Читать книгу Trilogie der reinen Unvernunft Bd.1 - Harald Hartmann - Страница 13
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ОглавлениеObwohl ich extrem clever war, hatte ich mein Ziel jedoch noch nicht erreicht. Wahlkampf war wie ein Marathonlauf. Da brauchte man jede Menge Ressourcen. Lange suchte ich nach meinen. Dann wusste ich, dass ich arm war. Das einzige, was ich mir noch leisten konnte, war ein Ornithologe. Es war ein überraschender Schachzug knapp am Rande der Legalität. Doch wenn man keine Ressourcen hat, muss man zumindest Ideen haben. Meine Konkurrenten waren darüber nicht begeistert. Das hatte ich natürlich erwartet. Doch hier ging es um Leben und Tod. Oder sogar weniger. Ich musste gegen hart bandagierte Banditen kämpfen. Dazu gehörte auch der Einsatz von Ornithologen. Bisher waren sie noch nicht verboten.
„Nicht alles, was verboten ist, ist auch verboten“, rief mir das Wahlvolk zu.
Eine so großzügige Unterstützung ließ mich hellhörig werden. Wusste das Wahlvolk denn nicht, dass nicht alles, was erlaubt war auch erlaubt war? Vielleicht hatte dieser mir so bereitwillig zugeworfene Satz sogar etwas zu bedeuten. Ich musste jedenfalls sehr vorsichtig sein. Die Gefahr lauerte. Sie verspeiste einen immer dann, wenn man sie am wenigsten erwartete. Aber ich fürchtete mich nicht, denn ich spürte nun über mir die fachlich geschulte Hand meines Ornithologen, der mich verteidigen würde gegen alle Gefahren von oben und nach Feierabend, sogar auch gegen die von unten, so lange die Gage pünktlich bezahlt würde.
Da kam ein Protestzug von Schildern und Transparenten auf mich zu. Sie hielten Menschen in die Höhe, wehrlose Menschen. Es war eine glücklicherweise unverständliche Botschaft aus der Welt der Schilder und Transparente, doch gleichwohl überfällig wie ein Kropf. Mein Ornithologe stand neben mir und vermied erfolgreich jeden Gedanken. Er war ein schlauer Bursche. Er hatte sich extra seine schwarze Pudelmütze aufgesetzt, und obendrauf thronte eine Pudelkugel.
„ Aha“, sagte ich.
„Was gibt’s?“ fragte er.
„Wie lange schon?“ wollte ich wissen.
„Noch nicht lange“, sagte er.
„Und warum?“ fragte ich.
„Darum“, sagte er.
Ich nickte zufrieden. Gespräche mit Experten waren immer wertvoll. Ein Wunder war das aber nicht. Ich fand es schade. Gerne hätte ich mal wieder ein Wunder erlebt. Die Seltenheit von Wundern war überhaupt ein unhaltbarer Zustand. Ein richtiger Skandal. Da gab es dringenden Handlungsbedarf. Ich erhob mich aus meinem Massagesessel. Mehr Wunder für alle forderte ich in einem flammenden Appell. Das Wahlvolk bohrte unterdessen weiter gerührt in der Nase, während meine romantisierte Stimme sich ihren Weg quer durch sein Hirn bahnte, durch das eine Ohr herein und durch das andere wieder hinaus, wo es sich in der Unwegsamkeit der Hirnlosigkeit zu verirren drohte. In diesem kritischen Augenblick kam mir ein unsichtbarer Engel zu Hilfe. Doch konnte ich ihn trotzdem sehen, weil die Unsichtbarkeit seine Hässlichkeit nur notdürftig zu bedecken in der Lage war. Das machte ihn ausgesprochen menschlich. Es war erschreckend erschreckend.
„Besser du fliegst schnell wieder weg!“ warnte ich ihn.
Meine Warnung war ernst gemeint. Eines Tages würde er sich bei mir vielleicht dafür revanchieren können. Solche Leute waren wichtig, gerade im Wahlkampf. Eine Hand wusch die andere und die beiden anderen blieben in den Hosentaschen.
„Geht nicht“, sagte er. „Ich habe meine Flügel zum Schlafen ausgezogen und vergessen, sie wieder anzuziehen.“
„Du bist nicht geflogen?“, fragte ich.
