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Um acht Uhr ist es noch ruhig im Viertel.

Ein Transporter hält in der zweiten Reihe vor einem türkischen Markt, ein Mann in einem weißen Kittel und einer Frisur, die an die Haartracht des Liverpooler Stürmers Mo Salah erinnert, springt aus dem Fahrerhaus, läuft um den Wagen, öffnet die Flügeltüren hinten, holt ein rötlich-metallisch schimmerndes, enthäutetes Lamm heraus und trägt das Tier in den mit Waren überladenen Laden.

Eine schwarze Mercedes-Limousine nähert sich, blinkt, quetscht sich mühsam an dem Transporter vorbei. Der Fahrer, ein übergewichtiger Schlipsträger, macht eine wütende Geste Richtung Hindernis.

Der Mercedes beschleunigt kurz, blinkt dann links, biegt in die Toreinfahrt eines prächtigen, aber jetzt langsam verfallenden großen Gebäudes ein. Die Tore sind über und über mit Graffiti besprüht. Über der Einfahrt hängt ein Schild »Hotel Kölner Hof, bitte rechten Nebeneingang benutzen«.

Der Wagen hält jetzt in dem heruntergekommenen Hinterhof. Es ist still hier, die belebte Straße draußen scheint weit entfernt. Unmittelbar neben dem dunklen Mercedes türmen sich Bauschutt, gebogene Kupferrohre, Fliesenreste aller Art. Die Gebäude, die den Hinterhof umschließen, wirken verlassen. Fast alle Scheiben sind zerschlagen, die Fensterrahmen herausgerissen. Nur über dem Eingang des bewohnten Querflügels hängt ein windschiefes Schild »Hotel Kölner Hof«.

Der Mann, der leicht hinkend den Wagen verlässt, fällt auf in dieser Umgebung. Der korpulente Endvierziger trägt schwarze Budapester Schuhe, eine untadelig gebügelte schwarze Hose, ein leuchtend weißes Hemd, geschmückt mit einer roten Krawatte, darüber einen dunkelgrünen Janker mit silbernen Knöpfen.

Er achtet bei jedem Schritt peinlich genau darauf, seine Garderobe möglichst staubfrei zu halten. Durch eine Tür zu einem der Seitenflügel erreicht er ein Treppenhaus, in dem man unter all dem Schutt und Staub die Pracht vergangener Zeiten noch immer erahnen kann.

Die Tür, vor der er stoppt, passt überhaupt nicht zu diesem heruntergekommenen Haus, eine sauber blitzende Tür aus schwerem Eichenholz, darauf ein poliertes goldenes Schild: STEINHOFF PROPERTIES.

Er öffnet die Tür, und fast im gleichen Moment erscheint eine grauhaarige, sehr schlanke und äußerst gepflegt wirkende Dame Ende vierzig. »Guten Morgen, Dr. Steinhoff, Ihre Post liegt bereit, alles ruhig so weit, nur die Herren der CCB-Fondsgesellschaft erwarten Ihren Rückruf.«

»Danke, Marianne, ich werde gleich zurückrufen. Könnte ich einen Cappuccino kriegen?«

»Sofort, Chef.«

Dr. Steinhoff betritt einen modern und nüchtern möblierten Raum, der durch seine Größe und den voluminösen Glasschreibtisch an der Stirnseite besticht. Nachdem er den Raum betreten hat, ist sein Hinken kaum noch zu bemerken. An der Wand hinter dem Schreibtisch hängt ein teuer gerahmtes großformatiges Schwarzweißfoto des Gebäudes, aufgenommen Ende der zwanziger Jahre. Ein imposantes Haus in all seiner Pracht, mit einigen wunderschönen alten Cabriolets im Vordergrund. Daneben, ebenfalls gerahmt und unter Glas, Baupläne und Bilder einer monoton wirkenden modernen Ferienhaussiedlung auf der Kanareninsel Fuerteventura.

