Читать книгу Lass Gott aus dem Spiel - Harald Lüders - Страница 9
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ОглавлениеMitch starrt einen Moment ungläubig auf das Display seines Handys, dann knallt er es fluchend auf den Tisch.
»Was zum Teufel bildet sich dieser Schnösel ein? Legt einfach auf, der Idiot. Verdammt, ich habe schon als Journalist gearbeitet, als der noch in Istanbul in den Kindergarten ging. Was für eine Schnapsidee, zwei Autoren auf eine Story zu setzen, das klappt vielleicht mit einem guten Freund, aber nicht mit zwei völlig Fremden.«
Mitch weiß ganz genau, dass der Mann, über den er flucht, nicht in Istanbul in den Kindergarten gegangen ist, sondern wahrscheinlich in Bornheim oder in Offenbach. Aber er ist sauer, und wer sauer ist, darf auch ungerecht sein, meint er.
Endlich hat er wieder einen Job, seit gestern, um genau zu sein, aber sein Auftraggeber, der Redaktionsleiter eines großen deutschen Magazins, besteht darauf, ihm einen Partner zur Seite zu stellen: einen gut zwanzig Jahre jüngeren Mann namens Enis, einen begabten jungen Journalisten mit türkischen Wurzeln.
»Diese Feiglinge. Weil in der Story zwangsläufig eine Menge Türken vorkommen, buchen sie gleich einen türkischen Schreiber dazu. Das nennt man neudeutsch Political Correctness, so macht man sich unangreifbar.«
Die Vorsichtsmaßnahme der Redaktion schmälert sein Honorar und trifft sein Ego. Trotzdem wird Mitch den Auftrag annehmen, seine Kontoauszüge sprechen eine deutliche Sprache. Es ist weiß Gott nicht leicht, sich als freier Journalist durchs Leben zu schlagen.
Mitch springt auf, läuft auf seine Terrasse und wartet, dass der Blick auf die Frankfurter Skyline bei Sonnenuntergang ihn beruhigt.
Fehlanzeige.
Also muss ein guter Schluck Rioja Reserva helfen.
Klappt schon besser.
Wer auch immer am Himmel Regie führt, er gibt alles, um Mitch Berger zu beruhigen. Ein wunderschöner Sonnenuntergang wird heute Abend geboten, einer von denen, die nicht mit violetten Tönen geizen. Wenn selbst ein solcher Sonnenuntergang nicht reicht, um seinen Blutdruck zu senken, dann hat Mitch ein Problem.
Und er weiß auch, was für eins.
Es geht nicht um den Job.
Sein Leben erscheint ihm zunehmend als Endlosschleife. Alles wiederholt sich, immer wieder von vorne.
Okay, er hatte vor Kurzem Erfolg gehabt. Er hatte international Schlagzeilen gemacht, weil es ihm unter hohem persönlichem Einsatz gelungen war, ein übles Psycho-Sanatorium zu schließen und auf den Datenmissbrauch eines großen Internetkonzerns aufmerksam zu machen.
TV-Auftritte in wichtigen Nachrichtensendungen folgten, sogar eine Live-Schalte für CNN, an dem Tag, als der amerikanische Ableger des Sanatoriums aufflog.
Mitch Berger auf allen Kanälen.
Er hat so ein Hoch nicht zum ersten Mal erlebt, er kennt den Rhythmus inzwischen, denn plötzlich ist die Story durch – und in Mitchs Leben waren die Scheinwerfer ausgegangen.
Claire hatte ihn verlassen. Claire, deren Leben er riskiert und deren Leben er gerettet hatte.
Claire, die Stil hatte – und sich mit einem Brief von ihm verabschiedete.
Und gegen diesen Brief hilft kein noch so schöner Sonnenuntergang.
Claire schrieb, sie müsse endlich verstehen, was mit ihr los sei. »Und neben dir, Mitch«, schrieb sie, »neben dir werde ich mich nie finden, weil du leider ein unglaubliches Talent besitzt, jedem Date mit dir selbst auszuweichen.«
»Was für ein blöder Spruch«, murmelt Mitch, »warum können wir beide nicht ganz einfach zusammenbleiben und glücklich sein?«
»Weil du es gar nicht willst, weil du in jedem Moment an die Vergänglichkeit denkst, weil du dich im Sonnenschein schon nach dem Mondlicht sehnst, weil du so bist, wie du bist«, antwortet die Claire in seinem Kopf.
