Читать книгу Trilogie der reinen Unvernunft Bd.1 - Harald Hartmann - Страница 8
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Оглавление„Ich als Zahnarzt empfehle Ihnen die halbe gebratene Ente mit Blaukraut und Klößen“, sagte der Mann am Nebentisch in breiter fränkischer Mundart. Sein Gebiss schwamm in einem gut gefüllten Wasserglas. Es stand vor ihm auf dem Tisch. Selten hatte ich einen so guten Eindruck von einem Zahnarzt.
„Danke“, sagte ich. „Ich nehme die ganze.“
„Eine ausgezeichnete Wahl“, sagte er und reichte mir sein Gebiss.
Es war ein Genuss, wie es ihn nur sehr selten gab. Danach gab ich ihm sein Gebiss dankend zurück und nahm schnell, sogar sehr, sehr schnell die nächste Wahlkampfmaschine. Doch ich kam zu spät. Die Audienz beim Papst hatte schon begonnen. Die Tür war zu. Das war aber kein Problem für mich. Ich nahm einfach den Hintereingang und kam trotzdem rein. Meine Eignung zum Ministerpräsidenten stand mit dieser neuartigen Lösung ab jetzt außer Frage. Ein vorbereiteter Wahlkampfvortrag meinerseits war aber nicht möglich, weil die Audienz nicht hier sondern in der Sauna stattfand. Ich betrat die Sauna. Sie war groß wie ein Kreuzfahrtschiff. Viele saßen schon, noch mehr lagen in ihrem eigenen Schweiß, einige standen noch, noch immer, und keiner wusste, wie lange noch. Ich stand auch. Ganz oben.
„Liebe Freunde“, rief ich. „Ich sage meinen Vortrag ab“.
Da applaudierten alle begeistert. Eine gute Idee fand eben immer Freunde. Mein Ziel war erreicht. Alle hatten frei. Sogar Hitzefrei.
Befreit ging ich zu meiner geheimen Wahlkampfadresse. Kaum war ich da, bekam ich Besuch. Er kam ohne besondere Einladung. Es handelte sich um einen alten Mann. Er war schon lange tot. Er hatte viel zu erzählen. Leider konnte ich nichts davon für meine augenblicklichen Zwecke gebrauchen. Als die Kraniche nach Süden flogen verabschiedete er sich. Ich lachte erleichtert, laut und ausdauernd. Mein Mund wurde immer größer, ja sogar größer als mein Hunger je gewesen war. Ein Fotograf interessierte sich für dieses erstaunliche Phänomen mit seiner ganzen beruflichen Leidenschaft. Seine intensiven Bemühungen, ein preisgekröntes Bild zu knipsen, waren geprägt von seiner außergewöhnlichen Gelenkigkeit mit hohem Unterhaltungswert, was natürlich nirgendwo unbemerkt bleiben konnte.
Eine Gruppe Tauben kam herbei geflogen. Es waren vier. Sie wollten ihn zu seiner schönen Nummer beglückwünschen und hatten sich etwas ungewöhnlich Normales ausgedacht. Tauben waren bekanntlich normale Tiere, dafür aber ungewöhnlich treu. Sie brachten eine Flasche Champagner mit. Sie sah sehr teuer aus. Sie kam aus dem Duty-Free-Shop. Tauben kamen halt viel herum. Ihr Geschmack war international. Sie ließen den Korken knallen. Der Fotograf lud mich zu einem Gläschen ein, ich sagte nicht Nein, und wir tranken, bis die Flasche kein einziges Gläschen mehr füllen konnte. Seine Augen wurden ganz klein. Sie fielen aus ihren Halterungen und kullerten über das Gesicht. Es machte ihm nichts aus. Sie landeten auf seiner flink heraus gestreckten Zunge. Mit geübtem Zungenschwung beförderte er sie wieder in ihre Höhlen. Fotografen waren gute Leute. Sie arbeiteten präzise und schnell wie ein schweizerischer Finanzbeamter. Selbst unter Alkoholeinfluss. Zum Beweis griff er sich einen Block aus der Luft und stellte mir ein Rezept aus. Ich konnte es nicht lesen. Er hatte in Doktorschrift geschrieben. Da wusste ich, mein Weg, welcher es auch sein mochte, war noch weit.
„Willst du nach Orang Bator?“, fragte mich eine Stimme von irgendwo, die mir verdächtig bekannt vorkam.
Es war nicht die Stimme des Fotografen. Er war verschwunden und schon unterwegs zu einem anderen Auftrag, wie ich aus allen nicht vorhandenen Anzeichen vermutete.
„Eigentlich wollte ich nach nirgendwohin, dahin, wo noch keiner war“, sagte ich.
„Das kann doch nur die Zukunft sein“, antwortete die Stimme.
„Natürlich“, sagte ich.
„Dahin kann ich dich auch bringen, wenn du nichts Besseres vorhast“, sagte die Stimme, „aber nur wenn du mich heiratest.“
„Gerne“, sagte ich, „ich bin zwar schon verheiratet, aber ich mach's trotzdem.“
Da erschien das Auto meines verstorbenen Schwiegervaters. Ich hatte es mit meiner uneingeschränkten Heiratsbereitschaft aus seiner Tiefgarage befreit. Die Stimme gehörte ihm. Ich hatte es mir fast gedacht. Es war einsam ohne meinen Schwiegervater und hatte wohl von meiner Ehe mit meinem Auto gehört. Da hatte es seine große Chance gewittert und recht behalten. Heiraten konnte man gar nicht oft genug. Das war meine neueste Meinung. Heiraten war für das Glück so etwas wie Schuhe für Häuptlingsfüße.