Carl Steinhoff war am Bau der Siedlung beteiligt gewesen und hatte endlich einmal ein gutes Geschäft gemacht, eher die Ausnahme bei ihm. Dem Schreibtisch gegenüber sind eine Sitzgruppe in schwarzem Leder und ein Couchtisch aus Metall und Glas platziert. An der Wand rechts vom Schreibtisch glänzt ein gläserner Barschrank mit schweren Metallfurnieren.

Kaum hat er Platz genommen, steht ein frischer Cappuccino vor ihm. Die Sekretärin schiebt ihm zuvorkommend den Zucker zu, dann verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Dr. Steinhoff weiß genau, was jetzt kommt, er hört es jeden Tag.

»Chef, müssen wir eigentlich noch lange in diesem schrecklichen Haus bleiben? Ich hasse es hier, wir sind eine kleine zivilisierte Insel in einem Meer der Verwüstung. Ich weiß nicht, wie man in so einer Ruine erfolgreich Geschäfte machen will.«

Steinhoff lächelt gequält. »Sie haben es immer noch nicht kapiert. Der einzige verbliebene Geschäftszweck unserer Firma ist der Verkauf dieses Gebäudes. Und jeder mögliche Käufer wird hier außer der Fassade keinen Stein auf dem anderen lassen. Je schlimmer es hier im Treppenhaus und im Innenhof aussieht, desto leichter bekommen die Käufer eine Genehmigung zum kompletten Umbau, und das ist das Einzige, was Investoren interessiert. Oder glauben Sie etwa, ich will an Denkmalschützer verkaufen? Wann kapieren Sie das endlich?«

Beleidigt verlässt die Sekretärin den Raum. Carl Steinhoff ist froh, dass er allein ist.

Er sucht nervös in seiner Hosentasche, kramt einen Jeton des Wiesbadener Spielkasinos hervor, spielt mit dem Plastikchip, dreht ihn, flippt ihn hoch, fängt ihn wieder. Ihn erwartet ein unangenehmes Telefonat.

Als er sich vor einem guten Jahr entschloss, auf die Avancen der CCB einzugehen, hatte er Informationen über die Fondsgesellschaft eingeholt. Alles seriös, lautete die Auskunft, ein konservativ geführter, sehr großer Fonds, weltweit aufgestellt. Jetzt aber haben die Frankfurter Vertreter der CCB begonnen, ihr wahres Gesicht zu zeigen und die Phase der Höflichkeiten hinter sich zu lassen. Sie treten zunehmend fordernder auf, immer häufiger erinnern sie an gewisse, leider nicht unerhebliche Zahlungen, die er entgegengenommen hat. Geld war schon immer seine Achillesferse, seine Ausgaben übersteigen bei Weitem seine Einnahmen. Steinhoffs Leidenschaft für Spielcasinos ist daran nicht ganz unschuldig.

Er hat keinerlei Lust, jetzt mit den Herren zu sprechen, aber wenn er nicht zurückruft, werden sie ihn den ganzen Tag lang verfolgen. Steinhoff seufzt, wischt sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Dann greift er zum Hörer. »Marianne, bitte verbinden Sie mich mit der CCB.«

Es dauert keine zwei Minuten, dann hört er eine fast jungenhaft klingende Stimme mit leicht amerikanischem Akzent, die ihn übertrieben freundlich begrüßt. »Hallo, Doktor Steinhoff, schon so früh am Schreibtisch? Wir hatten eigentlich gestern mit Ihrem Anruf gerechnet. Sie sind halt ein gefragter Mann. Wir müssen uns sehen. Ja, heute noch, am besten so gegen 16 Uhr, nein, nicht im Office, wie üblich im Hotel. Sie finden uns in Suite 116. Und, lassen Sie uns nicht warten!«

Mit einem angeekelten Gesichtsausdruck legt Steinhoff auf, wischt sich erneut mit dem Taschentuch über den Kopf, steht auf, jetzt hinkt er wieder, geht zu dem Glasschrank, öffnet die rechte Tür und bewundert seine gut bestückte Hausbar. Ein beruhigender Anblick.

Er gießt sich einen kleinen Armagnac ein, lässt den Schwenker kurz kreisen, kehrt dann zu seinem Schreibtisch zurück.