Er hatte den Brief wieder und wieder gelesen, hatte ihn um die Zeilen ergänzt, die Claire aus Feingefühl weggelassen hatte.
»Weil du fast zwanzig Jahre älter bist als ich, weil ich nicht in dein Leben einziehen will, weil ich mein eigenes suchen muss, weil du deinen Blues mehr liebst als dich selbst, weil du dich in deinem Unglücklichsein eingerichtet hast, weil du mich damit runterziehst.«
Das hatte Claire zwar nicht geschrieben, aber sie hatte es gemeint. Und sie hatte verdammt recht.
Mitch schüttelt den Kopf, er hat jetzt keinen Bock mehr, weiter zu grübeln.
Der neue Job ist einfach und doch anspruchsvoll.
Mitch hat diesmal ein Heimspiel gewonnen. Das Magazin will einen großen Artikel über das Frankfurter Bahnhofsviertel, über das Quartier, das gerade einen Riesenhype erfährt, in dem die Preise für Immobilien explodieren, was Investoren aus aller Welt anzieht. Die paar Straßen zwischen Hauptbahnhof und Städtischen Bühnen, zwischen Mainzer Landstraße und dem Main standen bis vor Kurzem für ein runtergekommenes Rotlichtmilieu, für eine krasse Junkieszene, aber auch für ein weitgehend friedliches Multikultimit- oder besser -nebeneinander. Dann aber kamen junge Hipster, Studenten, Künstler, die das Viertel aufmischten. Clubs und Bars eröffneten neben Moscheen und türkischen Gemüsemärkten. Neue Lokale siedelten sich an, hatten Erfolg. An warmen Abenden entwickelte sich die Münchener Straße, eine der drei parallelen großen Achsen des Viertels, zur Partymeile.
Mitch geht zu seinem Schreibtisch, auf dem Hochglanzprospekte von Immobilienfonds liegen, die ihm der Redaktionsleiter gestern in die Hand gedrückt hat.
»Ihr Job, lieber Herr Berger«, hatte der Magazinmann ausgeführt, »ist ganz einfach. Zunächst will ich wissen, wie das Leben jetzt funktioniert, also wie kommen die Leute miteinander klar, die türkischen Händler mit den neuen Hipstern, die Moscheebesucher mit den Junkies, die Nutten mit den paar Uraltbewohnern, die es auch noch gibt. Hat sich durch die Flüchtlinge etwas verändert? Und dann erzählen Sie unseren Lesern, was passiert, wenn über so einem Viertel ein paar hundert Millionen Immobilien-Euro abgeworfen werden.«
Ein gutes Bild, muss Mitch zugeben.
Und die Prospekte vor ihm zeigen, dass es ein stimmiges Bild ist. Internationale Immobilienfonds sammeln Gelder ein, russisches, chinesisches, arabisches Geld, dazu ein wenig Drogengeld aus Kolumbien und Mexiko, und alles verwandelt sich in strahlend schöne Eigentumswohnungen im Frankfurter Bahnhofsviertel, alle Konten sind sauber, alles ist ganz legal. Ob die Käufer jemals dort einziehen, ob sie vorhaben, die Wohnungen zu vermieten, oder sie als Kapitalanlage auf unbestimmte Zeit leer stehen lassen, wird von niemandem kontrolliert.
Das neue Geld wird alles Gewachsene vernichten, aber in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das Rotlichtmilieu wird schrumpfen, sich jedoch halten, solange die Bordelle Geld machen und sich das Sexgeschäft nicht völlig ins Internet verlagert. Hart treffen wird es die Mieter hier und vor allem die vielen kleinen Läden, die heute das Viertel prägen, türkische Fischgeschäfte, indische Gewürzläden, marokkanische Teestuben. Nicht zu vergessen die letzten übrig gebliebenen Eckkneipen, in denen samstags die Spiele der Eintracht laufen und deren Siege mit einer Lokalrunde nach der anderen gefeiert werden. Wild Gewachsenes wird langfristig eintönigen Esstempeln, coolen Bars und hippen Champagnerschwemmen weichen.
Für die türkischen Händler ist sein neuer Partner Enis zuständig, man wird sich streiten müssen, wer die Inder bekommt. Mitch weiß jetzt schon, wie die Redaktion den Streit entscheiden wird – alles, wo Muslim draufsteht, gehört Enis. Einfache Logik: Tritt man einem Muslim auf die Füße, macht das besser ein anderer Muslim.
So lösen das deutsche Redaktionen.
Mitch kennt Enis nur vom Hörensagen und jetzt gerade von dem Anruf.