„Nein“, antwortete er. „Ich studiere noch die Kunst des ungeflügelten Fluges.“
„Und wie bist du hierhin gekommen?“ fragte ich.
„Geritten. Auf dem Walross.“ sagte er.
„Schönes Tier“, sagte ich.
„Ja“, sagte er.
„Was will das Walross hier?“ fragte ich den ungeflügelten Engel.
„Es hat etwas mit einer Wahl zu tun. Mehr darf ich nicht sagen“, sagte er.
„Warum nicht?“ fragte ich ihn.
„Weil ich sein Wahlkampfleiter bin“, erklärte er.
Ich musste mich zurück halten, um nicht zu lachen. Der ungeflügelte Engel glaubte an das Walross! Von dem ging keine Gefahr für mich aus. Das Walross konnte ich leicht unter den Tisch saufen. Ich kannte es noch von der Grundschule.
Langsam klärte sich die Gemengelage. Es war nicht zu leugnen, mein Wahlkampf machte mehr und mehr Fortschritte. Gerade das aber machte mich misstrauisch. Warum musste es immer mehr sein? Hätte einer nicht auch genügt? Was steckte dahinter? Oder wer? Das waren vier Fragen auf einmal, mehr als ich vorher jemals gleichzeitig erzeugt hatte. Ein neuer Rekord der Atemlosigkeit wollte sich offensichtlich meiner auf diese Weise bemächtigen. Ich ließ mich davon nicht blenden, sondern verzichtete auf trügerische Bestmarken aller Art. Wie leicht entpuppten sie sich als gemeine Fallen! Ich konzentrierte mich lieber auf das Wesen meiner in letzter Zeit stark vermehrten Unförmigkeit.
Ich beschloss abzunehmen. Sofort. Mein untrüglicher politischer Instinkt drängte mich dazu. Natürlich war es ein Risiko. Doch gegen meine Untrüglichkeit konnte so ein großkotziges Risiko nichts ausrichten. Natürlich würde auch in diesem Fall wie immer dereinst die Geschichte urteilen. Mein Rechtsanwalt tat es schon heute. Er lud mich ein zu einem vertraulichen Eierlikör. Er nahm kein Blatt vor den Mund. Ich fand, dass seine Mundharmonika so viel besser klang. Er bedankte sich für den Hinweis in vollen Zügen. Er war ein höflicher Rechtsanwalt. Gerne hätte ich ihn weiter empfohlen, aber ich konnte mir seinen Namen nicht merken. Die Ursachen dafür lagen lange zurück. Ich vermutete mindestens in der Steinzeit. Ohne eine moderne, kostspielige Navigatorin würde ich den Weg dahin aber nicht finden. So musste ich, weil ich arm war, warten, bis die Steinzeit mich besuchte.
Ich wollte mir bis dahin nicht länger zur Last fallen. Darum schloss ich mich auf der Toilette ein. Zeitungen und Zigaretten hatte ich dabei. Es war alles sehr spannend. Ich hatte Blut geleckt. Und ich leckte weiter. Es war eine sehr ruhige und angenehme Beschäftigung. Ich mochte sie, weil es dabei keine Flecken gab. Wähler mochten keine Flecken.
Leider musste ich meine schöne Tätigkeit schon bald beenden. Vor dem Haus stand mein Friseur und hielt sich ein billiges Megaphon vor seinen Rosinenmund. Er wollte mir dringend etwas unromantisches flüstern, ganz im Vertrauen. Gerade hatte ihm ein Kunde eine brandheiße Geschichte erzählt. Es ging um Hansi, meinen Konkurrenten bei der Wahl zum Ministerpräsidenten. Wenn das stimmte, was der Friseur verkündete, hatte Hansi sich soeben selbst disqualifiziert. Die Nachbarn sahen das ebenso. Ich dankte dem Friseur. Heimlich steckte ich ihm noch ein Trinkgeld in seinen immer hungrigen Rosinenmund. Friseure liebten Trinkgelder. Einer rasierte den anderen, mit links oder rechts, das war egal. Hauptsache! Und Hauptsachen wie diese lagen haufenweise auf der Straße, immer schon, so lange es Straßen gab und nicht einmal inkognito. Man musste die Augen nur aufmachen.