»Marianne, geben Sie mir bitte Benno Stiller.«

Etwa um dieselbe Zeit wacht Mitch auf und hat das untrügliche Gefühl, dass der letzte Cocktail einer zu viel war. Eine Ibuprofen 600 und ein doppelter Espresso helfen in der Regel schnell. Er kennt diese morgendliche Stimmung nur zu gut. Halb hängt er noch den Traumfetzen der Nacht nach, halb wartet schon die Traurigkeit des kommenden Tages. Traurigkeit trifft es nicht, es ist eher Sehnsucht, nur hat Mitch bei allem Grübeln noch nicht herausgefunden, wonach er sich sehnt. Er nennt es den Blues, ein Gefühl, das sein Leben dominiert. Er ist mittlerweile Ende vierzig, hat schon mehr als die Hälfte seiner Zeit auf dieser Erde gelebt, und doch fühlt sich manchmal alles an wie ein müdes Vorspiel – und so, als würde das Eigentliche noch irgendwo auf ihn warten.

Mitch kneift die Augen zusammen und peilt seinen Wecker an. Kurz nach 10 Uhr, er muss los, er ist um elf mit seinem neuen Kollegen verabredet.

Nach einer ausgiebigen kalten Dusche startet er in den Tag. Wieder ist das Bahnhofsviertel sein Ziel, er ist mit Enis in einem Café auf der Münchener Straße verabredet. Mitch nimmt die U-Bahn, da unten in Bahnhofsnähe gibt es fast nie einen Parkplatz. Eine Story zu schreiben, die in der eigenen Stadt spielt, ist neu für ihn, macht Mitch ein wenig nervös.

Im Frankfurter Bahnhofsviertel waren schon immer die Probleme des Landes wie unter einem Brennglas sehr früh erkennbar. Obwohl es als Rotlichtviertel viel kleiner und weniger glamourös ist als St. Pauli. Aber was zum Teufel ist eigentlich glamourös an einem Rotlichtviertel?

Im Frankfurter Bahnhofsviertel wurde nicht nur seit ewigen Zeiten heftig gegen Cash gevögelt und mit Drogen aller Art gedealt, hier wurde auch schon früh mit deutscher Asylpolitik Geld gemacht. In den siebziger Jahren sorgte ein neuer Club namens Sauna 2000 für Furore. Der Laden gehörte einem Newcomer im Viertel. Der hatte ein einfaches, aber geniales Konzept entwickelt. Von der Straße aus betraten zahlungskräftige Messegäste eine Bar, in der sie durch eine Glaswand an der Rückseite des Raums in eine Badelandschaft blicken konnten, in der einige gut aussehende Damen einladend plantschten. Nach ein paar Drinks wollten einige der Gäste nicht mehr nur zuschauen. Der Weg zu den Damen führte durch den Hinterhof. Die Bar war ein reiner Durchlauferhitzer, das Konzept lockte vor allem gut betuchte Herren an, die ein einfaches Laufhaus nie betreten hätten. Als den Bossen im Viertel der Erfolg des neuen Ladens zu groß wurde, hatten auch sie eine originelle Idee. Sie intervenierten beim Hausbesitzer, der sich kurz darauf gegenüber der Stadt bereit erklärte, einige Dutzend afrikanische Asylbewerber in seinem Haus einzuquartieren.

Ein Schachzug, der auf das Herz des Konzepts der Sauna 2000 zielte: Ein beschwingter Messegast hat sich Mut angetrunken, will die Damen nicht länger nur anschauen, will zugreifen. Aber auf dem Weg zum Saunaeingang im Hinterhof steht vor ihm plötzlich eine größere Gruppe Schwarzer, die auf dem Hof herumsteht. Die meisten Herren aus der Provinz machen auf dem Absatz kehrt und gönnen sich lieber einen Porno im sicheren Hotelbett.

Mitch hat die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Sauna 2000 schmunzelnd verfolgt. Zu dem Zeitpunkt waren fast alle Hotels im Viertel mit Asylbewerbern belegt, manche vom Keller bis zur letzten Dachkammer.