»Scheint ein harter Knochen zu sein«, denkt Mitch, »der Typ bestellt mich einfach um 21:00 in eine Bar, von der ich noch nie gehört habe, und erklärt mir noch dreimal, wie die Tür aussieht, als hätte ich je Schwierigkeiten gehabt, den Eingang zu einer Bar zu finden. Und legt dann einfach auf, ohne abzuwarten, ob mir der Platz passt. Arroganter Typ.«
Da bei ihm noch nie etwas gegen das Kennenlernen einer neuen Bar gesprochen hat, verzichtet Mitch darauf, auf Eskalation zu schalten und die Zusammenarbeit mit einem Hahnenkampf zu beginnen. Er macht sich rechtzeitig auf den Weg ins Bahnhofsviertel, das er von früher her gut kennt. Nur die letzten Veränderungen hat er verpasst.
Die Hauptachse des Viertels, die Kaiserstraße, ist schon in der neuen Zeit angekommen. Schicke Esslokale dominieren, die Tische sind voll mit Touristen aus aller Herren Länder. Einzig ein Dolly-Buster-Sexshop zeigt üppig, womit hier früher Geld gemacht wurde.
Mitch biegt in die Elbestraße ein, wundert sich, dass viele zum Teil prächtige Häuser vernagelt sind. Und das legendäre »Pik-Dame« ist in einer Baugrube verschwunden. Zwei Kräne ragen in die Höhe. Da, wo Enis die Tür der Bar beschrieben hat, kauern gut dreißig Junkies auf der Straße.
Einige stehen nur mühsam, schwanken. Mitch beobachtet einen jungen Mann, der sich nach einem heruntergefallenen Crackstein bückt. Seine Bewegung ist unnatürlich verlangsamt. Er braucht fast eine Minute, bis seine Finger das Straßenpflaster erreichen.
Erstarrte, gezeichnete Gesichter mit nach innen gedrehten Augen. Zwei Gestalten kauern in einem Hauseingang, der eine hält ein Feuerzeug an eine kurze Crackpfeife. Zwei Meter weiter wird auf einem Kochlöffel eine braune Flüssigkeit erhitzt, die Soße dann in eine Einwegspritze gezogen und in eine freie Vene am Unterschenkel gejagt. Inmitten der Elendsgruppe fällt Mitch eine blonde Frau auf, der man ansieht, dass sie einmal in ganz anderen, eindeutig besseren Kreisen verkehrte. Sie hält sich gerade, und über ihr von Drogen zerstörtes Gesicht huscht eben ein leicht ironisches, fast stolzes Lächeln.
Mitch spürt plötzlich ein tiefes Verlangen nach einer Zigarette, obwohl er schon seit Jahren clean ist. Verdammt, man müsste alle hier einpacken, zu einer Therapiestation fahren, ihnen eine Chance geben.
Dann schüttelt er den Kopf. Wahrscheinlich hatten sie alle schon dreimal ihre letzte Chance.
Die Tür ist schwarz gestrichen, ziemlich schmal. Daneben ein unauffälliger goldener Klingelknopf. Mitch drückt, wartet, und nach einigen Minuten öffnet sich die Tür und ein freundlich lächelnder Mann bittet ihn herein.
Es ist düster, alles in dunklen Farben gehalten, eine kleine Sitzgruppe, im Hintergrund leuchtet geheimnisvoll eine verdammt gut ausgestattete Bar.
Mitch betrachtet die Flaschen, grinst anerkennend.
»Du musst Mitch Berger sein, willkommen im Kinly, ich bin Enis Citoglu.«
Vor Mitch steht ein gut aussehender Mann Ende zwanzig, mit einem intelligenten, offenen Gesicht, dunklen Augen und einer Frisur, die Mitch sonst nur von Fußballern kennt.
»Hi Enis, Kompliment, spannende Location hier. Und starke Frisur, ich dachte, Undercut sei out?«
»Aber nicht doch, höchstens für Leute mit schwachem Haarwuchs. Bei dir würde es ziemlich albern aussehen.«
Mitch grinst. »Alles klar. Und schlagfertig bist du auch noch. Ist doch was.«
Die beiden grinsen sich an, der Anfang hat geklappt. Mitch bestellt einen Sidecar auf Whisky-Basis mit einigen Hundert anderen Zutaten.
