich, mit mir ins Flugzeug einzusteigen. Seine Gründe waren reine Kugelschreibergründe, die er mit seinem Kugelschreiberveto dem geplanten Lauf der Dinge wie Knüppel zwischen die Beine warf. Dagegen gab es weder legale noch illegale Mittel. Ich sagte die Reise ab. Es war gar nicht schlimm für mich und tat mir auch nicht im Rücken weh, eher das Gegenteil. Denn sie war so wichtig, das mir vor ihr grauste.
Dankbar für sein Veto öffnete ich die harte Schale seines Körpers und erblickte mit zufriedener Miene seine diamantharte Mine. Das war genau der richtige Kugelschreiber für den zukünftigen Ministerpräsidenten. Wir würden ein unschlagbares Team sein. Als ob es den alten, spontanen Plan nie gegeben hätte, schüttelte ich aus meinen Gelenken in kurzer Zeit einen neuen spontanen Plan. Ich setzte ich mich auf mein Motorrad, natürlich mit meinem Kugelschreiber, und fuhr zum Philosophentreffen von Musch. Endlich ging es wieder vorwärts. Ich gab Gas. Doch ich musste aufpassen. Tempoüberschreitungen waren strafbar und konnten im Wahlkampf tödliche Folgen haben. Das wollte ich auch dem Okapi sagen, das ebenfalls zum Philosophentreffen wollte. Aber es war zu spät. Jetzt lag es vor mir auf dem grauen Asphalt und bewegte sich nicht. Ich gab kein Gas mehr, sondern bremste, um ihm meine Socken auszuziehen. Dagegen war nichts zu sagen. Huftiere waren an den Hufen geruchlos. Meine alten Socken waren nun wieder da, aber ich empfand nur noch Entferntes für sie. Meine Liebe zu ihnen war erloschen. Wie das Schicksal es wollte, kreuzte ein Student just im Augenblick der Liebeserlöschung meinen Weg. Er kam gerade von dem von mir angepeilten Philosophentreffen. Es war von beispielhafter und historischer Kürze gewesen und schon zu Ende. Ich schenkte ihm für diese wertvolle Information die Socken. Er errötete blindlings. Ich sah, dass es wohl zu viel für ihn war und vielleicht sogar mehr als das. Früher hatten Studenten jedenfalls mehr als das aushalten können, selbst verweichlichte.