Mitch schüttelt sich. »Mann, wenn heute einer auf die Idee kommen würde, Asylbewerber in Hotels einzuquartieren, was für eine Vorlage wäre das für die AfD.«

Einige Kilometer vom Bahnhofsviertel entfernt schlägt in Frankfurt-Höchst die Glocke des Kirchturms der katholischen Gemeinde Sankt Josef 12 Uhr.

Aus einem vorbeifahrenden tiefergelegten 5er BMW mit abgedunkelten Scheiben donnert brutal laute türkische Rapmusik.

Ein junger Mann mit schwarzem Vollbart schaut missbilligend dem Wagen nach. Er trägt über seinem weißen Kaftan eine dunkle Kapuzenjacke, eine schwarze Gebetsmütze und rote Sneakers. Der junge Mann überquert die Straße, schaut etwas irritiert in die Auslage eines Ladens, der rumänische Spezialitäten anbietet. Der Anblick von fetten Würsten und Schnapsflaschen ist nichts für ihn. Ihm kommt ein Rentner entgegen, der mühsam eine größere Topfpflanze in einer Plastiktüte schleppt. Der Mann im blütenweißen Kaftan weicht dem Rentner aus, stößt dabei fast gegen eine übergewichtige Osteuropäerin, deren voluminöse Oberschenkel in eine enge Stretchhose mit Leopardenmuster gepresst sind. Dann fällt der Blick des jungen Mannes auf das Schaufenster des Reisebüros Manatours. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, ein knallbuntes Plakat mit einem Bild der Kaaba fordert die Gläubigen auf, ihre Reise zur Hadsch nach Mekka jetzt und hier zu buchen. Der Mann wendet sich Richtung Bahnhof Höchst. Er biegt nach rechts ab auf den Parkplatz eines großen Asia-Supermarktes. Er läuft durch eine überdachte Einfahrt, in der jede Menge Holzpaletten gespeichert sind. Durch das gelbliche Plexiglasoberlicht fällt fahles Licht. Eine Taube flattert laut gurrend auf, der Mann stoppt eine kurze Sekunde, läuft dann weiter, bis er vor Hinterhofgaragen und einer schmalen Tür steht.

Er klopft, die Tür öffnet sich, er huscht in einen halbdunklen, schmucklosen, mit Teppichen ausgelegten Raum.

Er wird von fünf jungen, ebenfalls bärtigen Männern mit allen Zeichen des Respekts begrüßt.

»Ahlan wa sahlan, Ibrahim, sei gegrüßt im Namen Gottes.«

Mitch macht sich auf den Weg, er ist mit Enis in einem Café in der Münchener Straße verabredet. Auf der Kaiserstraße spricht ihn ein hochgewachsener weißhaariger Schwarzer in perfektem Deutsch an, bittet im Namen Gottes um einen Euro. Mitch ist verblüfft, das Auftreten und die gepflegte Sprache des Mannes erstaunen ihn. Er wühlt in seiner Hosentasche, findet keine Münzen, sieht die Enttäuschung in den Augen seines Gegenübers und drückt ihm kurz entschlossen, ganz gegen seine Gewohnheiten, einen Fünf-Euro-Schein in die Hand. Vor Überraschung fällt der Mann in seine Muttersprache und wünscht Mitch im weichen Englisch der Karibik ein langes glückliches Leben, auch für alle seine Kinder. »Schade, dass ich keine habe«, flüstert Mitch.

Gut gelaunt kommt er vor dem Café an und wird von Enis begrüßt, der es sich in einem kleinen Korbsessel auf dem Bürgersteig bequem gemacht hat. Er lacht, als Mitch ihm von der Sauna 2000 erzählt.