Er schlürft genüsslich, dann blickt er Enis an. »Die Location passt zur Story, oben Crack, unten serious drinking. Gefällt mir. Eine Sache aber muss geklärt sein, bevor wir hier zusammen trinken. Hast du dich in den Auftrag gedrängt oder haben die Hamburger dich reingedrückt?«
Der Konter kommt sofort. »Die Redaktion weiß, dass ich mich im Bahnhofsviertel auskenne, bei dir waren sie sich wohl nicht so sicher. Sie wollen aber wohl eine Edelfeder, die mein schlechtes Deutsch aufbrezelt.«
Dann erzählt Enis, dass er schon öfter für das Magazin gearbeitet hat, dass aber nach der Affäre um einen fälschenden Reporter neuerdings gerne mit zwei Autoren gearbeitet werde. »Wir sollen wohl gegenseitig drauf achten, dass hier keinem die Fantasie durchgeht.«
Mitch grummelt. »Okay, passt, das kann gut sein.«
Er nippt wieder an seinem Drink. »Von wo aus der Türkei kommst du eigentlich?«
Enis stöhnt. »Nicht dein Ernst jetzt, ich komme aus Bornheim, habe mein Leben lang hier gelebt, frag bitte nicht so ne dumme Scheiße.«
»Hey, komm runter, dann halt: Woher kommt dein Großvater? Bist du Kurde oder Türke, oder was?«
»Warum interessiert dich das? Ich frage dich auch nicht, ob du evangelisch oder katholisch bist oder ob du Annalena Baerbock schärfer findest als Saskia Esken?«
Mitch schüttelt sich. »Mann, hör auf, weder noch, zweimal weder noch. Ihr regt euch immer so fürchterlich schnell auf. Wie beim Fußball. Mann, wenn wir tausend Fahnen mit ins Stadion schleppen, dann kommt ihr mit zwanzigtausend und alles tobt, Türkiye, Türkiye, als wolltet ihr gleich irgendwo einmarschieren. Und wenn ihr gerade mal wieder irgendwo einmarschiert seid, dann muss jeder Torschütze beim Jubeln strammstehen und salutieren.«
»Mitch, mach langsam und fang nicht mit Fußball an. Wo wäre denn die deutsche Nationalmannschaft ohne Gündogan oder Emre Can? Und wenn die Deutschen schon mal einen begnadeten Mittelfeldspieler haben, dann wird der fast gelyncht, nur weil er nicht Einigkeit und Recht und Freiheit schmettert.«
»Und weiter, trifft mich nicht. Ich habe immer zu Özil gehalten. War ein guter Spieler. Löw brauchte nach der beschissenen WM halt einen Sündenbock. Aber warum, verdammt noch mal, stellt sich Özil auch mit Erdogan aufs Foto und macht den Typ später noch zu seinem Trauzeugen?«
»Aus Respekt vor seinen Eltern vielleicht und weil er all den Leuten einen Finger zeigen wollte, die ihn im Stadion auspfeifen. Mitch, ja, es stimmt, viele Türken sind ein wenig hysterisch, wenn es um Erdogan und die alte Heimat der Eltern geht. Aber mach mich nicht an wegen Erdogan, meine Freunde sitzen in der Türkei im Knast, nicht deine. Und noch was, ich sage dir, es ist verdammt schwer, sich in dieses Deutschland einzuleben. Weißt du, warum? Weil viele Deutsche zu sich selbst und ihrem Land ein total verklemmtes Verhältnis haben. Manchmal denke ich, die Deutschen ersticken an ihrer Geschichte. Entweder sind sie total stolz darauf, dass ihr Großvater in Stalingrad den Heldentod für den Führer gestorben ist, oder aber sie haben Probleme mit Deutschland, eben weil der Großvater ein verdammter Nazi war. Die ganze 68er-Generation ist doch so drauf. Nur, was habe ich mit dem verdammten Opa zu tun?«
Mitch blickt Enis nachdenklich an, nickt. »Stimmt, Enis, stimmt ziemlich genau. Ich kenne den Opa gut, von dem du da erzählst, bei älteren Freunden war es auch der Vater. Aber, sorry, als du den deutschen Pass angeklickt hast, da war der Opa mit im Warenkorb. Sorry, keine Retoure möglich, den wirst du nicht mehr los. Willkommen in Deutschland, einem Land mit Geschichte.«
Mitch schweigt einen Moment, winkt dann dem Barkeeper. »Noch mal dasselbe, die Runde geht auf mich.« Dann dreht er sich zu Enis. »Okay, wir machen die Story. Cheers! Lass uns morgen anfangen zu arbeiten, jetzt trinken wir einen.«