Die Hochzeitsnacht war dunkel, da ging der Mond auf. Ich konnte es nicht verhindern. Ich befürchtete schon, er würde sich zu einem gefährlichen Honeymoon der vierten Kategorie entwickeln, da sah ich den Mann-im-Mond. Viele glaubten nicht an ihn. Ich habe nie zu diesen gehört. Er winkte mir zu. Ich winkte zurück. Dann winkte er mir wieder. Und ich winkte wieder zurück. Keiner von uns hatte gerade etwas Besseres zu tun. Das Auto meines Schwiegervaters war schon gleich zu Beginn der Hochzeitsnacht eingeschlafen, und der Mann-im-Mond hatte keinen Schwiegervater, der ihm ein Auto hätte hinterlassen können. Dann konnte man sich ebenso gut auch zuwinken. Nach vier durchwunkenen Ewigkeiten hörte er auf zu winken. Er rief laut:
„Willst du nicht zu mir herauf kommen?“
„Sehr gerne“, rief ich zurück.
Er reichte mir seine Hand und half mir hoch.
„Wie geht’s?“ fragte ich.
„Gut“, sagte er, „du kannst mich ruhig MIM nennen. Hätte ich Freunde, würde ich ihnen vorschlagen, mich so zu nennen“.
Keiner hatte mir gesagt, dass der MIM ein so umgänglicher Bursche war. Er hatte auf mich immer so distanziert gewirkt.
„Was machst du so, MIM?“ fragte ich, korrekt wie es meine Art war.
„In letzter Zeit habe ich viel gewinkt“, sagte er. „Und du?“
„Ich auch“, antwortete ich.
„Du musst durstig sein nach den vier Ewigkeiten“, sagte er. „Willst du ein Bier?“
„Gute Idee,“ sagte ich.
Er gab mir eine Flasche Bier und nahm sich selbst drei. Wahrscheinlich war er mondsüchtig und konnte nicht anders. Wir tranken. Ein Bier auf dem Mond tat gut.
„Was machst du sonst so?“ fragte ich ihn.
„Ich lasse meinen Bart wachsen und betrachte genau meine Träume,“ sagte der MIM. „Und was ist mit dir?“
„Ich bin im Wahlkampf. Ich will wieder Ministerpräsident werden“, sagte ich.
„Wann wird gewählt?“ wollte er wissen.
„Das ist unbekannt“, sagte ich. „Hauptsache die Einschaltquote stimmt.“
„Wenn sie nicht stimmt, kannst du ja bei mir wohnen“, sagte der MIM und half mir wieder nach unten in das Land der schweren Schritte.
„Viel Glück!“ rief er mir noch zu, bevor der Mond mit ihm unterging.
Fanfaren setzten ein, sobald ich hier unten wieder die ersten schweren Schritte in den Wahlkampf tat. Es wurde sehr laut. Von überall her kamen Fanfarenbläser, bliesen in ihre Fanfaren und blähten dabei ihre Backen zu ansehnlichen Halbkugeln auf, die mich an Frösche in eindeutiger Absicht erinnerten. Es gab tatsächlich etwas Schönes zu anzukündigen. Das Abendessen war fertig. Und ich empfand ein großes Gefühl für dieses fremde Land, das sich mit der Ankündigung eines simplen Abendmahls so viel Mühe gab. Es war ein Gefühl, wie es vielleicht nur ein Fettauge auf einer kräftigen Rindfleischsuppe haben konnte.
Doch ich war ja seit den kürzlichen Ereignissen auf dem Gebiet des Hungers nicht mehr hungrig und wendete mich neugierig den mächtigen, breitschultrigen Bäumen zu, die da plötzlich hinter mir standen wie aus dem Boden gewachsen. Ich blickte sie an, diese schicken, dicken Kerle. Ich sah es sofort. Sie waren Vegetarier, ja ich glaube sogar Veganer reinsten Wassers. Trotzdem machten sie einen friedlichen Eindruck. Aber im Wahlkampf konnte man nie wissen, da sicherte man sich besser mit sicheren Nummern ab. Ich musste ihnen auf den Zahn fühlen. Die Kettensäge war dafür genau das richtige Werkzeug. Bevor sie merkten, was ich vorhatte, waren sie auch schon abgesägt. Es krachte gehörig im Gebälk, als sie umfielen. Dazu setzte sanfte Begleitmusik ein, gespielt von den Musikanten der unverhältnismäßigen Kollateralschäden.
Jetzt begann der schwerste Teil meiner Arbeit. Mit eigenen Augen suchte ich die Bäume nach Zähnen ab, auch nach den versteckten Implantaten, um auf ihnen mit dem Zeigefinger das Unbekannte zu erfühlen. Ich konnte aber keinen einzigen finden. Die Bäume waren zahnlos glücklich, und nur ein Zahnarzt hätte ermessen können, was dieses Glück bedeutete. Ich hatte nun die Gewissheit, tatsächlich unangefochtener Besitzer meiner eigenen, unergründlichen Unwissenheit zu sein, und die abgesägten Bäume hatten so die Welt des Wahlkampfs, eine Welt, in der selbst kleine Fehler niemals verziehen werden, einmal hautnah erleben dürfen. Und alles natürlich gratis. So hatten wir alle was davon. Es war eine äußerst gelungene PR-Aktion gewesen. Diese Bäume würden bei der Wahl sicherlich geschlossen hinter mir liegen. So geht Wahlkampf!