»So Stories gab es viele in den wilden Zeiten. Als die großen Bordelle oder Laufhäuser aufmachten, gaben die Betreiber die strikte Parole aus: Keine Zuhälter in den Häusern. Dann drängten schwarze Frauen auf den Markt, die bei den Kunden schnell hoch im Kurs standen. Nur kamen mit ihnen schwarze Zuhälter, die meistens auch die Dealer der fast immer drogenabhängigen Frauen waren. Und die scherte es einen Scheiß, dass die Häuser für sie gesperrt waren. Plötzlich bemerkten die Bosse, dass sie ihre Befehle nicht durchsetzen konnten. Ihnen fehlten schlicht genügend Soldaten auf der Straße. Also wurden Zuhälter aus Hamburg und Berlin eingeflogen. Dann begann im Bahnhofsviertel die große Jagd auf alles, was schwarz war. Dummerweise waren die deutschen Zuhälter zu blöde, um zwischen afrikanischen Zuhältern und schwarzen GIs zu unterscheiden. Die US-Jungs aber waren damals eine sehr kaufkräftige Klientel. Als die Umsätze in den Bordellen merklich zurückgingen, wurde die Aktion abgebrochen.«

Beide lachen, nippen an ihren Tassen. Mitch wird plötzlich nachdenklich: »Ja, es gibt hier eine Menge starker Geschichten. Mich fasziniert die Story der Beker-Brüder, die lange Zeit als die heimlichen Chefs des Viertels galten. Dass nur gut drei Jahrzehnte nach dem Holocaust sich zwei Juden in einem deutschen Rotlichtviertel durchsetzen konnten, aus dem Stoff würde man in Hollywood einen Blockbuster machen. Aber für unsere Story sind das natürlich alte Kamellen, unsere Geschichte spielt heute und muss danach fragen: Ist das hier wirklich ein friedliches Multikulti-Biotop, oder laufen unter der bunten Decke ganz andere Sachen ab? Wir dürfen auf keinen Fall eine Friede-Freude-Eierkuchen-Story abliefern. Wir müssen auch die bösen Jungs beschreiben, die Konflikte zwischen den alten Bewohnern und den neu Angekommenen. Und dann sehen, wie der Einmarsch des Geldes alles verändert.«

Die beiden vertiefen sich jetzt in ihre Unterlagen, da wird es mit einem Mal laut. Mitch und Enis sehen, wie ein älterer, leicht angetrunken wirkender Mann auf der anderen Straßenseite eine Frau mit Kopftuch anschreit, ihr plötzlich das Tuch vom Kopf reißt und es mit höhnischem Gelächter über seinem Kopf schwenkt. Zwei arabisch aussehende junge Männer, die die Szene beobachtet haben, packen den Mann, entreißen ihm das Kopftuch. Eine rechte Gerade trifft die Nase des Alten, der blutend zu Boden geht. Die beiden jungen Männer reichen der Frau ihr Tuch, schimpfen noch einen Moment auf den Angreifer am Boden ein und gehen dann weiter.

Der ältere Mann erhebt sich stöhnend, wischt sich mit dem Ärmel das Blut von der Nase, dann überquert er leicht schwankend die Straße, kommt auf Mitch und Enis zu.

Mitch steht auf, reicht ihm ein Tempotaschentuch. »Mann, warum machst du auch die Frau an, was soll der Schwachsinn?«

Der Alte blickt Mitch an, zuckt die Schultern, nuschelt: »Geht dich nen Scheiß an, ich kann die Kopftuchweiber nicht ab.« Dann dreht er sich abrupt um, schlurft die Münchener Straße hoch.

»Den Kerl kenn ich«, murmelt Enis, »heißt Erwin, ein ziemlich fertiger Typ. Schleicht hier seit Jahren rum, macht Botengänge, hauptsächlich für den alten Steinhoff vom Kölner Hof. Da passt er gut hin.«

Mitch schaut Enis fragend an.

»Na, der Steinhoff war mal ne große Nummer hier, dem gehört das Hotel Kölner Hof. Das war früher dreimal so groß, aber ihm gehört immer noch die gesamte, sehr große Immobilie. Er ist ein alter Nazi, in seinem Büro hängt angeblich ein Hitlerbild. Früher hat er zu seinen Geburtstagen legendäre Feten geschmissen. In der Zeit der Bekers hat er wohl ein paar Mal aufs Maul gekriegt. Heute ist er scheintot, früher aber war immerhin Benno Stiller sein Mann fürs Grobe.«

»Und wer bitte ist Benno Stiller?«

Enis blinzelt Mitch an. »Du hast doch gerade gesagt, dass du die bösen Jungs kennenlernen willst. Dann wirst du früher oder später auf Benno Stiller treffen. Nur so viel, der war mal Bulle, eine richtig große Nummer sogar. Er soll für einen Beamten eine viel zu dicke Brieftasche gehabt haben. Er durfte in allen Bordellen frei vögeln, nur irgendwann eröffnete die Innenrevision ein Verfahren gegen ihn. Danach quittierte er ziemlich schnell den Dienst. Man ließ ihn gehen, die Ermittlungen wurden eingestellt, der Mann wusste einfach zu viel über zu viele. Du wirst ihn kennenlernen.«

»Kann es kaum erwarten«, murmelt Mitch.

Der Mann mit der blutenden Nase, sein voller Name lautet Erwin Fredeking, bleibt vor einem sehr großen Block stehen, dessen Eingangstore geschlossen sind. Erwin läuft an der mit Graffiti übersäten Hauswand entlang, bis er einen Nebeneingang erreicht hat, über dem ein Schild auf das Hotel Kölner Hof hinweist. Erwin stoppt jetzt, kramt nach einem Tempotaschentuch und säubert sich notdürftig das Gesicht.

Dann verschwindet er in dem Eingang, läuft an einer leicht vergammelten Rezeption vorbei, der man ansieht, dass sie schon bessere Tage gesehen hat. Er steht jetzt im ehemaligen Dienstbotentreppenhaus des Blocks. Erwin nimmt einen Seitengang, geht an einem PRIVAT-Schild vorbei, folgt dem Gang, passiert schwere altdeutsche Möbel, klopft an einer Tür, die einmal schön und wertvoll gewesen sein muss.

Die Tür öffnet sich, eine Wolke aus kaltem Rauch strömt ins Treppenhaus, Erwin betritt die Wohnung. Der Alte befindet sich, wie fast immer, wenn Erwin ihn besucht, in seinem Wohnzimmer. Ein mehr als merkwürdiger Raum, eine Mischung aus deutschem Rittersaal mit einem orientalisch anmutenden Diwan in hinteren Teil des Raums. Erwin läuft an einem überdimensionierten altdeutschen Esstisch aus dunkler schwerer Eiche vorbei, um den sechs schwere Stühle mit hohen Lehnen stehen.

Hier riecht es nicht nur nach kaltem Rauch, sondern auch nach altem Mann.

Hermann Steinhoff liegt auf dem mit Teppichen und Decken bedeckten Diwan, auf einem flachen Tisch daneben steht ein übervoller Aschenbecher und ein leerer Cognacschwenker. Zu Steinhoffs Füßen hat sich sein alter Schäferhund ausgebreitet, ein Riesenvieh, das auf den schönen Namen Bübchen hört. Heute wirkt er handzahm, aber Erwin kann sich noch gut an die Tage erinnern, als Hermann Steinhoff immer wieder wegen diverser Attacken seines Hundes auf Dunkelhäutige von der Polizei einbestellt wurde. »Kann ich doch nichts dafür, dass der Hund bestimmte Ausländer nicht leiden kann, ist halt ein deutscher Schäferhund und kein Pudel.«

Der Alte greift in die Gesäßtasche, fingert nach seinem Geldbeutel, flucht, da er nur noch einen Zehn-Euro-Schein findet. »Verdammt, Erwin, drüben auf dem Schreibtisch steht eine Kassette mit Geld drin. Nimm dir einen Fünfziger und hol mir eine Flasche Courvoisier. Kannst den Rest behalten.«

Erwin nickt, geht in das Arbeitszimmer, findet tatsächlich die Kassette auf dem Schreibtisch. Er fischt sich einen Fünfziger heraus, alles unter den neugierigen Blicken eines Regiments von Tonsoldaten aus dem Regal gegenüber.

Erwin verlässt jetzt die Wohnung, wendet sich im ersten Hinterhof in die andere Richtung, steht nun vor einer schmucklosen zweistöckigen Lagerhalle, die wie eingeklemmt zwischen dem Hotelflügel und dem leer stehenden prächtigen Gründerzeithauptgebäude steckt. Erst auf den zweiten Blick erkennt man an Schildern in arabischer Schrift, dass es sich bei der Halle um eine Moschee handelt. Die Hinterhofmoschee wirkt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Sie erinnert an die Jahre, als Muslime in Deutschland noch eine seltene Spezies waren. Die Halle stand lange leer, dann hat der alte Steinhoff sie vor gut zehn Jahren an einen paschtunischen Moscheeverein vermietet. Dafür wurde der Alte von seinem Sohn, aber auch von den meisten seiner Bekannten heftig kritisiert.

Erwin schimpft vor sich hin, als er zwei Frauen mit Kopftuch aus dem Gebäude kommen sieht. Er wird nie begreifen, warum der Alte ausgerechnet an Muslime vermietet. »Er gibt den großen Deutschen, erzählt mit Inbrunst, wie er seinen Hund auf bettelnde Zigeuner gehetzt hat, aber er vermietet an gottverdammte Muslime!«

Mitch und Enis schlendern durch das Viertel. Enis ist gut bekannt hier, er begrüßt da einen Gemüsehändler, plaudert dort mit einem Kebabverkäufer, klatscht sich mit einem Friseur ab, dessen Haarschnitt seinem ziemlich ähnlich sieht. »Ist das der Mann, der dir zu deinem Kunstwerk verholfen hat?«, frotzelt Mitch.

Enis schüttelt den Kopf, biegt in die Elbestraße ein und zeigt auf einen prächtigen, offenbar leer stehenden Block von gut achtzig Meter Länge. »Das Ding hier gehört dem alten Steinhoff, über den wir gerade gesprochen haben. Steht alles leer, vergammelt, ist Millionen wert. Dazu gehört noch ein Hinterhaus, genauso groß, das ist mit Quergängen mit dem Vorderhaus verbunden. Das ganze Areal hat mehrere Hinterhöfe, in einem steht sogar eine kleine Moschee. Vom letzten Hinterhof aus kommst du bis rüber zur Kaiserstraße. Hier vorne in dem Seitenflügel betreibt der Alte noch sein Hotel, den Kölner Hof, wohl mehr als Hobby.«

»Wieso lässt er den Riesenkasten leer stehen, ist doch reine Verschwendung?«

»Keine Ahnung, angeblich gibt es Krach in der Familie, sein Sohn, hab ich mal gehört, will den ganzen Laden verkaufen, der Alte wehrt sich dagegen. Er ist verrückt. Kennst du die Geschichte des Kölner Hofs?«

Mitch schüttelt den Kopf. »Nein.«

»Es gab früher einen Kölner Hof ganz nah am Bahnhof. Das war ein Riesenschuppen, der 1892 eröffnet wurde und damals damit warb, das einzig judenfreie Hotel in Frankfurt zu sein. Der Besitzer war ein glühender Antisemit, dem es gelang, sein Hotel stetig zu vergrößern. Natürlich trat er schon weit vor der Machtergreifung in Hitlers Club ein und saß als Stadtverordneter im Römer. Hermann Laass hieß der Typ. Anscheinend hält sich der alte Steinhoff für seine Reinkarnation, heißen ja auch beide Hermann.«

»Was für eine miese Geschichte, deswegen der Name Kölner Hof. Musst du erst mal drauf kommen, ich dachte, der Mann ist aus Köln. Oder Karnevalfan oder so was. Hermann, kein schlechter Name für ihn. Der Namenspatron aller Hermanns, der fette Göring, war Fixer. Passt doch ins Viertel.«

»Echt, der Göring war Fixer?«

Mitch schüttelt sich, spuckt auf den Boden, blickt dann rüber zu Enis. »Ja, war er. Hat halt immer cleanes Zeug gehabt, dann hältst du das jahrelang durch. Da sind wir wieder bei dem Großvater im Einkaufswagen. Wie gesagt, den wirst du nicht los in unserem schönen Deutschland.«

Lass Gott aus dem Spiel

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